Leipzig und seine Jubiläen - es vergeht kaum noch ein Jahr, in dem nicht ein großes rundes Ereignis mit überregionaler Ausstrahlung gefeiert wird. 2013 waren es Wagner-Geburtstag und Völkerschlacht-Erinnerung. Und davor, 2012, dominierte der Reigen um 800 Jahre Thomana den Festkalender. Ein wenig war das auch schon ein Vorgriff auf 2015, wenn 1.000 Jahre Ersterwähnung und 850 Jahre Stadtrecht gefeiert werden.

In einer eigenen Vortragsreihe hat die Kirchgemeinde St. Thomas sich 2012 mit der 800-jährigen Geschichte der Kirche etwas intensiver beschäftigt. Zu zehn Einzelkapiteln hatte man kompetente Leipziger Historiker, Kirchen- und Musikwissenschaftler eingeladen, die vor interessiertem Publikum versuchten, einzelne Kapitel aus 800 Jahren St. Thomas zu beleuchten. Von jener zumindest aktenkundlichen Stiftung des Klosters St. Thomas im Jahr 1212 bis in das von Diktaturen geprägte 20. Jahrhundert.

Einiges davon wird man logischerweise auch in den kommenden Büchern zur Leipziger Stadtgeschichte wiederfinden, denn St. Thomas war seit seiner Gründung eben nicht nur Kloster- und Stadtkirche, sondern tief in der Stadtgeschichte verankert. Auch wenn gerade der Historiker Enno Bünz in seinem Einstiegsvortrag zum Augustiner-Chorherrenstift fast freudvoll darauf eingeht, dass eigentlich keine der vier Institutionen, die 2012 ihren 800. Geburtstag feierten, tatsächlich 1212 gegründet wurde.Bei der Thomasschule ist durchaus möglich, dass sie erst eine Weile nach der Klostergründung entstand, ebenso beim Lazarett St. Georg. Und eine Urkunde des Markgrafen Dietrich, der das Kloster stiftete, aus dem Jahr 1213 deutet sogar darauf hin, dass die Klostergründung sogar schon vor 1212 begonnen wurde. Was auf jeden Fall – archäologisch nachweisbar – noch viel älter ist, ist die Kirche selbst, die schon im 12. Jahrhundert existierte. Bünz geht aber auch auf die ganz spezielle Art der Gründung des Augustiner-Stifts ein, ihre soziale Funktion nicht nur für die Insassen, sondern auch für die Entwicklung der seinerzeit jungen Stadtkultur. Ein Punkt, der 2012 kaum öffentlich diskutiert wurde: Wie eng die Gründung von St. Thomas mit der Landespolitik des Markgrafen zusammen hing und wie wichtig die Gründung für die Stärkung einer für die Markgrafschaft wichtigen Stadt war.

“Glauben – singen – lernen”, war der Leitspruch für das Feierjahr 2012. Und der Dreiklang beschreibt tatsächlich die alte dreifache Funktion, die St. Thomas für die mittelalterliche Stadt Leipzig ausübte. Die Thomasschule war drei Jahrhunderte lang die einzige städtische Schule. Und sie bildete auf hohem Niveau aus – bot den Bürgersöhnen eine Ausbildung, die ihnen auch Studium und Karriere eröffnete. Was sich 1409, als die Universität Leipzig im Refektorium des Thomasklosters gegründet wurde, noch einmal enger vernetzte. St. Thomas war aber eben auch für das erste “städtische” Lazarett zuständig. Leipzig bekam damit – für das 13. Jahrhundert ein echter Fortschritt – sein erstes Krankenhaus. Aber auch für die Seelsorge der Leipziger war St. Thomas zuständig, der Propst hatte die Oberaufsicht über die Leipziger Kirchen.

Dass die Musik und der Knabenchor einmal die weltweit ausstrahlende Rolle bekommen würden, hat nur in Teilen mit der Existenz des Knabenchores und seiner Funktion in den Gottesdiensten zu tun, auch nicht mit der Existenz der Thomaskirche mit ihrem – klösterlich organisierten – Alumnat. Es waren die Thomaskantoren, die dafür sorgten, dass dieser Knabenchor und seine Ausbildung auf höchstes Niveau getrieben wurden. Angefangen mit Seth Calvisius, der “die bemerkenswerte Reihe der Thomaskantoren” eröffnet, wie Christoph Wolff in seinem Beitrag schreibt. Leute wie Calvisius machten aus der untergeordneten Stelle des Thomaskantors eine Funktion, die sie auch für hochkarätige Musiker und Komponisten wie Schein, Schütz und Bach attraktiv machte.

Was freilich auch einem Genie wie Bach nicht ersparte, schon kurz nach Amtsantritt in Querelen verstrickt zu werden, die mit seinem Wunsch, große Musik zu machen, nichts zu tun hatten. Die Fehden, die er mit dem Leipziger Rat auszustehen hatte, hatten eher mit dem Versuch der Ratsherren zu tun, die Thomasschule zu einer modernen Bürgerschule zu machen. Dass sie damit die Qualität des Chores gefährdeten, konnte Bach ihnen auch nicht in seiner heute so berühmten Denkschrift zu einer wohlbestallten Kirchenmusik klar machen. Das Schriftstück wanderte augenscheinlich ungelesen zu den Akten.

Dass sich der Rat dann im Lauf der Jahrzehnte doch durchrang, den Elitechor zu akzeptieren und zu fördern, hat erst den Ruhm der heutigen Tage ermöglicht.Aber nicht nur um die Schule und ihre Ausgestaltung gab es heiße Diskussionen. Auch die Kirche selbst war immer wieder Mittelpunkt von heftigen religiösen Auseinandersetzungen – von der Reformationszeit über die späteren Calvinistenunruhen bis hin zur Nazi-Zeit, als ein Teil der deutschen Pfarrer sich den braunen Machthabern andiente. Eine Auseinandersetzung, die auch die Pfarrerschaft an der Thomaskirche nicht ausließ. Georg Wilhelm ging in seinem Vortrag auf den schwierigen Weg der Kirche in den Diktaturen ein. Ein Weg, der in der DDR-Zeit nicht leichter wurde und neue Risse und Verwerfungen auch in der Thomas-Gemeinde hervorbrachte. Denn während an St. Nikolai die Friedensgebete schon zunehmend für Aufmerksamkeit sorgten, war mancher an St. Thomas bemüht, die Diskussion aus der Kirche herauszuhalten.

Kurz kommt auch die durchaus bewegte Zeit nach 1989 ins Bild. Etwas zu kurz kommt die spannende Baugeschichte von Kloster und Kirche. Im Grunde wird nur der neogotische Umbau des späten 19. Jahrhunderts ein wenig näher beleuchtet, eine Zeit, in der die Stadt geradezu explodierte und die beiden alten Stadtkirchen aus allen Fugen zu geraten drohten. In seinem Beitrag dazu geht Thomas Töpfer auch auf die beginnende Säkularisierung der Leipziger Stadtgesellschaft im 19. Jahrhundert ein, die sich nach dem Ende des Kaiserreichs 1918 deutlich beschleunigte.

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800 Jahre St. Thomas zu Leipzig
Doreen Zerbe, Evangelische Verlagsanstalt 2014, 14,80 Euro

Was für den jüngst aus dem Amt geschiedenen Thomaspfarrer Christian Wolff natürlich Fragen aufwarf, die er ab den 1990er Jahren sehr beherzt anging. Welche Rolle spielt Kirche überhaupt noch in der modernen Gesellschaft? Oder kann man nur noch zuschauen, wie die Kirchenmitglieder davonlaufen? Oder muss sich Kirche völlig neu erfinden und neue Angebote schaffen?

In diesem Band sind die zehn Vorträge aus dem Jahr 2012 – teilweise extra für den Druck noch einmal überarbeitet – gesammelt. Eine lebendige und vor allem facettenreiche Reise in 800 Jahre St. Thomas. Aber eben auch in 800 Jahre Leipziger Stadtgeschichte, die ohne das Kapitel St. Thomas wirklich nicht vollständig wäre.

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