Ratten gab es in der alten Mühlenstadt Hameln an der Weser schon immer. Dass Ratten in der wichtigsten Stadtlegende die Hauptrolle spielen, lag also irgendwie in der Luft. Aber wie kamen die Kinder hinein? Darüber rätseln die Forscher noch immer. Es scheint also was Wahres dran zu sein an den alten Geschichten.

Selbst das Jahr des Kinderauszugs lässt sich benennen: 1284. Und das Tor, aus dem der legendäre Rattenfänger mit den Kindern einst die Stadt verließ, können die Hamelner auch noch zeigen. Zumindest den Ort, an dem es mal stand, als Hameln noch eine uneinnehmbare Festung war: das Ostertor am Ausgang der Osterstraße. Oster kommt von Osten. Die Kinder verschwanden also in Richtung – naja – Neue Bundesländer.

Und wer’s noch genauer wissen will, der bleibt gleich auf der Osterstraße und besucht das Leisthaus. Nicht zu verfehlen: Davor steht ganz unerschütterlich ein junges Mädchen und schaut interessiert auf den Eingang des Hauses. “Die Neugierige” heißt die von Bernhard Kleinhans geschaffene Skulptur. Und der Betrachter kann durchaus rätseln: Hat sie die Pfeife des Rattenfängers gehört und will jetzt wissen, was da los ist? Oder will sie in das 1912 eröffnete Stadtmuseum im Leisthaus, wo die Hamelner alles zeigen, was es zur Geschichte ihrer Stadt und der Rattenfängersage zu zeigen gibt?An den Ratten und dem Rattenfänger kommt man sowieso nicht vorbei. Zwei Rattenfängerbrunnen plätschern in der Stadt, diverse Rattenskulpturen überraschen an den beschaulichsten Orten. Es gibt einen Rattenkrug und ein Rattenfängerhaus mit Restaurant unten drin. Erbaut übrigens im Stil der Weser-Renaissance, für die man wohl im Weserland aufgewachsen sein muss, um ihre Schönheiten zu verstehen. Das mit der Utlucht (aus dem Niederdeutschen) hat man dann beim zehnten oder zwanzigsten Gebäude verstanden, das eine hat: Es ist ein zumeist zweistöckiger Vorbau an einem Teil der Giebelfront – gern mit üppig verschörkeltem Giebel. So eine Art auf die Straße hinausgestellter Zierschrein. Vielleicht auch ein kleines Warnzeichen für Touristen, die aus einer der neckischen Seitengassen kommen und eben noch glaubten, in einem typischen niedersächsischen Fachwerkstädtchen gelandet zu sein.

Wie kann man nur. Immerhin war Hameln ja mal Hansestadt und eine echte uneinnehmbare Festung, bis Napoleon befahl, diesen ganzen Festungsklimbim zu schleifen. Sowas mochte er nicht. Darüber hätten die Hamelner fast vergessen, dass die Stadt mal aus einem Tochterkloster der Reichsabtei Fulda hervorging. Daran erinnert heute das – gerade noch so gerettete – Münster St. Bonifatius, auch wenn der Heilige Bonifatius erst später übernommen wurde. Der eigene Heilige – Romanus von Caesarea – liegt zwar im Original in der Gruft. Aber er hat es einfach nicht geschafft, berühmt genug zu werden. Pech für die Hamelner: Sie wissen zwar, dass es wohl im 9. Jahrhundert mal irgendwie ein Dorf mit Namen Hamela oder so an dieser Stelle gegeben haben musste und das Kloster seit 851 bestand. Aber urkundlich erwähnt wurde Hameln erst 1167.

Und da dachte man, die geschichtsbewussten Bürger hätten Schlange gestanden in den Kanzleien: “Schreib das mal auf, Bruder Konrad. Das Örtchen heißt Hameln! Gegründet 810.” – “Hammel?” – “Hameln! Wie Rattenfänger, du weißt schon …” – Und dann hat’s Bruder Konrad doch erst in der Spalte für 1167 aufgeschrieben.

Was macht man da? – Man feiert dann doch lieber die diversen Jubiläen des Kinderauszugs von 1284. Und zwar jede Woche. Sonntags. Dann schlüpfen 80 Hamelner in Kostüme und spielen auf der Terrasse am Hochzeitshaus die Geschichte vom Rattenfänger. Was sie seit 1929 tun – kriegsbedingt unterbrochen nur von 1939 bis 1951. Und weil Hameln eine moderne Stadt ist, gibt es mittwochs an gleicher Stelle die Musical-Variante: “RATS”.Das Hochzeitshaus haben sich die Hamelner von 1610 bis 1617 übrigens extra gebaut, um einen Ort zu haben, an dem sie mal so richtig feiern können. Aber wie das so ist: Sie übertrieben es. Und 1721 untersagte der gestrenge Rat der Stadt den Bürgern weitere Feiern in dem Haus.

Nicht mehr besichtigen kann man das Hamelner Loch. Bis 1734 stürzten bei Hameln die Wasser der Weser in einer Stromschnelle zwei Meter in die Tiefe. Da mussten die Schiffe entladen werden und die ganze Fracht stromauf und stromab gebuckelt und umgeladen werden. Zeit genug für die Zöllner, bei den schwitzenden Schiffern den Weserzoll zu kassieren. Bis 1734. Da wurde an dieser Stelle eine Schleuse gebaut.

Wen sollte man in Hameln unbedingt nicht übersehen? – Die Frauen natürlich. Das Glückel von Hameln zum Beispiel, die erste Autorin einer Autobiografie in deutschen Landen (und in jiddischer Sprache). Und Elsa Buchwitz. Eine alte 68erin. In besonderem Sinn: Die von ihr mitbegründete “Vereinigung Hamelner Bürger zur Erhaltung ihrer Altstadt” verhinderte erfolgreich den Flächenabriss der Hamelner Altstadt. Was den Hamelnern ersparte, eine genauso triste Neubau-Innenstadt zu bekommen wie andere niedersächsische Städte. Auch die Geschichte kennen ja die Leipziger in ihrer Variante, dieses Gejammer der Politiker: Kein Geld! Zu enge Straßen! Nicht genug Parkplätze! Die armen Händler! Nicht zukunftsfähig! Viel zu teuer im Erhalt! – Und der ganze Babel.

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Hameln an einem Tag
Kristina Kogel, Lehmstedt Verlag 2014, 4,95 Euro

Es braucht immer erst eine Elsa Buchwitz, die den vor lauter Alternativlosigkeit Verstummten klar macht, dass eine Stadt noch so unpraktisch sein kann – wenn man nicht um sie kämpft, wird sie von den grauen Männern mit den dicken Geldkoffern in eine Betonwüste verwandelt, die kein Gesicht und keinen Charakter mehr hat.

Hameln ist eindeutig eine Charakterstadt. Nichts für Schreckhafte. Aber was für Liebhaber guter alter Geschichten. Und Ausflüge in die Umgegend lohnen sich. Nach Bodenwerder zum Beispiel, wo die Münchhausens zu Hause sind. 28 lohnenswerte Stationen beschreibt Kristina Kogel auf ihrem Ein-Tages-Rundgang durch Hameln. Ausklappkarte und kleine Chronik machen das handliche Heft wieder komplett.

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