Am 7. Mai hat er Geburtstag. Da wird Volker Braun 75. Was man sich nicht vorstellen kann. Nicht wirklich. Aber irgendwie reihen sich auch die stets jungen Geister ein in den Reigen der Zeit, sind eben noch die jungen Querköpfe, die die Zensoren einer verknöcherten Republik in Panik versetzen, verblüffen die Leser mit präzisen Blicken in eine noch unfassbare Zukunft - und auf einmal, hört man, dass sie schon die Party zum 75. vorbereiten. Irgendetwas ist mit der Zeit nicht in Ordnung.

Volker Braun hätte das anders gesagt und hat es auch immer wieder gern anders gesagt. In immer neuen Wendungen, Volten und Montagen. Von Anfang an gehörte er zu den Lyrikern im Osten, die die Sache mit dem dialektischen Denken ernst nahmen, wissenschaftlich ernst. Nicht umsonst hat er in Leipzig Philosophie studiert, in jener Stadt und jener Atmosphäre, in der ein Ernst Bloch noch nachwirkte. Bloch und sein “Prinzip Hoffnung” spuken bis heute durch Brauns Texte. Seine Denk-Haltung sowieso. Bis in die Titel seiner Gedichtbände, die heute längst legendär sind – von “Es genügt nicht die einfache Wahrheit” über das “Training des aufrechten Ganges” bis zur “Übergangsgesellschaft”, wo Braun endgültig die Sache auf den Punkt brachte und den “Siegern der Geschichte” den Spiegel vorhielt: Jede Gesellschaft ist nur ein Übergang. Wer das Ende der Geschichte verkündet, zerstört die Utopie.

Das gilt für jede Gesellschaft, egal, was für ein Etikett man darauf schreibt: bürgerlich, sozialistisch, marktwirtschaftlich … – So wurde Braun beinah, aber nur beinah zum Staatsfeind. Denn die Leute in der Hauptverwaltung Literatur, der Zensurbehörde der DDR, konnten ja lesen. Und was sie lasen, war die Kritik des alleinseligmachenden Sozialismus mit den in Schulen und Universitäten gelehrten Werkzeug der Dialektik. Das gute Parteisoldaten nur lieber nicht anwendeten, denn das schadete der Karriere. Bloch hat es virtuos angewendet, ein paar andere der alten Emigranten, die man in den 1950er Jahren aus dem Land ekelte, ebenso.

Deswegen waren die Mauerbauer Anfang der 1960er Jahre so verblüfft, dass sich eine ganze junge Schriftsteller- und Lyrikergeneration zu Wort meldete, die das kritische Denken wieder zur Tugend erklärte und ein Nachdenken einforderte über das Erreichte. Und dieser scheinbar so verkopfte Braun löste mit ein paar Anderen auch noch so etwas wie eine Lyrikbewegung aus, ein bisschen anders als die zeitgleiche Lyrikbewegung in der Sowjetunion. Aber ganz ähnlich in der Grundhaltung: zu Wort kommen zu dürfen, wenn über das eigene Leben, das eigene Land und die eigene Zukunft entschieden wird.
Manchmal vergisst man das, weil andere Leute ab 1990 die Deutungshoheit über die hingeschiedene DDR übernommen haben und alles in ihre plumpen Raster pressen. Da wird amputiert, was nicht passt. Kritisches Denken, kluge Analyse, hochkarätige Kritik? – Gab es doch alles nicht in der DDR, oder?

Gab es wohl. Auch wenn die Hälfte davon nur in Westverlagen erscheinen durfte. So war das auch bei Braun. Viele seiner Bücher erlebten die lange, zermürbende Tour durch die Genehmigungsverfahren der HV Literatur.

Doch dieses Buch, das die beiden Literaturwissenschaftler Michael Opitz und Erdmut Wizisla hier vorlegen, ist keine Biografie. Auch keine Analyse “Braun und die DDR”. Das kommt vielleicht noch irgendwann, wenn es noch kommen muss. Denn Vieles steht ja schon in den beiden dicken Wälzern mit Brauns Arbeits-Notaten: “Werktage”.

Das hier aber ist ein Geburtstagsbuch. Ein richtiges, wie es selten geworden ist in der deutschen Bücherlandschaft. Wann tun sich schon einmal Kollegen und Geistesverwandte zu so einem Projekt zusammen? – Natürlich braucht es zwei, die es einrühren und anfangen, Einladungsbriefe in alle Welt zu verschicken, was Michael Opitz und Erdmut Wizisla hier getan haben. Sie mischen sich nicht einmal ein, verzichten auch auf ein Vorwort oder ein Nachwort, in dem sie begründen könnten, warum ihnen dieses Projekt am Herzen lag. Sie haben es einfach gemacht.

Und was an Texten und Bildern hereinkam, haben sie einfach in vier Kapitel gepackt, ohne dass sichtbar wird, warum sie die Texte so gemischt haben und nicht anders. Nur das fünfte Kapitel fällt aus dem Rahmen: Hier haben sie ausführliche Texte von Literaturwissenschaftlern und Kritikern zu Volker Braun und wesentlichen Teilen seines Werke versammelt. Hier verstecken sich auch eigene Arbeiten von Opitz und Wizisla. Wer Volker Braun und seine Texte noch nicht kennt, kann ja hier hinten anfangen zu lesen. Er bekommt dann zumindest ein Raster, wo er diesen Philosophen und Analytiker unter den heutigen deutschen Dichtern einordnen kann.

Die anderen vier Kapitel sind echte Geburtstagsgeschenke. Hier erzählen vor allem Autoren aus dem Osten, wie sie Volker Braun und seinen Texten begegnet sind, wie sie darüber stolperten und überrascht wurden. Oder ermutigt. Viele nutzen gleich selbst die Versform, um auf ihre Weise zu zeigen, wie Brauns Arbeit ihr eigenes Dichten und Denken angeregt hat. Auch Kollegen und Kolleginnen aus dem Westen kommen zu Wort und machen deutlich, wie sehr das Werk dieses Lyrikers weit über den kleinen Osten hinaus wirkte. Immerhin waren ja etliche der schönsten Stücke bis 1989 nur im Westen erhältlich, bei Suhrkamp zum Beispiel, in dessen hochkarätiges Profil dieser Bursche aus (Ost-)Berlin nahtlos passte. Er stand für den intellektuellen Dialog, den die Suhrkamp-Bibliothek damals noch exzessiv pflegte. Und der auch im Osten eine Zeit lang sein durfte – in “Sinn und Form” zum Beispiel, dieser kleinen Spielwiese des experimentellen Denkens, das ansonsten im Land mehr als unerwünscht war.

Weil es verstörte. Darüber berichten etliche Texte, die auf die ersten Begegnungen mit den Braunschen Text-Konstrukten eingehen, die immer wieder auf eine reiche literarische Vor-Bildung insistieren. Büchner und Hebel und Brecht und Grimmelshausen. Das war das Mindeste, was ein Braun von seinen Lesern erwartete. Wer nicht belesen ist und auch von Kant und Hegel und diesem komischen Marx nie gehört hat, von Bloch und Weiss nicht, der ist seitenweise aufgeschmissen bei Braun. Oder er nimmt die Zitate, die nicht immer sperrig im Text stehen, für das, was sie auch sind: Spiegel unserer Selbstreflexion.

Was etwas anderes ist als Selbstbetrachtung, die bei so vielen Lyrikern gern zur Nabelschau wird. Wer das Reflektieren über die Welt und die Dinge, wie sie passieren, nicht einstellt, wird zwangsläufig zum Kritiker. Und sagt Dinge, die unerhört sind. Oder schreibt Geschichten wie den “Hinze-und-Kunze-Roman”, der so sehr an ein Gemeinschaftswerk von Brecht und Calvino erinnert und im Nachhinein wieder so einfach und sinnfällig wirkt. Es wirkte bei der Erstveröffentlichung wie eine Persiflage auf diesen seltsamen Staat – und im Nachhinein ist es eine fast poetische Zustandsbeschreibung, die einen ganz und gar als ewig propagierten Zustand als fast zwangsläufiges Rollenspiel beschreibt. Und als neues Herrschaftskonstrukt. In der verkündeten Ewigkeit steckt zwangsläufig der Wandel.

Wer Braun gelesen hat, war von der Unruhe, die ab 1980 über das Land kam, nicht überrascht. Nur selbst weiter beunruhigt. Denn bei Braun war auch zu lesen, wohin das führen würde und welche Folgen das zwangsläufig haben würde. Es klingt wie ein Postulat, wenn Braun immer wieder betont, dass Gegenwart nur von der Zukunft her zu denken ist. Und Zukunft nur von der Gegenwart. Wer das Gegenwärtige analysiert, spürt zwangsläufig, was darin steckt als Möglichkeit und als Konsequenz. Das ist Bloch und ein bisschen Marx. Der in diesen seltsamen 1980er Jahren nicht auf der Seite derer stand, die in ihren Apparaten hockten.

So versteht es auch Friedrich Scholemer in seinem Beitrag, wenn er über das “Training des aufrechten Ganges” schreibt – gegen das erstarrte Monopol des Apparates. Dieses Training, das einige mit Volker Braun schon 1974 begannen, andere nach Biermanns Ausbürgerung 1976, andere noch später. Manche auch nie. Der Gegenstand von Brauns fast freudiger Dauerauseinandersetzung schien sich zwar 1989 in Luft aufgelöst zu haben. Aber Braun machte so weiter wie bisher. Er kennt ja seine Pappenheimer und die Zustände, die sie immer wieder herstellen, weil sie sie brauchen. Und die sie dann als fertig, alternativlos und unabdingbar verkaufen. Schon in den 1960ern hat Braun diese Ach-so-Fertigen geärgert mit der Zeile: “Kommt uns nicht mit Fertigem”.

Das gilt auch heute. Nur die Masken haben sich verändert, die Besitz-und Herrschaftsverhältnisse. Der Rest ist weiterhin Stoff, der nach Verarbeitung schreit.

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Was immer wird, es wühlt im Hier und Jetzt
Michael Opitz, Erdmut Wizisla, Lehmstedt Verlag 2014, 29,90 Euro

Manche wichtigen Zeitgenossen können sich nicht mehr äußern.- Leider. Ihren Platz nehmen im Band die zwei Generationen Jüngeren ein, die mit Braun erwachsen wurden und immer im Bewusstsein schrieben, dass es da einen gibt, der wider den Stachel löckt, weil das sein Arbeitsprinzip immer war.

So sind die vier Kapitel mit Beiträgen von Künstler- und Schriftstellerkollegen nicht nur ein Spiegel für den Immerjungen, sondern auch eine Beispielsammlung, auf wie vielfältige Weise man mit Brauns Texten umgehen kann. Wie sie einen zum Stutzen und Nach-Denken bringen, gerade weil sie oft nicht geradlinig und ziel führend sind. Gerade ihre zuweilen verwirrende Montage-Technik zwingt zum Genauer-Lesen. Und zum Dran-Reiben. Manches zwingt gerade dazu. Und das Knirschen in der HV Literatur ließ zumindest immer ahnen, welche Bauchschmerzen die Obwalter der reinen Lehre mit diesem Verse-Monteur immer hatten. Den andere immer für so staatsnah hielten, dass er ungefährlich sein musste.

Da hätten ihn Einige auch heute wieder gern. Aber die würden auch nie einen Text zu seinem Geburtstag schreiben.

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