War die Friedliche Revolution eigentlich eine christliche Revolution? - Fast könnte man den Eindruck bekommen, wenn man viele der heute üblichen Interpretationen zu diesem Ereignis liest. Auch die Herausgeber dieses Buches sprechen ja von einem "Wunder". War es denn eins? - Selbst Pfarrer kommen zu ganz besonderen Einsichten.

Gewachsen ist das Buch aus einem Projekt, das 2008 startete – anfangs mit einer Ideenbörse im Internet – letztlich mit der Sammlung vieler persönlicher Erinnerungen an den Herbst 1989 – oder genauer: Die entscheidenden 38 Tage zwischen dem 3. Oktober (als die Grenze zur CSSR dicht gemacht wurde) bis zum 9. November, als die Mauer einfach weggeschwemmt wurde.

Die drei Herausgeber kommen genauso aus dem kirchlichen Umfeld wie die meisten der Autoren, die sie um Beiträge gebeten haben. Und natürlich frappiert bis heute, dass gerade der Umsturz in der DDR so friedlich ablief. Jochen Bohl, der sächsische Landesbischof, führt es direkt auf die Friedensbotschaft Jesu zurück. Quasi in drei Schritten: “Keine Gewalt!” – Bergpredigt – ein Glaube, der Berge versetzen kann. Die meisten Autoren sehen es ganz ähnlich, sehen in den Veränderungen von 1989 den Endpunkt geduldigen Ausharrens und des Arbeitens an anderen, friedlichen Weltvorstellungen.

Die Erinnerungen sind weitestgehend chronologisch geordnet. Und die Herausgeber haben das Kunststück fertig gebracht, die einzelnen Tage auch unter die Überschrift der jeweils akuten inneren Widersprüche und seelischen Konflikte zu stellen. Konflikte, die alle Teilnehmer des Ereignisses auf ihre Weise auszumachen hatten. Jeder Tag war auch ein Tag persönlicher Entscheidung und Wahl. Die Freiheit war nicht der Endpunkt, sondern der Ausgangspunkt des Ganzen. Und für Viele, die den Herbst erlebten, die eigentlich berauschende Erfahrung: dass nämlich niemand für sie bestimmte, dass Lebensläufe nicht zwingend vorgeschrieben sind und dass man selbst jeden Tag entscheiden kann, ob man mutig ist oder nicht, ob man sich auf die Straße traut oder lieber daheim bleibt, ob man seine Wünsche laut äußert oder verkneift …

Da und dort müssen die Geschichten natürlich weiter ausgreifen. Denn die Veränderungen begannen ja 1989 nicht aus dem Nichts heraus. Auch die Flucht in die Prager Botschaft im September oder die Öffnung der ungarischen Grenze nach Österreich waren ja nicht die Auslöser der Veränderungen. Eher Momente der Verstärkung, genauso wie die Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen im Mai 1989, die von mutigen Bürgerrechtlern aufgedeckt wurden. Doch auch dafür gab es einen langen Vorlauf. Einer war die Friedensdekade der Evangelischen Kirche, ein anderer die Bereitschaft einiger Pfarrer und Gemeinden, ihre Kirchen auch für den nicht-kirchlichen Protest zu öffnen – für Künstler, die dort ihre Bilder ausstellen konnten, für Musiker und Schauspieler, die dort noch auftreten konnten, wenn sie in staatlichen Häusern schon Auftrittsverbot hatten, aber auch für Arbeitsgruppen, die sich dem Umweltschutz, der Friedensbewegung, den Menschenrechten widmeten. Das merken auch die Herausgeber mehrfach an: Die Kirche war der letzte noch freie Raum in der DDR, in den die staatlichen Organe noch nicht hemmungslos hineinregieren konnten – auch wenn sie eifrig ihre Spitzel und Überwacher schickten und versuchten, die Vorgänge in den Kirchen zu unterbinden.Es war in gewisser Weise also folgerichtig, dass aus den Kirchen dann auch der Protest wieder auf die Straßen kam, als immer mehr Menschen im Lauf des Jahres 1989 genug hatten von Erstarrung, Sprachlosigkeit und staatlicher Kommunikationsverweigerung.

Dazu kam, dass viele Andersdenkende in der DDR auch beruflich gezwungen waren, ihren Lebensweg in der Kirche zu suchen. Mancher wurde auch Pfarrer, weil ihm der Weg in ein anderes Wunschstudium versperrt war. In gewisser Weise haben die staatlichen Behörden selbst dafür gesorgt, dass sich im Bereich der Kirchen das Protestpotenzial der DDR sammelte. Das prägte logischerweise auch die Friedensbewegung der DDR, die dem Hochrüsten im eigenen Land von Anfang an die Friedfertigkeit der Bergpredigt entgegen setzte.

Im Buch wird dieser Moment noch verstärkt durch “Impuls”-Texte, die versuchen, mit Bezug auf die Bibel die Ereignisse des Tages zu interpretieren. Dazu jeweils zwei kleine Gebete – “Gott sei Dank” und “Um Gottes Willen”. Und ein Text zum politischen Hintergrund, was dann natürlich auch die Frage aufwirft: Wie war es denn eigentlich mit der anderen Seite, der der Machthaber? Denn mittlerweile haben wir ja dutzende Ereignisse weltweit erlebt, in denen sich die Machthaber in keiner Weise von den friedlich demonstrierenden Volksmassen beeindrucken ließen und Polizei und Armee massiv zum Einsatz brachten, auch mit der Gefahr eines drohenden Bürgerkrieges.

Ohne die Lähmung der Macht in der DDR ist die Friedliche Revolution nicht zu begreifen. Sie wird in vielen dieser “Hintergrund”-Geschichten sichtbar. Etwa wenn Johannes Reimer über die verweigerte “Glasnost” erzählt und Gerhard Thomas über die Rolle des noch mächtigen KPdSU-Chefs Michael Gorbatschow. Oder wenn in den Beiträgen von Fritz Hähle und Harald Bretschneider die wirtschaftliche Misere des Landes sichtbar wird. Immer wieder werden die verzweifelten Versuche einiger SED-Funktionäre sichtbar, die Sache doch noch zu wenden. In ihrem Sinn. Etwa wenn sie die Forderung nach Dialog aufnahmen und so wieder ihre “Führungsrolle” wahrzunehmen versuchten. Doch gerade diese Veranstaltungen zeigten, wie hilflos der Funktionärsapparat reagierte, der sich des Selber-Denkens so gründlich entwöhnt hatte. Da fielen selbst die wenigen Funktionäre auf, die überhaupt noch zu diesem Dialog fähig waren – wie Berghofer und Modrow in Dresden, auch wenn sie erst nach schweren Auseinandersetzungen auf der Prager Straße bereit waren, mit der “Gruppe der 20” auf Augenhöhe zu sprechen.

Und das zu einem Zeitpunkt, als SED-Chef Honecker noch für ein gnadenloses Vorgehen gegen die Demonstranten war. Er musste seinen Sessel genauso räumen, wie er einst Walter Ulbricht weggeputscht hatte. Seinem Nachfolger Egon Krenz nutzte das wenig. Dazu hatten die Ereignisse längst eine Dynamik angenommen, mit der der zentral gesteuerte Funktionärsapparat nicht mithalten konnte. Der bastelte im Prinzip am 9. November noch immer an einem neuen Reisegesetz, das den DDR-Bürgern mehr Reisefreiheit zugestehen sollte, als eine einzige etwas hilflose Auskunft Schabowskis in einer Pressekonferenz dafür sorgte, dass die Berliner die Reisefreiheit für gesetzt hielten und massenhaft zu den Grenzübergängen strömten.Im Nachhinein ein fast logischer Vorgang, denn vorher hatte keine einzige Maßnahme der DDR-Regierung dazu geführt, dass die Massenflucht aus dem Land abebbte oder gar die Demonstrationen aufhörten. In der Bundesrepublik waren sämtliche Aufnahmelager überfüllt. Die Zeit war reif. Und nach dem 9. November hatte die SED das Heft des Handelns sowieso nicht mehr in der Hand, da drängte das Ganze fast ebenso zwangsläufig auf eine deutsche Wiedervereinigung hin. Die für die Staatsmänner Europas keineswegs so überraschend kam wie für die DDR-Bürger. Gorbatschow hatte das Thema bei seinem Bonn-Besuch im Vorjahr längst angesprochen.

Manchmal sieht Politik wie ein Wunder aus, weil die Betroffenen einfach nicht erfahren, was hinter den Kulissen besprochen wird. Und wenn auch Medien immer nur das Opportune erfahren, sieht manches Ereignis dann aus, als hätten es die Menschen auf der Straße ganz allein vollbracht. Vielleicht gibt es ja irgendwann einmal den Band mit den wichtigsten (Geheim-)Protokollen aus dieser Zeit, die deutlicher machten, was wirklich geschah. Die mutigen Menschen auf den Straßen gehören natürlich dazu. Sie konnten allesamt nicht wissen, wie die Staatsmacht reagieren würde, ob die einsam gewordene Führungsriege in Berlin nicht doch bis zuletzt mit allen Mitteln kämpfen würde, wie es Honecker wollte.

Die Dankbarkeit, die aus vielen der hier versammelten Texte spricht, ist nur zu verständlich. Niemand konnte ahnen, ob dieser Herbst ohne Blutvergießen vorübergehen würde. Eine Dankbarkeit, die ja auch verstärkt wird durch all das, was durch den Herbst ’89 wieder möglich wurde – und dazu gehört nicht nur die gewonnene Reisefreiheit, dazu gehören auch die Freiheit im Denken und Reden, die politische und die Medienfreiheit. Ob sie jeder nutzt, das ist eine andere Frage. Freiheit ist erst einmal nur eine Möglichkeit.

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Das Wunder der Freiheit und Einheit
Harald Bretschneider, Bernd Oettinghaus, Frank Richter, Evangelische Verlagsanstalt 2014, 16,95 Euro

Und so ist auch verständlich, wenn Harald Bretschneider in “Ausblick” daran erinnert, dass die Botschaft von 1989 auch heute noch gilt: “Es befreit, die Marktwirtschaft mit ihren Ansprüchen und Zwängen nicht zu vergöttern. Die Zehn Gebote und die Bergpredigt sind als Grundlagen der Gesetzgebung aller europäischen Staaten ein ‘Moralkapital’, das beherzigt werden will. Es hilft dem Leben wie der Wirtschaft zur Gesundung. Es dient zwar vordergründig weniger der Gewinnmaximierung. Aber es führt zur werterhaltenden, wertschöpfenden Sinnorientierung, es fördert den sozialen Grundkonsens, der maßgeblich ist für den Frieden in unserer Gesellschaft und in der Welt.”

Dieses Wort denn in Ohr und Auge der Mächtigen.

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