Im Untertitel wird Reinhard Bohse noch etwas konkreter: „Leben diesseits der Mauer. Historischer Report 1945–1989“. Die Leipziger kennen ihn noch als Rathauspressesprecher unter OBM Hinrich Lehmann-Grube und als Pressesprecher der LVB. Einige auch noch aus den Umbruchszeiten 1989/1990, als er die „DAZ“ und den Forum-Verlag Leipzig mit aus der Taufe hob. Und seine Befürchtung ist nur zu berechtigt: dass Nachgeborene gar nicht mehr begreifen, wie die DDR wirklich war.

Wie es sich darin wirklich lebte. Er ist nicht der Erste, der jetzt so ein Buch vorlegt, das auf keinen Fall eine Autobiografie werden sollte, sondern eben ein Report. Das ist ganz ähnlich wie bei Bernd Rump, dem Dresdner Liedermacher und Dramaturgen, der seine Exkursion in die erlebte Vergangenheit auch lieber Storyline nannte, wohl wissend, dass niemand wirklich objektiv über die Geschichte erzählen kann, dass das eigene Leben tatsächlich erst in Geschichten begreifbar wird, die man sich selbst erzählt, wobei oft nicht wirklich abgrenzbar ist, was wirklich selbst erlebt wurde und was man aus anderen Quellen ganz unbewusst übernommen hat.Und auch Gerhard Poetzsch zeigte ja im zweiten Band seiner Lebensreise „Zwischenzeitblues“, dass dieser Stoff, aus dem unsere Erinnerungen sind, höchst seltsam und unzuverlässig ist. Man sollte ihn schon mit einer gewissen Skepsis behandeln. Und man darf sich auch ärgern, wenn man nichts aufgehoben hat, sondern alles hübsch entsorgt, wie das so viele 1990 getan haben. Dann hat man nämlich keine Materialien mehr, auf die man zurückgreifen könnte, sondern nur die unzuverlässige Erinnerung.

Wobei gerade das Thema DDR noch einen Zacken schärfer ist als etwa ein Lebenslauf in Westdeutschland, wo man zwar mit der falschen Herkunft und der falschen Einstellung auch gewaltig mit der Staatsmacht zusammenrasseln konnte. Aber es gab immer eine freie Presse, die Politik konnte selbst in den Abendnachrichten kräftig kritisiert werden, und in Büchern konnte Klartext geschrieben werden.

Aber der Staat hielt sich in der Regel heraus aus den Lebensplanungen der Menschen und versuchte auch nicht, sie zu willfährigen Ja-Sagern und Duckmäusern zu machen. Studienplätze wurden nicht nach parteilicher Zuverlässigkeit vergeben und Arbeitsplätze nicht nach staatlichen Lenkungsplänen.

Je mehr dieser Lebenserkundungen aus dem Osten man liest, umso mehr verstärkt sich die Erkenntnis, dass Autoren wie Thomas Brussig („Helden wie wir“) und Bernd Schirmer („Silberblick“) recht hatten damit, den Eulenspiegelmodus für ihre Helden zu wählen. Denn nur so wird das Leben in einem Land erzählbar, in dem die offiziell propagierten „Wahrheiten“ nichts mit der Lebensrealität zu tun hatten, eine Schilderung der Lebensrealitäten aber sofort die Kontrollorgane auf den Plan rief.

Wovon der Umgang mit dem Prager Frühling 1968 (den Bohse tatsächlich als Wehrpflichtiger in einer Bereitschaftsstellung in einem Wald in der Lausitz erlebt), mit der Ausbürgerung Wolf Biermanns (der selbst bei seinen Konzerten im Westen eigentlich den Traum eines besseren Sozialismus träumte) oder mit den Liedern der Leipziger Band „Renft“ erzählt. Wo die Ankläger immer gleich zur großen Keule griffen und den finster wühlenden Klassenfeind behaupteten, ging es bei allen großen Skandalen der DDR eigentlich immer nur um eines: die Angst der Herrschenden vor dem wahrhaften Sprechen, vor Offenheit und lebendiger Debatte.

Aber wo eine regierende Partei mit den ihr dienenden Apparaten das freie Sprechen quasi schon in den Köpfen unterbindet, entsteht ganz automatisch nicht nur so etwas wie das Orwellsche Doppeldenk und Neusprech, sondern auch eine manifeste Sprachlosigkeit, die für viele meist auch nach Jahrzehnten nicht zu überwinden ist. Denn wie erzählt man eigentlich seine Lebensgeschichte, wenn man nicht wirklich dazu stehen kann? Wenn sie gebrochen und verkorkst ist, weil man sich hat verbiegen lassen – egal, ob der Karriere wegen oder erpresst durch allgegenwärtige Staatsorgane, die überall mitmischten?

Und so schildert Reinhard Bohse im Grunde einen auf seine Weise typischen Lebenslauf – mit kräftigen Mäandern, glücklichen Ausweichbewegungen und einer wachsenden Portion Widerborstigkeit, die für ihn – wie bei so vielen Frustrierten in der DDR – 1989 auf den Nikolaikirchhof und den Leipziger Ring führte mit dem brodelnden Gefühl im Bauch: Jetzt muss sich etwas ändern. Das geht so nicht weiter.

Da hatte er sich schon leidlich durchgefitzt durch dieses System, das seine Hochschulen in den 1960er Jahren zu Kaderschmieden machte und die kritischen Köpfe systematisch fernhielt von den wirklich attraktiven Studienfächern. Also mied Bohse lieber all diese Fächer mit besonderer Rotlichtbestrahlung, studierte in Freiberg Geologie und erlebte die Realität sozialistischen Wirtschaftens im Tagebau südlich von Leipzig (nachdem er beinah in der Lausitz gelandet wäre), wusste also nur zu genau, wie das Land sich eigentlich selbst verfeuerte, bevor ihm der glückliche Wechsel nach Leipzig gelang (wo sich das Abenteuer, eine Wohnung zu finden, nach Freiberger Muster wiederholte).

1982 gelang ihm glücklich der Sprung als Lektor in den Tourist Verlag, wo er dann schon mal das Knowhow sammeln konnte, das ihm zugutekam, als das Neue Forum Leipzig im Herbst 1989 eine Redaktion zusammenstellte, um seine Flugblätter/Zeitung herauszugeben.

Aber ganz und gar nicht beiläufig erzählt er auch, wie schnell der Staat seine nie definierten Grenzen deutlich machte, wenn ihm die jungen Leute über die Stränge zu schlagen begannen – ob nun in der gerade gegründeten Jazzband oder im Literaturzirkel im Haus der Intelligenz. Wie geht man mit den spürbaren Eingriffen der Staatsmacht um, wenn niemand offen darüber sprechen darf? Und was richtet das eigentlich an in einer Gesellschaft, die so doof und einfältig nicht ist, wie sie sich die Parteikader immer vorstellen?

Logisch, dass dann alle wirklich offenen Diskussionen abtauchen ins Private. Denn mit Kirche hatte Bohse auch nichts zu tun, war sogar Jahrzehnte lang überzeugt, dass sein Vater als Neulehrer ein immer schon überzeugter Kommunist war. Da brauchte es erst die 1986 erstaunlicherweise genehmigte Reise in den Westen, um auch dieses Thema endlich offenzulegen: Dass die DDR auch die eigene Vergangenheit regelrecht verschwieg und sich niemals mit den Folgen und Nachwirkungen des NS-Regimes auseinandergesetzt hatte. Alles Themen, die ja erst 1989 und später thematisiert wurden, viel zu spät, um für die Selbsterkenntnis innerhalb der DDR auch nur noch das geringste zu bewirken.

Selbst das berühmte Leseland DDR zieht Bohse infrage. Aber da kommt es wohl auf die Perspektive an. Denn es waren immer wieder die Bücher der mutigeren Autor/-innen im Land, die die dann eben doch stattfindenden gesellschaftlichen Diskussionen auslösten, wenn man an etwa Christa Wolf oder Christoph Hein denkt. Auch wenn das wirklich Anstößige dann meist zwischen den Zeilen steckte. Geübte Leser haben früh gelernt, es zu entschlüsseln.

Aber genau dieses kryptische Schreiben gehört natürlich zur Unschärfe und Nebulosität der gesellschaftlichen Wahrnehmung in der DDR. Und dazu kamen dann Bohses „Elf Tage, die ein Weltbild veränderten“, seine Reise zu den Familienangehörigen im Westen 1986, die ihm auch zeigte, dass die graue Wolke über dem kohlefeuernden Osten keine Einbildung war, sondern schon bei der Annäherung an die Grenze sichtbar.

Wer so die Grenze überfahren durfte, erlebte selbst, dass dieser Wettlauf zwischen den Systemen längst entschieden war und die DDR ganz bestimmt nicht auf der Ulbrichtschen Überholspur. Aber selbst wer nicht dieses Glück hatte, den Westen zu sehen, wer auch nur nach Prag oder Budapest kam, merkte, dass die Sache längst ins Rutschen gekommen war. In Rumänien, wie Bohse schildern kann, auf regelrecht tragische Weise.

Aber tatsächlich schaut man hier ja einem Erzähler zu, der eigentlich gar nicht zum Rebellen werden wollte, der auch nicht Redner auf großen Tribünen werden wollte, im Herbst 1989 aber trotzdem dastand und auch für das Neue Forum sprach. Eigentlich ein recht klares psychologisches Element, das so mancher selbst erklärte Widerstandskämpfer meist falsch erzählt.

Denn wer in der DDR aufwuchs – und 1948 in der Nähe von Meißen geboren ist Reinhard Bohse fast komplett darin aufgewachsen –, der war immer auch in der Überzeugung erzogen geworden, dass im Arbeiter-und-Bauern-Staat jeder werden konnte, was er wollte, dass Leistung und Fleiß zählten und die Genossen nur darauf warteten, dass sich der junge Mensch mit ganzem Einsatz einbrachte in die Entwicklung einer Gesellschaft, der die Zukunft gehörte.

Dass genau das von den alten Planern und Überwachern gar nicht gewünscht war, merkten die so Strebsamen meist erst, wenn sie auf einmal auf weiche Widerstände, Schikanen, unerklärliche Sackgassen stießen oder – wie Bohse – bei der NVA den Stiefelgeruch aus der Vorgängerarmee kennenlernten. In solchen Momenten lernt der Mensch auszuweichen, den Mund zu halten, den Eulenspiegel zu spielen. Man taucht ab, weicht in private Räume aus, teilt die Welt in ein Drinnen und Draußen.

Genau das macht alle Erinnerungen an die DDR so diffus und doppeldeutig – und oft auch so distanziert. Und das, obwohl sich auch von den vielen Demonstrierenden im Herbst 1989 die meisten eigentlich verantwortlich fühlten für dieses Land. Das „Wir sind das Volk“ war genauso ernst gemeint wie das „Wir bleiben hier“. Ganz abgesehen von den vielen frechen Forderungen an die Noch- und dann bald Nicht-mehr-Regierenden, die dann Anfang 1990 auf den Demo-Fotos im ersten und erfolgreichsten Buch des Forum Verlags zu sehen waren: „Jetzt oder nie!“

Die letzte Phase, in der aus der Selbstermächtigung der Bürger auf den Straßen dann binnen weniger Monate die Forderung nach der Deutschen Einheit wurde, schildert Bohse dann noch etwas ausführlicher, denn dass schon im Oktober 1990 diese kleine DDR verschwinden würde, war im Dezember 1989 noch nicht zu ahnen, als es noch immer darum ging, die alten Staatsorgane zu entmachten und den Weg zur Demokratie unumkehrbar zu machen.

Eine Zeit, in der Bohse mit seinen Mitstreitern in der Redaktion des Neuen Forums das Buch „Jetzt oder nie!“ tatsächlich zum Druck brachte und die Weichen stellte für „Die andere Zeitung“, die heute auch längst eine Legende ist, obwohl sie aus dem Leipziger Umbruchjahr 1990 nicht wegzudenken ist. Seinen Report beendet Bohse quasi mit dem Silvester 1989 und dem Ausblick auf ein Jahr der gravierenden Veränderungen.

Aber er schreibt in sein Resümee auch etwas zu Beherzigendes über die heutigen Erinnerungen an die Geschichte im Osten. „Die Erfahrungen und Lebensumstände sind im Osten grundsätzlich andere. Lebensart und Kultur – im Schatten der Mauer verdeckt und verschüttet – wieder ans Licht zu bringen, wird eine Jahrhundertaufgabe.“

Und das betrifft nicht nur den deutschen Osten, sondern das komplette Osteuropa, das heute oft genauso stiefmütterlich behandelt wird, wie sich viele Ostdeutsche behandelt fühlen, geradezu marginalisiert, obwohl die friedliche europäische Einigung ohne die Bürgerrevolutionen (wie Bohse sie nennt) des Jahres 1989 nie möglich gewesen wäre.

Aber das hat wohl miteinander zu tun: Die einen, die sich ihrer brüchigen und grauen Vergangenheit nur zu bewusst sind und sehr vorsichtig sind, über sich selbst zu sprechen, und die andere (westliche) Seite am Tisch, die immer schon laut und selbstbewusst über sich und andere sprechen und urteilen durfte, weil man (was für ein Glück) auf der richtigen Seite der Mauer aufgewachsen ist. Also an nichts eine Schuld trägt. Was den Fokus wieder auf den so wichtigen Untertitel lenkt: „Leben diesseits der Mauer“.

Das vergisst man nämlich so oft, wenn mal wieder öffentlich über „diese Ostdeutschen“ gestritten wird (wie zuletzt in der Wanderwitz-Debatte): Dass zu einem Urteil immer die Kenntnis beider Seiten gehört. Und während die meisten Ostdeutschen inzwischen beide Seiten nur zu gut kennengelernt haben, ist für viele westdeutsche Sprecher der Osten immer noch Sibierien, ein Land, mit dem man sich (man schaue sich nur die Gewichtungen in der Bundespolitik an) nicht befassen muss.

Etwas, was Bohse schon bei seiner Westreise in den 1980er Jahren frappierte: Die alte Bundesrepublik hatte sich da längst eingerichtet in der Vorstellung, das einzige und allein gültige Deutschland zu sein. Und an dieser Haltung hat sich irgendwie bis heute nichts geändert.

Also in gewisser Weise wieder so ein Erinnerungsreport, der wider den Stachel löckt. Aber nicht nur gegen die Selbstgewissheit unserer westlichen Verwandten, sondern auch die Lamento-Mentalität etlicher Ostdeutscher, die – statt anzupacken und die Dinge zu gestalten – lieber weiterlamentieren. Logisch, dass Bohse auch die staatlich verordnete Blindheit gegen den ostdeutschen Rassismus und Neonazismus thematisiert, eine Tradition, die leider nach 1990 fortgesetzt wurde, weil irgendjemand meinte, dass man den ach so lieben Wähler nicht vor den Kopf stoßen dürfte.

Pampern aber war noch nie eine kluge Politik. Für das Experiment DDR ist sie gründlich in die Hose gegangen. Auch das kann man lernen, wenn man mit dem kritischen Blick des Unangepassten zurückschaut auf diese „nicht vergangene Zeit“. Dann sieht man die Vergangenheit in der Gegenwart weiter wirken. Nicht so platt, wie es sich etwa der Ostbeauftragte Marco Wanderwitz dachte (auch wenn er es schon deutlich differenzierter ausdrückte als viele seiner Unions-Kollegen).

Denn es gehört auch ein Stück ostdeutscher Schalkhaftigkeit dazu, den Ball einfach mal zurückzuspielen, so wie es auch Bohse tut: „Die Westeuropäer wurden bereits 1945 befreit und im ,Huckepack‘ mit den Befreiern kam dort die Demokratie.“ Während der Osten noch einmal 45 Jahre Diktatur verpasst bekam. Von der sich der Osten aber – „Ein Traum!“, betont Bohse – selbst befreite. Auch das wird nur zu gern vergessen.

Wahrscheinlich stimmt die Vermutung schon: Die Zeit ist reif für die widerspenstigen Erinnerungen an ein Land, das die einen meinten, einfach auf den „Müllhaufen der Geschichte“ entsorgen zu können, während die, die drin aufgewachsen sind, wissen, dass man Geschichte nicht entsorgen kann, sondern nur verstehen und was draus lernen.

Reinhard Bohse Von einem, der auszog in eine nicht vergangene Zeit, Edition Hamouda, Leipzig 2021, 15 Euro.

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