Das ist mal eine Liebeserklärung an Leipzig, die sich gewaschen hat. 25 Briefe hat Janine Lückert an ihre zeitweilige Wahlheimat Leipzig geschrieben. 2021 ist sie weggezogen, weil ihre Liebe auf Zeit sich zu etwas entwickelt hat, was man nicht unbedingt aushalten muss für den Rest des Lebens. Mit dem ganzen Rummel um „The better Berlin“ hat Leipzig vor allem eines von Berlin übernommen: all seine schlechten Eigenschaften.

Auch André Herrmann ist nicht schuld. In dem Moment, als die überbezahlten Marketing-Experten der Stadt seinen Slogan „Hypezig“ übernahmen, hörte er auf, seinen Hypezig-Blog zu füllen. Das war vor sieben Jahren.„Und wenn ein Begriff wie Hypezig derart instrumentalisiert wird, dass er sowohl inhaltlich umgedeutet und formal kopiert werden muss, um sich selbst eine glattgebügelte Variante herzustellen, dann bleibt als einzige Möglichkeit der Kritik nur noch, das Ganze fallenzulassen“, war sein letztes Wort dazu.

Was natürlich die Experten bis heute nicht begriffen haben, denn sie haben keinen Sinn für Satire. Sie glauben tatsächlich, es braucht nur lauter goldenes Konfetti, und eine Stadt wird berühmt wie eine jubelnde Marktsau.

Und dann geht die Post ab, dann kommen sie alle: die Touristen, die Hipster, die Investoren, die Fluggesellschaften, die Startups und Startdowns und natürlich die Leute, die hier für fettes Geld anheuern und die Kassen klingeln lassen. Irgendwie ist auch genau das passiert.

Es hat die Stadt verändert. Aber nicht zum Besseren.

Sie ist kälter geworden, ungemütlicher, griesgrämiger.

Und es überrascht, dass nicht nur wir das so sehen, sondern auch diese Autorin, geboren in Hannover, 2002 zum Studium nach Leipzig gekommen. Der erste Brief in diesem Buch stammt somit auch aus dem Jahr 2002. Eigentlich der zweite, denn voran steht noch ein Gruß vom Kulkwitzer See aus dem Juli 2021 – ein Versuch, noch einmal die Hand zu reichen. Aber am Ende weiß man, da geht nichts mehr.

Das Leipzig von 2021 ist ein großkotziges und griesgrämiges Leipzig geworden. Es hat nicht mehr viel mit dem Dornröschen von 2002 zu tun, das gerade wieder munter wurde. Als überall noch emsig saniert wurde und es egal war, in welchen Ortsteil man zog: Überall konnte man das Gefühl haben: Hier geht was. Hier ist Platz für Ideen und Neuanfänge. Diese Stadt ist voller Chancen.

Es hätte richtig schön werden können

Das war in Gohlis so, wo Janine Lückert ihre erste Studenten-WG hatte, das war aber selbst in der Grünewaldstraße im Zentrum noch so, in der Simildenstraße in Connewitz und in der Aurelienstraße in Lindenau. Alles Stationen auf Janine Lückerts Lebensreise in Leipzig und mit Leipzig. Und wenn man so an die frühen Nuller-Jahre zurückdenkt, dann war da durchaus noch möglich, eine sehr persönliche Beziehung zu dieser Stadt zu gewinnen, zu ihren Menschen, ihrem Flair, ihrer Aufbruchstimmung.

Wie intensiv so eine Beziehung sein konnte, das erzählt Janine Lückert in ihren Briefen, die sie an die Liebe (Stadt) Leipzig schreibt. Quasi im Jahresrhythmus, so, wie sich ihr Leben veränderte – vom Studium über das Examen zur ersten und zur zweiten Liebe, mit Seitensprüngen nach Barcelona und Australien und dem optimistischen Start ins Berufsleben und der Gründung ihrer kleinen Familie. Es hätte richtig schön werden können.

Und man fiebert mit. Denn Janine Lückert schreibt sehr emotional. Da werden sich viele Leser/-innen fragen: Warum bekomme ich niemals solche (Liebes-)Briefe? Denn Liebesbriefe in dem klassischen Sinn sind das nicht. Sie muss ja niemanden überzeugen davon, wie groß ihre Liebe zu dieser Stadt ist bzw. war.

Im Grunde schreibt sie schon auf der nächsten Ebene, auf die es viele Liebende gar nicht erst schaffen: Die der ernsthaften Partnerschaft, in der man offen zueinander sein kann und auch die heiklen Dinge ansprechen darf.

Janine Lückert: Liebe Leipzig. Foto: Ralf Julke
Janine Lückert: Liebe Leipzig. Foto: Ralf Julke

Wobei es von den heiklen Dingen anfangs nicht viele gibt. Da wirken Reisen in die Welt eher wie ein Fremdgehen, für das sich die Briefeschreiberin von Herzen entschuldigen möchte, denn bei jeder Heimkehr merkt sie, dass Leipzig tatsächlich ein besonderer Ort ist, an den man gern zurückkehrt und zu dem man eine intensivere Beziehung hat als selbst zur alten Heimat.

Wann kam der Bruch?

Aber dann ist irgendetwas passiert. Vielleicht nur das, was uns allen passiert, wenn wir älter werden und eine Familie gründen und die Nächte nicht mehr zum Tag machen möchten.

Aber nicht nur das war es, was die Beziehung nach und nach knirschen ließ. Nicht nur die zunehmenden Glasscherben auf den Straßen, die es 2002 tatsächlich noch nicht gab. Die kamen erst mit all diesen „coolen“ Flaschenträgern, die meinten, es wäre irgendwie hip, mit der Bierflasche durch die Stadt zu laufen.

Und auch die Sache mit den Hundehaufen auf den Trottoirs hat sich erst in den letzten Jahren in einigen Ortsteilen ausgebreitet. Genauso wie die Bootspartys nachts auf dem Karl-Heine-Kanal, die für die Menschen, die nachts schlafen wollen oder müssen, eine Qual sind.

Aber auch die Stimmung in den Straßenbahnen ist gekippt. Wann war das genau? Wann begann dieses Herumgemuffel, dieses immer kurz vorm Explodieren sein, das man vielen Leipziger/-innen inzwischen schon ansieht, wenn sie in die Straßenbahn drängen, als müssten sie sich Platz erkämpfen und einen auf icke machen. Oder sind das alles Berliner, die in der großen Stadt an der Spree nicht mehr geduldet wurden? Natürlich nicht.

Das merkt die Autorin spätestens, wenn sie im Bus beim Fahrkartenlösen auf Sächsisch angeknurrt wird. Als käme da die ganze schlechte Erziehung aus DDR-Zeiten wieder zum Vorschein und gerade die älteren Leute meinten, jetzt wieder Wachtmeister und Zurechtweiser spielen zu müssen.

Natürlich: Wie früher.

Vielleicht war es das Jahr 2015, als solche Leute zum ersten Mal ihre grimmigen Pegida-„Spaziergänge“ zelebrierten und dieses Geraune und Gemurre begann. Das sich dann auch bei Wahlen niederschlug in Wahlergebnissen für die blaue Vorvorgestern-Partei, die auch in Leipziger Ortslagen zweistellige Ergebnisse einfuhr. Als hätten da ein paar Leute nur darauf gewartet, wieder griesgrämig, verbittert und böse sein zu dürfen.

Die Stadt wird zum Spekulationsobjekt

Spätestens 2017 aber war der Knacks da. Das kann die Briefeschreiberin aus eigener Erfahrung erzählen. Da begannen die großen Wohnungsverkäufe in Leipzig. Das lohnte sich jetzt endlich, da sich die tollsten Ortsteile alle gefüllt hatten. Da wurde Wohnraum in Leipzig zur heißen Ware und die Bestände wurden zu steigenden Preisen weiterverkauft.

Die Mieter/-innen bekamen dann gleich mal postwendend die saftige Mieterhöhung zugeschickt. Was auch Janine Lückerts kleine Familie zwang, die schöne Wohnung am Kanal zu verlassen und nach Neulindenau zu ziehen, wo sie dann endgültig das vergrämte und nörgelnde Leipziger Publikum kennenlernte.

Das hält man mal ein Weilchen aus. Aber nicht lange. Denn irgendwann deprimiert einen diese permanente Negativ-Stimmung, dieses misstrauische Schweigen, die stille Missgunst über allem. Da hilft dann auch nicht mehr, dass die Bäckerin die bestellten Croissants am Samstag als Bückware zurücklegt. So weit zurück in die Vergangenheit möchte man als junger Mensch nicht wirklich.

Und da die Briefe im Grunde die Jahre zusammenfassen, versteht man diese tiefe Enttäuschung in den letzten Briefen nur zu gut. Es hatte alles so verheißungsvoll angefangen. Eben wie eine richtig gute Liebe, mit Höhen und Tiefen. Aber die gibt es in jeder Beziehung.

Man rauft sich zusammen, kabbelt sich wieder, sucht den Abstand und die Nähe, ist zutiefst verzweifelt und dann wieder hochbeglückt. Und Orte, an denen man das als junger Mensch in Leipzig sein kann, gibt es ja genug. Gab es genug.

Der Preis des Hypes

Vielleicht war es wirklich dieser Hypezig-Hype, der das alles nur zugeklatscht hat, die zunehmende Entfremdung verdeckt hat, die ja nicht nur viele der nach Leipzig Zugezogenen erlebten, sondern auch viele, die hier in den Pionierstadtteilen einmal durchgestartet sind und dann – ja – so ungefähr ab 2014 – erlebten, was Verdrängung und Gentrifizierung heißt.

Denn wenn der Laden läuft und sich mit den aufgewerteten Quartieren richtig Kohle verdienen lässt, dann verschwinden zuerst die alternativen Läden, dann die alternativen Kneipen, und dann ändert sich die Bewohnerschaft. Aus alten Fabriken verschwinden Ateliers und Werkstätten und es werden Lofts draus oder schicke Supermärkte. Das ganze Klima ändert sich.

Aber es wird weder freundlicher noch gemütlicher. Dafür unheimlich laut. Nicht nur durch ein ewiges Motorenlärmen in den Straßen. In Neulindenau merkte auch Janine Lückert, was für eine Zumutung die nachts startenden und landenden Frachtflieger am Flughafen Leipzig/Halle sind. Sie lärmen sehr weit ins westliche Stadtgebiet hinein.

„Was soll ich sagen? Ich wundere mich nicht mehr. So erlebe ich dich inzwischen ständig“, schreibt Janine Lückert in einem Brief, den sie in den März 2020 datiert hat. „Und weißt du was: Ich mag deine Mecker-Natur nicht. Ist sie mir früher einfach nicht aufgefallen? War ich zu verliebt, um sie zu bemerken? Ist es was Persönliches oder hast du bloß generell schlechte Laune?“

Gute Frage. Da ist einiges zusammengekommen. Und vieles von dem, was Janine Lückert so nach und nach aufzählt, wird wohl tatsächlich Teil dieser Entwicklung sein. Leipzig ist sich selbst irgendwie komplett verloren gegangen zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Vielleicht merken das tatsächlich nur noch die, die mal verliebt waren in diese Stadt. Und die nun merken, dass andere Leute Stimmung machen – und zwar keine gute.

Zu viel Berlin?

„Kannst du deine Versprechen auch halten? Und viel wichtiger: Tut dir das gut?“, fragt Janine Lückert in einem der letzten Briefe. „Findest du dich in diesem neuen Image selbst noch wieder? Wird die Luft da oben auf deinem Höhenflug nicht langsam dünn?“

Was würde Leipzig antworten, wenn es antworten könnte? Würde die Primadonna überhaupt noch antworten?

„Ich kann deine Euphorie jedenfalls nicht teilen. Ich finde dich heute weniger freundlich und lebenswert als früher. Vielleicht bist du inzwischen zu viel Berlin und zu wenig Leipzig“, stellt die Briefeschreiberin fest.

Vielleicht kann aber auch Berlin nichts dafür. Vielleicht werden alle Städte so, die ihren Bodenhalt verlieren und meinen, mit aufgeblasener Werbung irgendwo bei den eitlen Supermodels mitspielen zu müssen, während das Pflaster immer teurer wird, die Gutbetuchten die neuen Hipster-Quartiere füllen, während all die, die aus lauter Liebe in die Stadt gekommen sind, immer wieder zum Wegziehen genötigt werden, irgendwo an den Rand.

Oder ganz weg aus der Stadt, die sie sich nicht mehr leisten können. Auch so kann einem eine große Liebe verloren gehen: Sie wird befördert in die besseren Kreise und guckt einen nicht mal mehr mit dem Hintern an.

Die Musik ist verstummt …

Der letzte Brief in Buch gilt dem Odenwald, wo Janine Lückert und ihre Familie eine neue Heimat gefunden haben. Noch eine letzte Fahrt nach Leipzig, ein letzter Blick vom Uni-Riesen, der seit der letzten Marketing-Umbetitelung City-Hochhaus heißt … Immerhin war da was, fast zwanzig Jahre einer intensiven Beziehung, die in den ersten Jahren richtig innig war. Das lässt man nicht einfach wortlos hinter sich.

Und deshalb sind Janine Lückerts Briefe an die Liebe Leipzig tatsächlich die herzhaftesten Liebesbriefe, die diese Stadt in der letzten Zeit bekommen hat. Und die ehrlichsten. Weil man sich unter Liebenden eben auch mal die Wahrheit sagen muss. Auch nachher noch, wenn man herausfinden will, warum die Sache so erkaltet ist.

Schreiben wir Dagebliebenen jetzt Briefe an unsere Leipzig? Wenn wir sie denn als Frau sehen und nicht eher als gestyltes Neutrum, das sich jetzt jedem andient, der mit einem Koffer Geld daherkommt und sich einfach kauft, was er sich leisten kann. „Die Musik ist verstummt. Der Tanz ist zu Ende.“

Das stimmt dann im Corona-Jahr Nummer 2 erst recht. Auch wenn noch immer junge Leute nach Leipzig kommen, die dem alten Ruf folgen, hier wäre noch alles möglich. Aber schon längst nicht mehr so viele. Denn die Zeiten, da mit dem Slogan „Leipziger Freiheit“ das Leben in bezahlbaren, toll sanierten Gründerzeitwohnungen beworben wurde, sind vorbei. So verliert eine Stadt ihre Reize und ihre Träume, wird saturiert, sorgt sich um den Autostellplatz und hält sich für was Besseres als andere Leute.

Doch: Was Janine Lückert hier schreibt an die einst geliebte Stadt, klingt nur zu vertraut. Ihr Büchlein ist im Grunde noch ein letztes Liebesgeschenk – ohne falsches Lob, ohne die aufgesetzte Begeisterung aus all den Marketing-Clips, die Leipzig zur Märchenfee machen, obwohl die Stadt alles Märchenhafte verloren hat.

Vielleicht musste es ja so kommen. Wer weiß. Es sind trotzdem 25 sehr ehrliche und liebevolle Briefe an eine Stadt, der wahrscheinlich längst die Worte fehlen, auf so etwas überhaupt noch antworten zu können.

Janine Lückert Liebe Leipzig, BoD, Norderstedt 2021, 15 Euro.

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Ich bin seit 2007 in der Stadt und wohne hier seit 2009. Ich bin auch damals schon unfreundlich dreinblickenden Menschen in der Bahn begegnet. Wie man halt guckt, wenn man Bahn fährt und nicht gerade zur Party unterwegs ist. Wahrscheinlich so ähnlich wie wenn man Rolltreppe fährt…
Es gab damals freundliche Bäckerinnen, es gab derer missmutige. Es gab eine mutige Entscheidung die städtischen Wohnungen nicht im Ganzen zu verkaufen, und das macht sich heute bezahlt. Und tatsächlich erinnere ich mich an ein besonders unfreundliches Gespräch mit dem Busfahrer, weil ich ein Ticket kaufen wollte. 2008.

Gegen rücksichtslose Leute vor der eigenen Wohnung (egal ob am Kanal, oder auch dem Südplatz), hilft meiner Erfahrung übrigens eine Wasserspritzpistole.
Und der Uniriese hieß, und hier kann ich mich irren, merkwürdigerweise schon früher “City-Hochhaus”. Von manchen Leuten wird das “Panorama-Tower” vom Restaurant auf den Turm als Gebäude übertragen, das tut dann bisschen weh, weil es dort wirklich nur Marketing ist. Auf den Plänen die ich hier habe wie gesagt “City-Hochhaus”, im Buch “Leipzig in Farbe” wird es “Uni-Hochhaus” genannt.

Herr Julke, was meinen Sie denn konkret mit “großkotzig” in Ihren Artikeln, wenn Sie die Stadt so bezeichnen?

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