Die DDR ist mittlerweile so sehr Geschichte, dass die Jüngeren gar nicht mehr wissen, was das wirklich für ein Land war und wie es sich darin lebte. Oder eben nicht leben ließ, weil man als eigensinniger junger Mensch immerzu aneckte und sich eben nicht in Uniformen stecken lassen wollte. So wie der 19-jährige Harald Stutte, der nach seinem Abitur nichts wie rauswollte aus dem Gehege, wie er es nennt.

Heute ist der studierte Politikwissenschaftler und Historiker Redakteur, hat für mehrere große Zeitungen geschrieben und erzählt in seinem Buch seine ganz persönliche Leipziger Geschichte. Denn hier ist er aufgewachsen, erst in Marienbrunn, dann in Lößnig. So wie viele junge Leute aus der Babyboomer-Generation, wie sie heute genannt wird, wo die großen Planer und Lenker entsetzt feststellen, dass diese Generation bald in Rente geht und danach die ausgedünnten Jahrgänge beginnen.

Die Planer und Lenker sind nie ausgestorben. Sie drängeln sich immer wieder an die Schalthebel, weil sie in ihrer Einfalt nicht begreifen, wie komplex eine Gesellschaft Ost ist und dass Freiheit und Eigensinn Grundeigenschaften der Menschen sind, die man nicht einfach abschneiden, unterdrücken oder glattbügeln kann.

Und da Stutte als Journalist weiß, wie man spannend und flüssig erzählt, schafft er es, hier eine Lebensgeschichte aus der scheinbar schon in Bevormundung erstarrten DDR zu schreiben, in der sichtbar wird, wie jugendliche Rebellion beginnt. Und warum sie so notwendig ist, wenn ein Land jung bleiben und sich erneuern will. Und vor allem das Vertrauen der jungen Leute behalten möchte, von denen die alten Griesgrame so gern behaupten, sie seien ihre Zukunft.

Grenzen im Kopf

Aber wer dann mal die Vorstellungen der alten Verknöcherten von Zukunft hinterfragte, merkte schnell, wie ihm das Misstrauen entgegenschlug. Wer Fragen stellte, erntete den Verdacht. Wurde schräg angeschaut und riskierte den Verlust dessen, was die Mächtigen damals so gern Privilegien nannten. Dass der Vater als parteiloser Bauingenieur den falschen Beruf hatte, bekam Stutte bald zu spüren. Als Intelligenzler-Kind konnte er noch so gute Leistungen bringen – die Delegierung auf die EOS konnte er sich abschminken. Es sei denn, er hätte sich gleich bereit erklärt, Berufsoffizier zu werden.

Ihm blieb nur der Umweg über eine Berufsausbildung mit Abitur. Sodass er dann auch die schäbigen Zustände in einem Leipziger Galvanisier-Betrieb kennenlernte.

Das Verblüffende ist ja eigentlich, dass die Funktionäre in der DDR nicht mal zu begreifen schienen, wie sie ausgerechnet die vor den Kopf stießen, entmündigten und drangsalierten, die den Laden eigentlich hätten übernehmen sollen. Wobei augenscheinlich keine rder alten Funktionäre überhaupt je daran gedacht hat, wie das einmal weitergehen sollte mit „ihrem“ Land. Denn 1989 machte ja offenkundig, dass da niemand mehr war.

Dass nicht mal die „Kampfreserve“ der Partei, die Jugendorganisation FDJ, bereitstand, irgendetwas an diesem Staat zu retten, der jede Kritik, jeden Zweifel an den erstarrten Verhältnissen kriminalisierte. Und gleichzeitig der Sehnsucht der jungen Menschen nach der großen freien Welt nichts entgegegenzusetzen hatte.

Pa, das unbekannte Wesen

Und diese Sehnsucht war auch bei Harald Stutte da, eng verbunden mit der Musik, die aus dem Radio oder dem Fernseher herüberschwappte in das verschlossene Ländchen, in dem Grenzen allgegenwärtig waren. Nicht nur die Mauer in Berlin. Wer einen wachen Geist hatte und voller Neugier war, sah diese Grenzen überall. Und eckte an. Auch dann, wenn er wie Harald Stutte und seine Freunde gelernt hatte, dass man in der Öffentlichkeit lieber die Klappe hielt und schon gar nicht durchblicken ließ, dass man Westsender hörte.

Wobei ihm auf seiner jugendlichen Reise durch dieses Leipzig der 1970er Jahre mit den quietschenden Straßenbahnen, den Kohleheizungen und den Schlangen vorm Plattenladen auch Menschen begegneten, die ihr Herz und ihren Verstand eben nicht an der Garderobe abgegeben haben. Auch Lehrer an der Berufsschule, die die aufmüpfige Truppe um Stutte schützten, wenn wieder mal jemand deren unangepasste Aktionen denunziert hatte.

Aber auch Eltern spielen eine Rolle in so einem Leben. Nicht ganz grundlos hat Stutte sein Buch „Pa, dem unbekannten Wesen“ gewidmet. Denn sein Vater starb schon jung, 1981, an einem Schlaganfall. Viel zu früh, als dass der Sohn mit seinem Vater tatsächlich über das Leben hätte reden können. Nur im Nachhinein wird ihm der früh Verstorbene nah sein. Und auch deutlich, wie wenig der Vater eigentlich über sich erzählt hat. Auch das sehr typisch – vielleicht nicht mal nur für die DDR. Das wird wohl westwärts nicht anders gewesen sein und ist oft bis heute so. Väter lassen ihre Söhne ratlos ins Leben gehen, weil sie nie gelernt haben, von ihren eigenen Gefühlen zu reden.

Nur dass in Stuttes Familie trotzdem ein Geist der Unabhängigkeit geherrscht haben muss, Toleranz sowieso. Auch was Stuttes zum Teil sehr ungewöhnliche Lektüre betrifft, die er verschlang, als ihn das Lesefieber packte. Mächtige Männer mit ihren einfältigen Blicken auf das gemeine Volk unterschätzen meist, was diesem Volke eigentlich zumutbar ist. Es könnte ja kritische Fragen aufwerfen und Lehrer in Bedrängnis bringen, die die trockenen Formeln aus dem Schulbuch vermitteln sollen.

Dann der Fluchtversuch

Aber spätestens, als die kriegerischen Zumutungen auf den jungen Mann hereinprasseln, ist für ihn Sense mit diesem Land. Das GST-Lager kann er zwar nicht vermeiden. Doch den dumpfen Drill in der NVA will er nicht mehr erleben und macht sich mit zwei Freunden auf den Weg, um irgendwie in den Westen zu kommen. Einer versucht es über die ungarische Grenze nach Jugoslawien und schafft es auch. Mit einem Kumpel versucht es Stutte in Bulgarien und scheitert schon bei dem Versuch, einen Fischer zu bestechen, sie beide übers Schwarze Meer in die Türkei zu bringen.

Was folgt, sind die nur zu gut bekannten Aufenthalte erst in bulgarischen Gefängnissen, dann in den wechselnden Haftanstalten der DDR, wo „Politische“ eingesperrt und verhört wurden. Und am Ende reicht auch für ihn schon der Versuch, die Grenze zu überwinden, um zu 22 Monaten Haft verurteilt zu werden. Auch wenn er da schon weiß, dass auch diese Haft letztlich in einen Kuhhandel mündet. Denn dass die DDR ihre „politischen“ Häftlinge in den Westen verkaufte, hatte sich längst herumgesprochen. Auch dass sich in Karl-Marx-Stadt (heute Chemnitz) die Haftanstalt befand, aus der sich die Busse mit den „Freigekauften“ Richtung Hessen in Bewegung setzten.

Dass da selbst die ewigen Verhöre durch MfS-Mitarbeiter nur Farce waren, muss ihm schon früh klar geworden sein.

Mit der Fahrt in den Westen und einem unerwartet kurzentschlossenen Ausflug nach Frankreich beendet Stutte seine Geschichte, die ja letztlich von der tief sitzenden Sehnsucht nach Freiheit erzählt. Welche ja sogar Filme und Rocksongs der DDR erzählten, die Stutte erst ganz zuletzt im Knast kennenlernt, denn vorher hat ihn das nicht interessiert, war er – wie Millionen andere Jugendliche auch – ganz auf die immer neuen Wellen der Musik aus dem Westen fixiert.

Anpassen oder ausbrechen

Ein Lied freilich berührte ihn schon vor seiner Flucht: Bettina Wegners „Kinder“, zu dem er schreibt: „Unsere Seelen waren beschädigt, doch unsere Ohren waren eben nicht taub, unsere Münder waren nicht stumm, unser Rückgrat war noch nicht gebeugt, dazu sollte es nicht kommen. Noch waren wir wach und hatten rechtzeitig bemerkt, wie sie uns beugen, verstummen, taub lassen werden wollten.“

Später schreibt er über „sie“ nur noch in Versalien: SIE. Ganz so, als hätten sich die Funktionäre längst in eine anonyme, graue Blase verwandelt, die mit dem Leben in den Niederungen des Landes nichts mehr zu tun hatte, es nur noch beherrschte und mit Parolen feiern ließ, während die jungen Menschen ganz unten am besten schnell lernten, nur noch die Klappe zu halten und die kafkaesken Bedingungen zu akzeptieren. Was dann zwangsläufig die Wahl mit sich brachte: anpassen, dulden und so langsam jedes Selbstbewusstsein verlieren. Oder ausbrechen. Wobei Stutte auch die frühen Gruppen der Leipziger Friedensbewegung kennenlernt, die später zur Keimzelle der Friedlichen Revolution werden sollten.

Dass dieses Land sich aber auch nicht mit seiner eigenen Geschichte konfrontierte, wird ihm endgültig bei einem Besuch im Vernichtungslager Auschwitz klar. Die allmächtige Partei hatte zwar den offiziellen Antifaschismus deklariert – doch wirklich auseinandersetzen mit den antisemitischen und rassistischen Stereotypen, die in der Bevölkerung munter fortlebten, wollte man nicht. Da hätte man ja zugeben müssen, dass das Land nicht wirklich das war, als was in den Parteitagsreden gepriesen wurde.

Das Selbstverständlichste

Dass dieses Verschweigen und Vertuschen Folgen haben würde, auch in die Zeit nach dem Ende der DDR, kann der Autor dann ja nur noch feststellen. Dem es aber zentral – so verrät es ja auch der Buchtitel – um ein ganz besonderes Moment geht in dieser Erzählung seines Lebens: Wie sehr es der simple Wunsch nach Grenzüberschreitungen ist, der Menschen dazu bringt, im Leben etwas zu wagen. Dass es problemlos möglich sein sollte, aus Westdeutschland einfach so – ohne jede Grenzkontrolle – nach Frankreich fahren zu können, einem der Sehnsuchtsländer der jungen Ostdeutschen, das kann er einfach nicht fassen.

Und merkt nun natürlich auch, wie sehr er das eingemauerte Denken und die allgegenwärtigen Grenzen in der DDR verinnerlicht hatte. Für das Selbstverständlichste brauchte man Genehmigungen und Passierscheine im Gehege. Und wie pervers der durch die Stasi organisierte Menschenhandel war, erzählt Stutte ja ausführlich genug.

„Wir wünschten uns Flügel, um dieser Tristesse zu entfliehen“, schreibt er im Kapitel „Nichts wie weg“. „Es waren ja nur ein paar Meter.“ In diesem Fall zu einem Konzert von Barclay James Harvest in Westberlin, das von fern auch über die Berliner Mauer zu hören ist. Was im Grunde die Sehnsucht so vieler junger Ostdeutscher auf den Punkt bringt, in der sie aufwuchsen: Mit dem Echo dessen, was jenseits der Mauer alles immerfort passierte, während diesseits alles erstarrt schien, durchreglementiert und in starre Grenzen gefügt, die man nicht überschreiten durfte, wenn man sich bei den sturen alten Männern und ihren grauen Uniformierten nicht unbeliebt machen wollte.

So gesehen: Ein Buch über das ungebändigte Leben, das gegen Tristesse und Erstarrung immer wieder aufbegehrt und revoltiert. Und am Ende sogar das größte Risiko eingeht, nur um wegzukommen und ein Stück der Sehnsucht zu leben, die man in sich spürt, wenn man jung ist und eine erste Ahnung davon hat, was das Leben eigentlich sein könnte.

Harald Stutte „Wir wünschten uns Flügel“, Rowohlt Taschenbuch, Hamburg 2023, 18 Euro.

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