Es gibt eine ganze Reihe Bücher zu dem, was man so landläufig Friedliche Revolution, "Wende", Herbst '89 nennt. Viele sehr euphorisch, manche geradezu besoffen, andere ein wenig wehmütig oder nachdenklich. Das Ereignis gerinnt langsam zu einem historischen Markstein. Aber wo waren 1989 die Historiker? - Einer war mittendrin: Hartmut Zwahr, Professor an der Uni Leipzig.

Die damals noch Karl-Marx-Universität hieß, aber strategisch günstig lag: Hartmut Zwahr brauchte montags nach der Vorlesung nur auf den Augustusplatz hinauszugehen und war schon mittendrin im Gewühl. Und damit war er einer der Wenigen aus dieser linientreuen Universität, die das taten. Doch anders als so mancher Kollege begriff er Geschichte nicht als ein Wühlen in alten Akten und Archiven. Was auch an seiner Spezialisierung liegt: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte waren die Gebiete, die er von 1992 bis 2001 an der Universität unterrichtete. Und Sozialgeschichte ist immer das, was vor unseren Augen passiert. Aber was tut ein Historiker, wenn ein geschichtlicher Umbruch direkt vor seinem Bürofenster geschieht?

Zwahr hängte sich die Tasche mit seinen Vorlesungsunterlagen um, drängelte sich noch schnell einmal in den Papierladen, um sich Arbeitshefte, Kuliminen und Tintenpatronen zu kaufen, und dann marschierte er mit und schrieb mit und notierte sich, was er schaffte, sich zu notieren. Und er setzte sich frühzeitig hin, um auch die Ereignisse vor dem 9. Oktober noch einmal so genau wie möglich zu rekonstruieren. Auch sie hatten ja vor seinen Augen stattgefunden. Doch damals gab es noch keine Medien, die die Ereignisse für voll nahmen und entsprechend begleiteten und dokumentierten. Dieses Kapitel lassen auch die meisten Monografien über den Herbst ’89 weg. Auch weil den meisten Nach-Erzählern gar nicht bewusst ist, dass alle wichtigen Weichenstellungen schon vor dem 9. Oktober passiert sind.Die Ereignisse in Ungarn und Prag werden immer wieder kolportiert. Aber meist sind es nur die Akteure direkt aus der Nikolaikirche, die auch wissen, wie der Protest schon im September immer stärker wurde, wie die Friedensgebete sich füllten und schon am 25. September so viele Menschen um die Nikolaikirche versammelt waren, dass der Aufbruch auf den Ring fast zwangsläufig war. 6.000 bis 8.000 waren es, die spontan auf den Ring liefen. Die entscheidende Woche aber war die ab dem 2. Oktober. An diesem Tag waren es schon 10.000 bis 20.000, die trotz des verstärkten Aufgebots von Polizei und Stasi den Gang auf den Ring wagten. Und die SED-Führung in Berlin mehr als nervös machten. Denn eben erst war die Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge gewährt worden. Doch am 3. Oktober machte die DDR-Führung den nächsten Fehler: Sie schloss die Grenzen zur CSSR und verstärkte das lähmende Gefühl im Land, dass jetzt keiner mehr raus käme. Jetzt waren alle Schotten dicht.

Ein Gefühl, das in dieser Woche besonders in Dresden hochkochte, nachdem die Züge mit den Prager Flüchtlingen durchgefahren waren. Tagelang herrschten bürgerkriegsähnliche Zustände und die Staatsmacht versuchte mit Gewalt, die Proteste niederzuknüppeln. Eine Kraftprobe, die sogar das Politbüro zerriss, was gern vergessen wird. Zwahr erzählt es, weil es dazu gehört, dass die kleine, nicht sehr wagemutige Krenz-Truppe in dieser Woche dennoch die ersten Pläne schmiedete, Honecker zu stürzen.

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Was auch in den meisten Büchern zum Herbst 1989 weggelassen wird, ist die Analyse des Staatsapparates, mit dem die Demonstranten konfrontiert waren. Zwahr liefert auch das, zeigt, wie der doppelsträngige Machtapparat Honeckers funktionierte mit der Stasi immer als zweitem Sicherungsstrang, der auch die Partei- und Staatsapparate kontrollierte. Was sehr viel mit den frühen stalinistischen Säuberungen im SED-Apparat zu tun hat, bei denen – ganz nach dem Vorbild Stalins – vor allem die innerparteiliche Opposition beseitigt wurde. Zwahr spricht hier von den Lieblingsopfern der Partei, die im Lauf der Zeit auch das unsägliche Instrument des “demokratischen Zentralismus” entwickelte, um jede Gruppenbildung und Abweichung in den Parteireihen zu unterbinden.

Das war ein ganz wesentlicher Teil jener Selbstzerstörung, die Zwahr beschreibt, und die die Bewohner des Landes als Zerstörung ihrer Umwelt, ihrer Städte, ihrer Gesellschaft, aber auch mit dem Raubbau an ihrer Wirtschaft erlebten.

Als dann auch noch die friedlichen Proteste in Berlin und Leipzig am 7. Oktober, dem Tag der Republik, genutzt wurden, um mit aller polizeilichen Gewalt gegen die Demonstranten vorzugehen, war das Maß überschritten. Auch wenn die SED noch einmal alle Register zog, um mögliche Demonstrierwillige abzuschrecken. Gerüchte wurden gestreut und am 9. Oktober stand die Leipziger Innenstadt voller Polizei- und Kampfgruppenfahrzeuge. Die drohende Explosion war unübersehbar. Und es war eigentlich nur die Frage: Würde sich der “Staatsterror” des 7. und 8. Oktober auch an diesem 9. Oktober fortsetzen? Eine Frage, die selbst die Leipziger SED-Spitze verängstigte. Man hatte zwar alles aufgefahren, was an Polizei und Kampfgruppen verfügbar war (auch wenn etliche Kampfgruppeneinheiten nur zur Hälfte einrückten), aber die Verantwortung wollte keiner wirklich übernehmen.Der oberste Bezirksparteichef Horst Schumann war krank, sein Stellvertreter Helmut Hackenberg wollte selbst nicht entscheiden und wartete auf klare Anweisungen aus Berlin. Dafür waren drei andere Mitglieder der SED-Bezirksleitung so besorgt, dass es in Leipzig zum Bürgerkrieg kommen könnte, dass sie die Anregung des Kabarettisten Bernd-Lutz Lange annahmen, mit Kurt Masur und dem Theologen Dr. Peter Zimmermann einen Aufruf zur Besonnenheit zu verfassen, jenes berühmte Manifest der Sechs, das dann in Kirchen und im Stadtfunk verlesen wurde und wesentlich dazu beitrug, dass der 9. Oktober friedlich blieb, an dem geschätzte 80.000 bis 100.000 Menschen um den Ring zogen. Am wirksamsten war dieser Aufruf, so Zwahr, wohl bei den bereitgestellten Einsatzgruppen.

Und für die SED-Männer Pommert, Meyer und Wötzel war es im Grunde eine Rebellion. Sie verstießen damit offiziell gegen die von Honecker angewiesene Parteilinie. Aber sie waren nicht die einzigen, die aus diesem stur auf Konfrontation gerichteten Selbstzerstörungskurs ausscherten. Im Grunde tat das an diesem Tag auch Egon Krenz, der an diesem Tag die zentrale Einsatzleitung inne hatte, aber auf Hackenbergs Anruf stundenlang nicht zurückrief. Und da auch Hackenberg nicht in die Rolle des Kartätschenkönigs schlüpfen wollte, entschied an seiner Stelle kurzerhand der Leipziger Polizeichef Gerhard Straßenburg und befand, dass ihm die Gesundheit seiner Leute zu wichtig war und sie nicht zum Einsatz kamen.

All diese Vorgänge kann man mit verschiedensten Verschwörungs- und Seilschaftstheorien hinterlegen. Aber Zwahr kommt der Sache wohl am nächsten, wenn er den Staatsapparat in seiner Erstarrung und Erodierung schildert und auch die wichtigste Grundlage dieser 40 Jahre dauernden SED-Herrschaft benennt: die Akzeptanz durch die so genannte Arbeiterklasse. Doch schon bei den Massenfluchten über Ungarn waren es vor allem Arbeiter, die diesem Arbeiterstaat, in dem die Bürokraten regierten, davonliefen. Und der Herbst 1989 zeigte mit jeder Woche immer deutlicher, dass der herrschenden “Arbeiterpartei” vor allem die Arbeiter den Rücken kehrten.

Sie waren es auch, die jetzt Montag für Montag die Themen setzten und die Entwicklung vorantrieben. Zwahr hat das alles emsig und als Augenzeuge aufgeschrieben. Sein Buch ist Tagebuch und Analyse zugleich. Selbst am 4. Dezember, als die Stasi-Zentrale in der Runden Ecke vom Bürgerkomitee übernommen wurde, stand er in der Menge auf dem Dittrichring und notierte sich Eindrücke, Sprechgesänge, Losungen.

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Ende einer Selbstzerstörung
Hartmut Zwahr, Sax-Verlag 2014, 14,80 Euro

Das Jahr 1990 kommt dann etwas kürzer. Aber auch hier zeigt sich Zwahr als Historiker, der die Ereignisse nicht losgelöst betrachtet von der Entwicklung auf der Straße, in den Verwaltungen, im Berliner Staatsapparat. Deutlicher als andere beschreibt er die “Wende in der ‘Wende'”, die für alle sichtbar nach dem 9. November einsetzte, als auf einmal “Deutschland, einig Vaterland” als oberster Punkt auf der Tagesordnung stand und fortan den Gang der Ereignisse nicht nur bestimmte, sondern noch mehr beschleunigte.

Sein Buch hat Zwahr schon 1993 veröffentlicht. Damals im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. Es ist schon seit langem vergriffen. Jetzt hat es der Sax Verlag übernommen und damit im 25. Jahr der Friedlichen Revolution quasi nach Hause geholt. Lesestoff auch für all jene, die den Herbst ’89 gern verklären und vergessen, dass alles mit der Erodierung eines Staatsapparates begann, der sich für unersetzlich hielt.

www.sax-verlag.de

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