Mancher hat ihn erst nach 1990 erlebt, als er wieder mit Renft auf Tour ging. Und so bringt man Gerulf Pannach (1948-1998) auch nur zu gern mit Renft in Verbindung. Und das auch über die Texte einiger Lieder, die Renft im Repertoire hatte. Dabei hat sich der größte Teil von Gerulf Pannachs Musikerleben im Westen abgespielt, nachdem er 1977 aus der Haft entlassen und gemeinsam mit Christian „Kuno“ Kunert nach Westberlin ausgebürgert worden war.

Dort traten sie immer wieder gemeinsam auf, produzierten gemeinsame Platten, schrieben Songs für Musicals. Und sie veränderten sich. Denn mit den Liedern, mit denen sie einst die Verhältnisse in der DDR besungen hatten, konnten sie zwar in den ersten Jahren nach der Ausbürgerung einige Tourneen bestreiten und auch mit Wolf Biermann und Jürgen Fuchs auf der Bühne stehen. Aber man wird im fremden Land nicht heimisch, wenn man aus der Widerstands-Rolle nicht herausfindet.

Wenig euphorische Erstbegegnung

Kuno Kunert hat die zwischengeschalteten Texte geschrieben, mit denen er Gerulfs Karriere beschreibt und ihre gemeinsame Zeit in Westberlin, teils schnippische, ein wenig ironische Texte. Texte, die auch verraten, warum die beiden zueinander fanden, obwohl Kuno Kunert die erste Begegnung mit Pannach nicht so berauschend fand. Denn natürlich fiel Pannach auf, der – anders als die anderen Mitglieder der Gruppe Renft – nicht aus der Rockszene kam, sondern aus der FDJ-Singebewegung.

Die ja bekanntlich entstanden war, um in der DDR ein Pendant zu den großen Singer-Songwritern aus Übersee zu schaffen und die Jugend mit forschen Songs für die Sache des Sozialismus zu begeistern. Und so lesen sich auch die ersten Texte, die man in diesem Buch findet, dessen Vorgänger 1999 bei Schwarzkopf & Schwarzkopf erschien.

Der ist längst vergriffen. Höchste Zeit also – nicht nur für eine Neuauflage, sondern für eine komplettierte Ausgabe, in der auch all die Texte Platz finden, die seither in unterschiedlichen Quellen aufgefunden wurden. Sodass man jetzt praktisch eine komplette Textausgabe von Gerulf Pannach bekommt, die ihn in all seiner Vielseitigkeit zeigen.

Sag mir, wo du stehst

Denn seine Texte trug er nicht nur im Duo mit Kunert vor. Die sangen Renft und Peter „Cäsar“ Gläser. Die Puhdys nahmen seine Texte genauso mit ins Programm wie Veronika Fischer. Neben Kurt Demmler war er wohl der produktivste Liedermacher des Ostens. Und dabei fing alles so klein an – in der Kleinstadt Schkeuditz, aus der ihn alles wegtrieb.

„Wenn du groß wirst in der Kleinstadt“ ist einer der ersten Texte im Band, ein Text, den wahrscheinlich auch tausende andere jungen Leute heute noch genauso verstehen. Denn für vieles sind Kleinstädte einfach zu klein. Man sucht ja geradezu verzweifelt nach Leuten, die in so einer Kleinstadt groß und später berühmt wurden. Aber berühmt wurden sie anderswo.

Auch wenn ihr Weg ins Leben Ecken und Kanten hat und auf den ersten Blick verblüfft, wenn man den jungen Panach tatsächlich nicht nur mit Klampfe im Singeclub auftreten sieht, sondern auch seine Texte liest, die durchaus in die Welt der Singeclub-Bewegung passen. Frech hat ja Salli Sallmann dafür die Kapitelüberschrift „Sag mir, wo du stehst“ gewählt. Die natürlich auch ins Schwarze trifft, denn die üblichen Friedensgesänge waren diesem Burschen aus Schkeuditz schon bald über.

Er stellt Fragen, die anfangs wie jene rhetorischen Fragen klangen, mit denen die Singebewegung so etwas wie Aufrichtigkeit, Neugier und Aufgeschlossenheit demonstrierte, so eine in blaue Blusen gekleidete Flippigkeit, der man fast geneigt hätte sein können, sie als forsche Herausforderung an eine Gesellschaft zu verstehen, die längst dabei war zu vergreisen, zu ergrauen und alles zuzubetonieren.

Unverhofft tauchen dann Texte auf, mit denen Pannach die Schönredner, Phrasendrescher und Scheinheiligen aufs Korn nimmt. Es überrascht nicht, dass er früh schon Kontakt zu Wolf Biermann aufnahm, der – als überzeugter Kommunist – diese Scheinheiligkeit genauso im Lied hinterfragte. Womit man dann nicht nur die Kulturbosse aus ihrem Schlaf schreckte, sondern auch die berühmten Sicherheitsorgane, für die Leute wie Pannach sehr schnell zum Fall wurden. Manche Texte Pannachs haben deshalb auch nur in Akten der DDR-Staatssicherheit überlebt.

Unbequem woll’n wir sein

Aber in seinen Liedern über den FDJ-Sekretär, den „Vertrauensmann“, den „Kollegen“ wird deutlich, dass Pannach zu jenen gehörte, die nicht bereit waren, diesen Verstellungszirkus mitzumachen, die Ungerechtigkeiten in der Welt anzuprangern, aber im eigenen Land wegzugucken und so zu tun, als wäre alles in Ordnung. Muss man jung sein, um derart konsequent zu sein? Nicht unbedingt.

Aber man sollte sich im Leben durchaus immer wieder die Frage stellen, ob man sein eigenes Leben lebt. Oder nur das, was andere von einem erwarten. Das Publikum verstand sehr wohl, wenn er Lieder sang wie „Dein Weg bleibt dein Weg“ oder „Ketten werden knapper“, „Unbequem woll’n wir sein“ oder „Der Apfeltraum“. Lieder, die thematisch durchaus auch an Songs damals bekannter DDR-Bands erinnern, in denen sich Trotz und Selbstbehauptung mit Trauer und Melancholie vermischten.

Denn wenn man das Leben, das man eigentlich leben will, nicht leben kann, dann dominiert irgendwann die Trauer. Mancher verdrängt sie. Mancher kann das nicht. Und begehrt auf, fordert ein, was das Land und seine verknöcherte Partei in großen Reden immer versprechen. So wie eben auch Pannach, der immer wieder mit Auftrittsverbot belegt wurde. Das aber konnte er mithilfe von Renft kurzzeitig unterlaufen.

1976 wurden Pannach und Kunert mitten auf dem Alexanderplatz verhaftet, landeten im Gefängnis und wurden 1977 nach Westberlin abgeschoben. Auch deshalb ist dieses Buch wichtig, weil es zeigt, dass die Biermann-Affäre eben nicht nur eine Affäre um den ausgebürgerten Wolf Biermann war, sondern ein gewaltiger Aderlass, der gerade die mutigsten und kritischsten Musiker und Autoren in den Westen trieb und damit trotzdem eine Machtdemonstration des SED-Staates war.

Andererseits auch eine Geste der Hilflosigkeit und ein Eingeständnis, dass man Kritik weder aushielt noch duldete. Wer an der Potjemkinschen Fassade kratzte, bekam es mit der Staatsmacht zu tun.

Der Hunger nach dem ganzen Leben

Und auch wenn es dann nach dem friedlichen Herbst 1989 endlich wieder Biermann-Konzerte im Osten gab und auch Pannach und Kunert wieder zu Renft stießen, war das kein Anknüpfen an das Jahr 1977. Das wird auch in diesem Band deutlich, denn weder Pannach noch Kunert wollten die alten Rebellensongs wieder auspacken.

Das hätte auch nicht mehr funktioniert. Die alten „Vertrauensmänner“ waren entmachtet, die DDR verwandelte sich schneller, als einer am Knopf drehen konnte, in ein Museumsstück. Die neuen Regionalsender schwelgten in Ostalgie.

Aber wer die Konzerte von Renft besuchte, merkte, dass da immer auch etwas anderes gewesen war, etwas, was auch in den 1970er Jahren funktionierte und auch in den Liedern anderer Bands anklang. Und auch in Pannachs Texten steckt es: der unbändige Hunger nach Leben, nach dem richtigen Leben.

Nicht diesem verquasten Phrasengerede vom „richtigen Leben im falschen“. Ein rebellisches Moment, das in den 1990er Jahren so mitreißend wirkte wie auch heute noch. Und dieses Moment findet man auch in Pannachs Songtexten aus den 1980er Jahren, als er sich, genauso wie Kuno Kunert, im Westen neu orientieren musste und sich natürlich die Frage stellte, was denn jetzt eigentlich Inhalt der neuen Lieder sein müsste.

Und siehe da: Es ging auch da ums elementare Leben, die Ehrlichkeit zu sich selbst und zu Freunden und Frauen. Um das Sich-nicht-Verkaufen. Immer wissend darum, dass man mit dieser Sturheit, sich nicht verbiegen zu lassen und sich nicht zu verkaufen, auch im Westen auf keinen grünen Zweig kommt, sondern eher immer wieder in die Verlegenheit, sich als Schneeschipper bei der Stadtreinigung zu verdingen.

Leben ist immer politisch

Da werden dann die Lieder scheinbar im Lauf der Jahre immer unpolitischer, als hätte sich Pannach ganz und gar ins Private zurückgezogen. Aber selbst in den Songs für das Musical „Das Totenschiff“ nach B. Traven wird deutlich, dass ein Leben gar nicht unpolitisch ist.

Dass man immer mittendrin steckt in einer Welt, in der Liebe nicht käuflich ist, Stolz und Ehrlichkeit ins Verderben führen können, und trotzdem die einzige Hoffnung ist, dass einer mutig zu sich und seinen Gefühlen steht. Im Kleinen zeigt sich, ob einer es wirklich ehrlich meint mit sich – oder ob er seine Ideale verramscht für ein Handgeld.

Wobei die Lieder aus dieser Zeit auch davon erzählen, mit welcher Wucht Pannach sein Leben annahm – mit der Wucht, mit der er auch sang. Es sind schwarze Lieder, deftige Lieder, heftige Lieder. Viele sind dann später ins Renft-Programm gewandert, als auch das Ostpublikum langsam merkte, dass es bei der deutschen Einheit nicht um Bananen ging, sondern ums blanke Leben, um Geld und Verlust und die Tatsache, dass man bei allem im Leben heftig auf die Nase fliegen konnte.

Und dass auf einmal keiner mehr da war, den man dafür verantwortlich machen konnte (auch wenn sich heute einige alte Narren wieder so etwas denken). Dass es das, was wirklich wichtig ist im Leben, nur gibt, wenn man sich selbst riskiert. So wie 1985 im Ken-Loach-Film „Fatherland“, in dem Pannach die Hauptrolle spielte, oder wie auf seiner Abschieds-Solo-CD „Yorck 17“ von 1996, dem Jahr, in dem seine Krebserkrankung bekannt wurde. Im Mai 1998 ist er ja, noch nicht einmal 50 Jahre alt, gestorben.

Wenig später erschien erstmals seine Textsammlung und machte den Vielseitigen einem größeren Publikum mit den Texten seit den frühen 1970er Jahren bekannt.

Keine bunte Soße mit falschen Gefühlen

„Irgendwann will jeder mal raus aus seiner Haut“, heißt es im Lied „Als ich ein Vogel war“, das 1973 sogar im DEFA-Film „Für die Liebe noch zu mager“ zu hören war. Und es beschreibt wohl am besten diesen Moment, den man als junger Mensch mindestens einmal verspürt, als älterer Mensch wohl eher dann, wenn man wieder mal merkt, dass man im falschen Kostüm im falschen Film unterwegs ist und irgendwelchen wildfremden Erwartungen zu genügen versucht.

Nur die eigenen Erwartungen kann man nicht erfüllen, weil man in der falschen Haut steckt, falsch abgebogen ist, den falschen Heiligenschein aufgesetzt hat.

Da, wo es ums elementare Leben geht, sind sich alle Gesellschaften gleich, egal, wie sie angemalt sind. Und es sind eben nicht „die da oben“ schuld, wenn man sein eigenes Leben nicht lebt. So betrachtet, ist das ganze Rumgemaule der Kreuz- und Querdenker eben leider auch eine Folge des nicht gelebten Lebens im Osten. Was eigentlich schon im Februar 1990 mit diesen jämmerlichen „Helmut, Helmut“-Rufen begann, die bis heut peinlich wirken. Da riefen Untertanen nach ihrem neuen Retter.

Ein Gerulf Pannach hätte nie in so einer Menge gestanden. Als Künstler, der sich nicht verkaufen will, weiß man, wie es sich lebt, wenn das Konto immer wieder blank ist, wenn man sich einen Job suchen muss, um bis zur nächsten CD durchzuhalten, wenn man nicht hitparadentauglich ist, weil man den Leuten nicht ihre bunte Soße mit falschen Gefühlen bieten möchte, sondern den ganzen ungebremste Schrei nach Leben und Liebe.

Da ist noch ein Traum

Und deshalb sind die Lieder von Gerulf Pannach noch immer aktuell. Eigentlich sogar Stoff für neue Sänger/-innen und Bands, die mit dem Anspruch auf die Bühne gehen, das Publikum tatsächlich bei den verschütteten Gefühlen zu packen, diesem Brodeln an Lebenslust, das man nicht stillen kann, wenn man sich in Konsumrausch versetzt. Denn dazu muss man leben, muss sich selbst riskieren.

Was Pannach sogar in scheinbar völlig harmlos klingenden Zeilen unterbringen konnte in all seiner Widersprüchlichkeit: „Wo ich nicht bin, will ich bleiben / Doch wo ich bleibe, da will ich nicht hin“, heißt es in „Da ist noch ein Traum“, ein Lied, das Veronika Fischer gesungen hat, eine Seelenverwandte. Man findet diese Seelenverwandtschaften, wenn man sucht. Was sie verbindet, ist diese Suche nach dem ehrlichen und ganzen und unverstellten Leben. Eine Suche, die nicht endet, wenn man die Bonzen in die Wüste schickt.

Oder die Koffer packt und weggeht, denn die DDR erlebte damals einen regelrechten Aderlass – von Nina Hagen über Vroni Fischer, Manne Krug bis zu Bettina Wegner und Sarah Kirsch.

Das hat etwas angerichtet mit dem Land, etwas sehr tiefgreifendes. Man spürt es, wenn man diese Liedtexte liest, die eben auch daran erinnern, dass das nicht abgegolten ist. Sondern als Herausforderung steht. Immer wieder und immer weiter. Daran müssen sich Länder messen lassen. Und Menschen sowieso. Auch am „Sonntag um drei“ oder „im blauen Mitternachtsbus“ („Mitternachtsblues“). Die, die vom Leben gebeutelt werden, sowieso.

Es geht immer ums Leben. Was die grauen Männchen sehr wohl wussten, die Pannach abholten und einbuchteten. Die „Ballade vom Traum“ landete dann auch in seiner Stasi-Akte. „Komm frühstücken, mein Herze / Sonst hol ich die VP.“

Salli Sallmann (Hg.) Als ich wie ein Vogel war. Gerulf Pannach: Die Texte, Lukas Verlag, Berlin 2021, 25 Euro.

Hinweis der Redaktion in eigener Sache

Seit der „Coronakrise“ haben wir unser Archiv für alle Leser geöffnet. Es gibt also seither auch für Nichtabonnenten alle Artikel der letzten Jahre auf L-IZ.de zu entdecken. Über die tagesaktuellen Berichte hinaus ganz ohne Paywall.

Unterstützen Sie lokalen/regionalen Journalismus und so unsere tägliche Arbeit vor Ort in Leipzig. Mit dem Abschluss eines Freikäufer-Abonnements (zur Abonnentenseite) sichern Sie den täglichen, frei verfügbaren Zugang zu wichtigen Informationen in Leipzig und unsere Arbeit für Sie.

Vielen Dank dafür.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar