Henner Kotte auf Abwegen, auf steilen Steigen und gefährlichen Pfaden. Man staunt. Für gewöhnlich ist der Leipziger Krimi-Autor auch brav auf Leipziger Straßen und Plätzen unterwegs. Nun hat es ihn in die Berge verschlagen, auf Almen, wo es ja bekanntlich "kei' Sünd" gibt. Und Mord und Totschlag doch wohl auch nicht. Oder? Alte Justizakten behaupten das Gegenteil.

Man muss nur den Mut haben, sich zur Recherche in alte Archive zu stürzen. Alte Zeitungsarchive zum Beispiel. Denn über spektakuläre Mordfälle haben auch im 19. Jahrhundert schon die heimischen Zeitungen ausführlich und mit Begeisterung berichtet. Da und dort vielleicht mit einem kleinen Bangen um den guten Ruf der Touristikregion, zu der sich Tirol gerade begann zu mausern. Aber ansonsten auch mit der medialen Faszination für das unfassbar Böse. Und das nimmt augenscheinlich keine Rücksicht auf Landschaft und Marketing.

Drei große Fälle hat Henner Kotte aus alten Tiroler Zeitungen und Akten zusammengetragen. Alle drei augenscheinlich auch Vorlagen oder Vorbilder für literarische Bearbeitungen und große Verfilmungen. Ein Feld, auf dem Henner Kotte ja auch zu Hause ist. Was er in der dritten Geschichte einmal ausführlich beweist, in dem er die Leser mitnimmt in allerlei mörderische Gasthäuser aus der Weltliteratur. Und ein Gasthaus spielt in dieser blutigen Geschichte aus dem Zillertal denn auch die Hauptrolle. Am Ende kommen auch die Zillertaler Schürzenjäger zu Wort, die zu Mord und Totschlag ein ganzes Lied beizusteuern haben. Man kann auch bei Wilhelm Hauff suchen und wird fündig. Doch was in der Literatur zumeist anheimelnd, ein bisschen gruselig und romantisch daherkommt, sieht in der Realität dann leider meistens sehr brutal, blutig und sinnlos aus. Auch die Justizakten des damaligen Österreich lesen sich genauso beklemmend und detailgenau wie die der Gegenwart. Tatorte werden beschrieben, blutige Beweisstücke aufgezählt und die Verletzungen der Getöteten beschrieben.

Und die damaligen Zeitungsschreiber hatten genauso wie die heutigen eine wahre Lust daran, Tathergänge zu schildern (nicht immer richtig), mutmaßliche Mörder zu porträtieren, Polizisten zu interviewen und Gerichtsprozesse zu begleiten. Im ersten Fall, dem Fall “Henry de Tourville”, war die Sensationslust der Leser sogar so groß, dass nicht nur die Anklageschrift als eigene Broschur veröffentlicht wurde, sondern auch der komplette Prozessbericht. Und die Leute kauften. Die Lust an der Sensation ist also kein heutiges Phänomen.
Und das Erstaunliche ist wohl, dass die Motive der Täter in der protokollierten Wirklichkeit sich tatsächlich nicht von dem unterscheiden, was seitdem Hunderte begabter Krimi-Autoren in immer neuen spannenden Geschichten aufgearbeitet haben. Die Motive sind so alt und so primitiv wie das Verbrechen. In den drei Fällen, die Kotte aus den Archiven geholt hat, geht es im Grunde jedes Mal um Habgier, auch wenn sich der soziale Status der Täter jedes Mal unterscheidet. Aber Status sagt ja nichts über die Männer, die sich auf kriminelle Weise bereichern wollen und dabei jedes Mal skrupellos vorgehen. Im Fall “Henry de Tourville” sogar so eiskalt, dass der Mann selbst noch nach dem Mord an seiner Angetrauten die Staffage des sorgenden Ehemannes aufrecht erhält.

Noch heute erinnert eine Gedenktafel an der Stilfzerjochstraße an den Mord an Madeline de Tourville.

Im zweiten Fall trifft das Verhängnis den Döbelner Arzt Dr. Victor Schieck, der zu einer großen Alpenwanderung aufbrach in jener Zeit, als Tirol gerade begann, sich zur touristischen “Destination” zu mausern. Ein Uhrmacher ist es, der als erster Alarm schlägt, nachdem er den Zeitungsaufruf von Victors Bruder in der Zeitung gelesen hat, der nach Hinweisen suchte auf den verschwundenen Alpenwanderer. Recht schnell geraten zwei Hirten von der Rasaßalpe in Verdacht und die Ermittler stoßen bei ihnen auch auf allerlei Dinge, die eindeutig dem verschwundenen Arzt aus Sachsen zuzuordnen sind. Am Ende wird auch der Leichnam des Verschwundenen gefunden und die Untersuchung nimmt ihren Lauf mit all den Seitengängen, die die Ausflüchte der Hauptverdächtigen mit sich bringen.

Der Leser bekommt also nicht nur, was er in einschlägigen Kriminalbüchern so bekommt – eine blutige Schilderung des Geschehens und die knifflige Arbeit der Ermittler, er bekommt auch das gesamte Zeitkolorit mit medialer Begleitmusik. Denn auch damals waren Journalisten ja eifrig bemüht, die Fälle genauso emsig zu klären wie die Untersuchungsrichter. Mit allem, was man heute auch kennt: (Vor-)verurteilungen, Mutmaßungen, Übertreibungen und reger Atemlosigkeit, wenn sich die Ermittlung zu lange hinzieht.

Im dritten Fall weiß man zwar auch recht schnell, wer die Mörder der Frauen im Wirtshaus in Stumm waren – immerhin konnte wenigstens ein sechsjähriges Mädchen dem Gemetzel entkommen – aber zu jedem Kriminalfall gehört natürlich auch die Vorgeschichte der Mörder, die zumeist auch schon eine Vorgeschichte der Vorstrafen ist. So auch in diesem Fall, den Kotte so vielfarbig in eine Reihe literarische und auch realer Gasthauskriminalfälle stellt.

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Hohe Morde
Henner Kotte, Mitteldeutscher Verlag 2014, 9,95 Euro

Der Leser hat am Ende einen recht genauen Einruck, wie ausgereift auch schon zwischen 1876 und 1890 die Ermittlungsarbeit von Gendarmerie und Justiz im südlichen Österreich war. Heute gehört das majestätische Fleckchen ja zu Italien – und die Touristen lassen sich auch von diesen alten Mordgeschichten natürlich nicht abhalten.

Kooperiert hat der Mitteldeutsche Verlag bei diesem Buch erstmals mit dem Kulturzeitschrift “Arunda” aus Schlanders. Und wer ein paar Fakten zu den schönen Landschaften sucht, in denen hier so tückisch gemordet wird, findet sie vor jedem Kapitel – und zwar im Ton der damaligen Reiseführer, als man noch zu Fuß auf die Gipfel steigen musste und die Täler tatsächlich noch wild und einsam waren und die Entfernungsangaben nicht in Straßenkilometern, sondern in Wegstunden vermerkt wurden.

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