Ein Wunder? Ganz bestimmt nicht. Auch wenn so mancher heutzutage gern mitschwimmt auf der Welle der deutschen Wunder: das Wunder von Bern, das Wunder von Lengede, das Wunder von Berlin und wie die ganze neuere Wunderei sonst noch so heißt. Bis hin zum Wunder der Friedlichen Revolution - das keines war. Schon gar kein kirchliches. Eigentlich ist es höchste Zeit, das komplette Buch der Opposition der DDR zu schreiben. Bislang gibt es nur Puzzle-Stücke. Das hier ist eins davon. Ein unübersehbares.

Zur Erinnerung: Der Protest gegen einen immer mehr in Dogmen erstarrenden Funktionsapparat begann im Grunde schon in den 1940er Jahren – man denke an die Studentenbewegung mit Namen wie Belter und Natonek, 1953 ist unübersehbar in allen Geschichtsbüchern, die Vorgänge um Leute wie Zwerenz, Loest und die Harich-Gruppe sind’s auch, in Leipzig machten die Beat-Proteste Geschichte, dann folgten die Proteste gegen die Biermann-Ausbürgerung und die beginnende Friedensbewegung Anfang der 1980er Jahre. Die tektonischen Schollenbewegungen, die 1989 zum Vulkanausbruch führten, waren längst zu spüren. Und gerade in Kreisen der Künstler und der Intelligenz rumorte es ab Ende der 1970er Jahre. Nicht alle stellten frustriert einen Ausreiseantrag. Viele sagten sich: nun grade. Auch die sechs Leipziger Künstler, die 1984 beschlossen: Wir machen jetzt unsere eigene Kunstausstellung, komme, was da wolle.

Sie hatten es schon vorher mehrfach versucht – zwei Versuche einer solchen unabhängigen Ausstellung hatten sie in Leipzig gestartet. Bei beiden zogen die staatlichen Behörden die Bremse, bevor es zur Umsetzung in der damaligen Leipzig-Information kam. Ähnlich ging es in Halle und Merseburg zu. In Merseburg war die Ausstellung schon gehängt, als das Verbot kam. Und das trotz des vehementen “Ich helfe euch!” von Willi Sitte, dem damaligen Vorsitzenden des Verbandes bildender Künstler der DDR (VbK). Hat er geholfen?

Die Akten, die Doris Liebermann einsehen konnte, belegen das Gegenteil. Sie hat sich noch einmal tief hineingekniet in das Material, das heute rund um den “1. Leipziger Herbstsalon” zugänglich ist. Sie ergänzt damit auch die persönlichen Erinnerungen der Künstler – wie das grimmige Buch “Die Umerziehung der Vögel” von Hans-Hendrik Grimmling, einem der sechs, die 1984 versuchten, auch den Leipziger VbK umzukrempeln, indem sie sich in Leitungsämter wählen ließen. Alles in der Hoffnung, das Land und die Verbandskultur könne man doch auch von innen heraus verändern. Eine Hoffnung, die trügen sollte, denn sie konnten weder die staatliche Bevormundung bei der Vergabe von Aufträgen, bei der Bestückung von Ausstellungen oder von Gewährung von Auslandsaufenthalten beseitigen – noch ein bisschen Transparenz in die Gewährung all dieser Vergünstigungen bringen.

Was auch den Zorn erklärt, mit dem nicht nur Grimmling auf diese Zeit zurücksieht. Die heute einsehbaren Dokumente belegen sehr genau, wie just die staatlich gefeierten Künstler, die auch im Künstlerverband das Sagen hatten, über Reiseprivilegien verfügten, von denen normale DDR-Bürger bis zum 9. November 1989 nur träumen konnten.

Und nach den Erfahrungen mit den beiden Vorläufer-Versuchen Tangente I und II hätten Hans-Hendrik Grimmling, Lutz Dammbeck, Frieder Heinze, Olaf Wegewitz, Günter Firit und Günther Huniat zumindest ahnen können, dass sie es nicht nur mit den Funktionären des eigenen Verbandes zu tun hatten, dass die Einsprüche und Verbote auch mit den SED-Chefetagen abgesprochen waren und auch noch eine andere Behörde mitmischte. Und so sind es auch die Akten der Staatssicherheit, die heute helfen, das Bild zu vervollständigen. Dort sind auch die Berichte der diversen IM erhalten, die die Leipziger Künstlerszene im Allgemeinen und die sechs Aufmüpfigen im Besonderen beobachteten. Darunter auch zwei namhafte Leipziger Kunsthistoriker.Doch eines war den Sechsen auch klar: Wenn sie ihre Ausstellung ordnungsgemäß beantragten, würden sie nie eine bekommen und nur immer wieder mit fadenscheinigen Argumenten hingehalten werden. Es war – so ja der Buchtitel – ein “Piratenstück”, einfach bei der Leipziger Messe eine Etage des Messehauses am Markt zu mieten, was Günther Huniat tat, indem er beim Antrag auch ein bisschen den Anschein erweckte, im Namen des VbK zu agieren. Das flog erst auf, als der Mietvertrag schon unterschrieben und die Etage bezogen war. Und hätten die Funktionäre bis hin nach Berlin nicht eine zunehmende Angst davor gehabt, mit einer zwangsweisen Räumung ähnliche Wogen zu schlagen wie 1976 mit der Biermann-Ausbürgerung, den Sechsen hätte alle Cleverness nichts genutzt. Doch sie zeigten mit ihrer Aktion auch, dass die Zwänge und Unterwürfigkeiten der Zeit keine betonierten Endgültigkeiten (mehr) waren. Auch wenn einige Funktionäre – auch aus dem Verband bildender Künstler – tobten und drohten und sich so richtig daneben benahmen.

Doch auch die Interpretation, es hier mit allmächtigen Mandatsinhabern zu tun zu haben, trügt. Tatsächlich machen selbst die überlieferten Briefe, Stellungnahmen und Protokolle die fast untertänige, auf Anpassung und vorauseilenden Gehorsam abgestimmte Atmosphäre auch im Künstlerverband sichtbar. Wer noch immer glaubt, der Stalinismus hätte die Seele der DDR nicht zerfressen, der darf die Dokumente durchaus auf sich wirken lasen, diesen ganzen in Papier geronnenen Geist derer, die versuchen, die Wünsche des Allmächtigen schon zu erfüllen, bevor der auch nur die Braue gerunzelt hat.

Und was die sechs Künstler so besonders macht, ist natürlich auch der Mut, sich davon überhaupt nicht beeindrucken zu lassen und einfach auszuprobieren, ob in einem Land, das die Schlussakte von Helsinki unterschrieben hat, nicht doch ein paar Freiräume zu erobern wären. Einfach so – mit einer kleinen Trickserei, in der Hoffnung, sie würde erst auffliegen, wenn nichts mehr dran zu ändern wäre. Dass es so leicht war, verblüffte die sechs Künstler dann selbst, auch wenn 12.000 Mark Miete für sie der Ruin gewesen wären, wenn das Ding nicht gelungen wäre. Und auch der VbK Leipzig tat alles, um dafür zu sorgen, dass das Ding schief gehen würde – schrieb gleich noch ein paar harte Bandagen in den nachträglich mit dem VbK geschlossenen Vertrag – angefangen von einer Verpflichtung, die Besucherzahl zu drosseln bis hin zum Verbot von Einnahmen.

Mit Ruhm bekleckert hat sich die damalige Verbandsleitung nicht. Wirklich nicht. Schäbig ist wohl der treffende Ausdruck für ihr Verhalten.Und den Sechsen blieb eigentlich nur, den aufgedrückten Vertrag nicht wirklich ernst zu nehmen, die Türen zu öffnen und die Menschen hereinzulassen, von denen viele eher auf dem Weg in die dritte Etage des Messehauses waren, wo die Leipziger Modelleisenbahner ihre alljährliche Weihnachts-Modelleisenbahnausstellung hatten. Aber auch im Freundeskreis funktionierte die Werbung. Im Lauf der vier Wochen, in denen der 1. Herbstsalon gezeigt wurde, kamen Besucher auch aus anderen Teilen der Republik, auch Journalisten aus dem Westen verirrten sich in die Ausstellung, denn gleichzeitig fand auch noch das Leipziger Dokumentarfilmfestival statt. Es gibt also auch noch die unabhängigen Quellen, die bezeugen, welche Verblüffung diese Ausstellung in der DDR auslöste, wo Kunstausstellungen nur vom Verband organisiert und bestückt wurden. Wer nicht Verbandsmitglied war, hatte eigentlich keine Chance. Und wenn die Arbeiten nicht dem irrwitzigen Kanon des so genannten “sozialistischen Realismus” entsprachen, auch nicht. Und wie die Funktionäre die künstlerischen Wege der sechs Ausstellenden beurteilten, ist recht gut in den Schriftstücken vom IM “Dr. Werner”, dem Kunstwissenschaftler Karl-Max Kober, nachzulesen. Alles westliche Kunst und damit wohl schon die reinste Konterrevolution.

Rund 10.000 Besucher fanden den Weg in die Ausstellung. Und die Gästebücher erzählen davon, welche positive Überraschung die Schau bei vielen auslöste, welche Hoffnung auch, jetzt würde es vermehrt solche Freiräume in der wie erstarrt wirkenden DDR geben.

Doch das nun wussten die Sechs wohl besser, auch wenn sich gerade einer wie Hans-Hendrik Grimmling schwer tat damit. Doch er stellte – wie auch zwei andere aus der Gruppe, wenige Tage nach dem Herbstsalon seinen Ausreiseantrag. Doris Liebermann hat mit allen sechs Künstlern ausgiebig über die Ausstellung und die Begleitumstände gesprochen, auch mit dem schon 2010 verstorbenen Günter Firit, den es nach München verschlagen hatte. Die Wege der sechs trennten sich nach dem Salon – künstlerisch waren sie schon vorher auf eigenen Pfaden. Was sie einte, war das Aufbegehren gegen die verkrusteten Strukturen und die Vormundschaft der Funktionäre, von der Vorteilsnahme und Pfründenpflege der Arrivierten ganz zu schweigen.

Und der Grimm klingt auch heute noch an, wenn von der Leipziger Schule die Rede ist, die immer noch den Blick darauf verstellt, dass es in Leipzig auch vor 1989 eine wesentlich reichere und buntere Kunstszene gegeben hat. Doch wer damals nicht zu den Arrivierten gehörte und vom Staatlichen Kunsthandel der DDR auch im Westen vermarktet wurde, der blieb eine arme Kirchenmaus. Zum 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution in diesem Jahr hat der “Herbstsalon 2014” auf dem Wilhelm-Leuschner-Platz die Erinnerungen an den 1. Herbstsalon noch einmal aufgefrischt.

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Ein Piratenstück. Der 1. Leipziger Herbstsalon 1984, seine Vorgeschichte und seine Protagonisten
Doris Liebermann, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2015, 24,95 Euro

Und damit natürlich auch an ein Ereignis, das mitten im Herzen Leipzigs zeigte, was alles möglich ist, wenn sich ein paar Mutige ein Herz fassen und sich ein Stück Freiheit erobern. Es gelang dies eine Mal – Folgeversuche blockten die staatlichen Gremien stets schon im Vorfeld ab. Es sollte noch fünf Jahre dauern, bis dieser Leipziger Freiheitsdrang sich auch auf den Straßen Luft verschaffte. Ein Wunder war das wirklich nicht, aber ein langer und für Viele sehr zermürbender Weg.

Und für manche – wie etwa für die Pfarrerstochter und Künstlerin Gesine Oltmanns – war gerade der 1. Leipziger Herbstsalon die Ermutigung, den Weg trotzdem zu gehen. Denn Mut machen immer die, die das Unmögliche probieren. Das ist das Faszinierende an dieser Geschichte, an diesem nun so gut dokumentierten “Piratenstück”.

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