Für FreikäuferEs wird erstaunlich viel über Extremismus diskutiert – wenn man bedenkt, wie wenige Menschen in Sachsen tatsächlich als extremistisch und gewalttätig gelten. Aber schon mit dem Wort „extremistisch“ fangen die Probleme an. Was heißt das überhaupt? Und wie weit reicht das? Kein leichter Stoff, den sich Insa van den Berg da ausgesucht hat.

Es ist aber auch in der Realität kein leichter Stoff, auch wenn es aus dem Munde selbstherrlicher Politiker oft so einfach klingt. Gerade in Sachsen, wo das Klippklapp schon Jahre Tradition hat: Rechtsextremismus gleich Linksextremismus. Linksextremismus eigentlich noch schlimmer. Muss bekämpft werden, mit allen Mitteln.

Aber selbst die Politologen streiten, ob die Definitionen stimmen und was sie eigentlich aussagen. Polizei und Verfassungsschutz liefern unterschiedliche Zahlen. Kurz reflektiert die Autorin die Diskussion um den Extremismus-Begriff und macht zumindest eines klar: Er ist nicht klar zu fassen. Denn der Mensch ist (wenn er nicht gerade ein wahlabstinenter Höhlenbewohner ist) ein politisches Wesen. Er bezieht immer Position zu allem, was in seiner Polis gerade passiert. Er nimmt Partei und er vertritt Auffassungen, die manchmal passen zu dem, was gerade opportun ist – und manchmal nicht. Die meisten politischen Auffassungen sind exzentrisch. Das Wort kommt im Buch gar nicht vor und auch Politologen beschäftigen sich nicht damit, weil das in einer pluralistischen Gesellschaft normal ist. Es bereitet meistens auch keine Probleme.

Die fangen erst an, wenn Menschen sich radikalisieren. Wobei die Wissenschaftler sich relativ einig sind, dass Radikalismus noch keine Gefahr für die Gesellschaft ist. Dass er sogar als Denk-Möglichkeit existieren muss und zur Demokratie dazugehört. Das muss sie aushalten.

Deswegen wird auch deutlich unterschieden zwischen Radikalismus und Extremismus. Letzterem wird – in der Regel zu Recht – unterstellt, dass er bereit ist, die gesellschaftlichen Grundlagen zu zerstören, die Demokratie mit Gewalt anzugreifen und die staatliche Ordnung zu gefährden. Wobei nicht alle Extremisten auch zur Gewalt greifen. Manche sind bis ins Greisenalter verbiesterte Extremisten – scheuen aber die Gewalt.

Und dann tauchen da noch die Terroristen auf, quasi die Extremisten unter den Extremisten, die Gewalt selbst zur politischen Botschaft machen.

Nicht zu vergessen der leise Verdacht einiger Soziologen, dass einige extremistische Varianten auch ein Krankheitsbild darstellen könnten.

Denn das fällt natürlich auf: Extremisten leben in Blasen. In abgeschotteten Milieus, in denen eine, und zwar nur wirklich eine Sicht auf die Welt als die einzig richtige akzeptiert wird. Der Gruppenzwang ist groß, der Opportunismus ebenso. Und wer einmal in so ein Milieu geraten ist, dem fällt es schwer, wieder rauszukommen. Insa von Berg schildert nicht nur die existierenden Aussteigerprogramme für Extremisten in Sachsen, ihre Arbeit, Erfahrungen und Ansätze.

Sie geht auch auf die psychologischen Momente ein. Das lässt sich gar nicht vermeiden. Denn extremistische Gruppierungen sind auch sozialer Ersatz. Sie bieten einen festen Rahmen gerade für junge Menschen, die noch auf der Suche sind und die ein hohes Bedürfnis nach Akzeptanz und Anerkennung haben. So rekrutieren rechtsextreme Netzwerke ihre Mitglieder genauso wie terroristische. Motto: Hier bist du wer. Wir sagen dir, was richtig ist.

Die Muster sind zwar denkbar primitiv und lückenhaft. Aber gerade da, wo solche Netzwerke ungestört arbeiten können, schaffen sie Parallelgesellschaften, geben jungen Menschen einen Verhaltenskodex und das nicht ganz unwichtige Gefühl, dazuzugehören. Deswegen sind Präventionsprogramme so wichtig, stellt die Autorin fest, die auch einige namhafte Experten befragt hat, die sich mit den Themen Extremismusprävention und Aussteigerprogrammen beschäftigen. So wie Bernd Wagner, den Gründer der Initiative „Exit Deutschland“, die mittlerweile Vorbild ist für viele andere Aussteiger-Programme. Gerade die Informationen von den Machern zeigen, dass die Arbeit mit Menschen, die aus extremistischen Szenen aussteigen wollen, ganz und gar nicht einfach ist und auch kein gerader Weg.

Es ist vor allem sozialpsychologische Arbeit. Denn Menschen, die aussteigen wollen, stehen natürlich meist unter Leidensdruck, gerade weil sie gerade dabei sind, die Welt zu verlassen, in denen sie bislang alles hatten: Freunde, Anerkennung, oft auch Job, Bestätigung, Kontakte aller Art. So geschlossen diese Welten sind, so stabilisierend sind sie für Menschen, die (noch) nicht gelernt haben, ihr Leben selbst in die Hand zunehmen und eigene, unabhängige Entscheidungen zu treffen.

Nicht immer ist klar, ob die Hilfesuchenden es wirklich ernst meinen mit dem Ausstieg. Denn das bedeutet konsequenterweise immer, dass sie auch den Kontakt mit alten Freunden abbrechen, Arbeits- und Lebensumfeld wechseln, ihr ganzes Leben neu aufbauen müssen. Das geht alles nicht von jetzt auf gleich. In der Regel braucht es Jahre, in denen die Mitarbeiter der Aussteiger-Programme als Helfer und Ansprechpartner gefragt sind. Aber auch die Gesellschaft geprüft wird: Wie tolerant sind Arbeitgeber, neue Freunde oder die Familie dem Menschen gegenüber, der so offen mit seiner Vergangenheit bricht? Das Misstrauen ist da.

Logisch, dass Insa van den Berg nicht wirklich viele Aussteiger fand, die sie wirklich befragen konnte. Zwei sind beispielhaft im Buch. Wobei gerade die interviewte Aussteigerin aus der linken Szene zeigt, wie schwer vergleichbar die vom Verfassungsschutz so gern gleichgesetzten Szenen sind. Von ihrer Abschottung bis hin zur Kommunikation und dem Umgang mit „Abtrünnigen“.

Aber seit „Exit Deutschland“ ist auch auf Regierungsebene ziemlich klar, wie wichtig die Aussteigerprogramme sind, egal, ob von Vereinen getragen oder von staatlichen Stellen finanziert. Wobei nicht nur die Autorin so ihre Bauchschmerzen hat damit, dass der Verfassungsschutz selbst ein Aussteigerprogramm betreibt. Da vermengen sich die Aufgaben. Von der Unparteiischkeit, die sozialpsychologische Betreuer eigentlich brauchen, kann da ja eigentlich nicht die Rede sein.

Aber worum geht es am Ende? Um ein Bekenntnis der Betroffenen zur freiheitlich, demokratischen Grundordnung, wie es immer heißt?

Ganz und gar nicht. Tatsächlich geht es oft erst einmal darum, Menschen mit Respekt zu begegnen, ihnen zu zeigen, dass man einander auch dann respektieren kann, wenn man völlig unterschiedliche politische Ansichten hat. Menschen, die das lernen, beginnen auch die Demokratie zu respektieren und die Pluralität unserer Gesellschaft zu akzeptieren. Denn das hängt wieder mit Selbstsicherheit zusammen, mit der Fähigkeit, sein eigenes Leben auch in eigener Verantwortung zu gestalten.

Man merkt: Eigentlich geht das schon wieder weit über den kleinen Bereich der Extremisten und Radikalen hinaus. Zu Recht verweist Insa van den Berg auch auf die Leipziger „Mitte“-Studien, die sehr eindrucksvoll aufzeigen, dass verschiedene radikale und extreme Ansichten weit bis in die Mitte unserer Gesellschaft verbreitet sind. Extremisten sind nicht so außergewöhnlich und abgeschottet, wie immer getan wird. Sie haben sehr wohl Resonanz bis in die scheinbar so brave bürgerliche Mitte hinein.

Nur muss man sich dort zumindest gefallen lassen, dass der Nachbar widerspricht und nicht allem zustimmt.

Was die Menschen, die tatsächlich in extremistischen Gruppen gelandet sind, unterscheidet, ist ihre völlige Abhängigkeit von dieser Gruppe. Sie müssen erst lernen, ein Leben ohne Gleichmacherei und Gruppenzwang zu leben. Da erstaunt eher, dass andere Extremismen gar nicht benannt werden. Was wohl daran liegt, dass solche Gruppen (fundamentale Sekten zum Beispiel) meist nicht mit Gewalttaten von sich reden machen. Für die Betroffenen sind sie aber genauso verhängnisvoll.

Die Regierung des Freistaats Sachsen wird – als Finanzierer und Träger diverser Präventions- und Aussteigerprogramme – immer wieder gewürdigt. Was einem nach jahrelanger Erfahrung mit dem Extremismen-Denken einiger Politiker schon seltsam vorkommt. Und bei all den Eindrücken vom Umgang mit Rechtsradikalen oder Pegida erst recht. Es ist ein langer Lernprozess, bei dem auch staatliche Verantwortungsträger oft erst zum Jagen getragen werden mussten. Und in dem man nur hoffen kann, dass die mühsam erkämpften Präventionsprogramme nicht beim nächsten Regierungswechsel wieder kassiert werden.

Ansonsten bietet das Büchlein einen recht umfassenden Überblick über die existierenden Hilfsangebote, was vor allem für diejenigen wichtig ist, die raus wollen aus ihrer Szene. Denn sie werden nie in ein Aussteigerprogramm überwiesen – etwa vom Arzt. Sie müssen sich selbst an die Helfer wenden und bereit sein, tabula rasa zu machen in ihrem Leben. Denn nur so besteht die Chance, die bevormundende Vergangenheit auch wirklich hinter sich zu lassen.

Insa van den Berg Und dann wollte ich raus, Edition Leipzig, Leipzig 2017, 12,95 Euro.

Die neue LZ Nr. 48 ist da: Zwischen Weiterso, Mut zum Wolf und der Frage nach der Zukunft der Demokratie

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