Mit seinem Hamlet-Gedicht war Utz Rachowski auch in der jüngst in der Reihe „Poesiealbum neu“ erschienenen Auswahl „Worthaft. Texte politischer Gefangener“ vertreten. Er war nie so präsent als dissidentischer Dichter wie etwa Lutz Rathenow oder gar Wolf Biermann. Und wahrscheinlich würde er sich auch verwahren, in dieser Schublade zu landen. Denn eigentlich ist er ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie schnell sensible Dichter in die Mühlen der DDR-Behörden gerieten.

Wer den Band „Worthaft“ gelesen hat, weiß, dass das eben nicht nur eine schöne Sammlung von „Häftlings-Gedichten“ ist. Die hätte anders ausgesehen. Viele der darin vertretenen Autorinnen und Autoren aber stammten direkt aus der großen und eindrucksvollen Lyrikerszene des Ostens. In Gedichten war vieles noch sag- und beschreibbar, was in unpoetischer Prosa sofort die Sicherheitsbehörden auf den Plan gerufen hätte. Und auch das wäre noch nichts „Dissidentisches“ gewesen.

Zuletzt haben wir ja an dieser Stelle Klaus Auerswalds Buch „Sonst kommst du nach Schwedt!“ besprochen, in dem er schildert, wie wenig an Kritik es brauchte, um als Soldat in die Mühlen einer rabiaten Korrektionsmaschine zu geraten, die aus kritischen Worten sofort Staatsverrat und militärische Zersetzung konstruierte.

Das ist ja das eigentlich Bedrückende an all diesen Erzählungen von Betroffenen – bis hin zu Erich Loest und Walter Janka –, wie wenig es oft brauchte, um zum Beobachtungssubjekt der Staatssicherheit zu werden und zum Inhalt von Aktenvorgängen, in denen nichts vergessen wurde. Vielen Ostdeutschen war es selbst 1990 noch nicht bewusst, wie sehr die ganze Bevölkerung permanent auf Wohlverhalten hin bewertet wurde.

Und dass all die Menschen, die dann in der Presse so gern verdammt und zu Staatsfeinden erklärt wurden, stets nur Unangepasste, Suchende und Fragende waren. Bis hin zu einem Rudolf Bahro, der den Wirtschaftsexperten des Ostens vorrechnete, wie sie den Ostblock gerade in Grund und Boden wirtschafteten.

Und schon in der DDR waren die Leserinnen und Leser hellwach, lasen aufmerksamst jede Veröffentlichung von Volker Braun, Uwe Kolbe oder Sarah Kirsch. Manchmal in Büchern, die eigenwillige Verlagsleiter quasi in Guerilla-Taktik durch die Zensur geschoben hatten.

Letztlich aber gingen viele – sehr viele – begabte Schriftsteller des Ostens in den Westen. Und viele verstummten dort, weil ihr Thema ja nun einmal der Osten war. In all seiner Verstaubtheit, Schönheit und Zerrissenheit.

Einige der Begnadeten entgingen diesem Schicksal, prägten dann zum Beispiel die bis heute beeindruckende Sächsische Dichterschule, die nicht nur durch ihre Bildhaftigkeit frappiert, sondern auch durch ihre Liebe zum durchwachsenen Alltag – was dann auch einen Begabten wie Andreas Reimann dennoch oder gerade deshalb in die Mühlen der DDR-Justiz brachte.

Und eben auch den in Plauen geborenen Utz Rachowski, dem vor allem zum Verhängnis wurde, dass er Texte der von ihm geliebten Autoren Jürgen Fuchs, Reiner Kunze und Wolf Biermann weitergab. Alle drei veröffentlichten ja nur noch im Westen. Ihre Bücher waren beliebte Schmuggelware.

Aber selbst die weitergereichten Texte von Gerulf Pannach, dem Texter der Leipziger Gruppe Renft, wurden ihm angekreidet. Man rechnete ihm das als „staatsfeindliche Hetze“ an und verurteilte ihn zu 27 Monaten Haft. Was eben nicht nur Anklage und Haft bedeutete, sondern auch die zermürbenden Verhöre von Stasi-Offizieren, etwas, was er in den Gedichten „Biografie oder Was die reden“ und „Mein Lieblingstier“ thematisiert. Letzteres beginnt so: „Jetzt / haben Sie die Katze aus dem Sack gelassen // schrie der Richter …“

Drei Zeilen, die im Grunde all das sichtbar machen, was die DDR so zermürbte: Niemand konnte sich sicher sein, dass ihm ganz gewöhnliche Worte nicht im Munde umgedreht wurden und die „Staatsmacht“ ihn dann nicht in nächtlichen Verhören oder gestellten Gerichtsverhandlungen als „Feind“ entlarvte. So wurde aus einem fragenden, vorsichtig erkundenden Dichter ganz schnell ein „Staatsfeind“ gemacht. Und auf einmal war der Verfemte kein Kandidat mehr für eins der beliebten Hefte der „Poesiealbum“-Reihe, von denen jeden Monat eins erschien, sondern ein Verdammter, der froh sein konnte, wenn er vom Westen aus der Haft freigekauft wurde. So auch Utz Rachowski, für den sich Reiner Kunze einsetzte.

Sein „Poesiealbum“ hat er nun doch noch bekommen, im Märkischen Verlag Wilhelmshorst, das mit Genehmigung des alten DDR-Verlages Neues Leben, wo die Reihe über Jahrzehnte erschien, auch das Layout übernehmen und die Reihe der Dichterinnen und Dichter fortsetzen konnte. Übrigens ganz ähnlich wie die Leipziger Reihe „Poesiealbum neu“, die zwar das Layout übernahm, mit ihren Veröffentlichungen aber vor allem thematisch arbeitet und jedes Mal verschiedenste Lyriker aus der ganzen Republik versammelt. Eben so wie in dem Band „Worthaft“.

Man merkt nun freilich in der Auswahl, die Klaus Walther für dieses „Poesiealbum 339“ gemacht hat, dass die Zeit im Gefängnis und in den Mühlen der DDR-Justiz den heute 64-jährigen Rachowski noch immer beschäftigt und wohl auch quält. So etwas wird man nicht los. Darauf war das alles ja auch angelegt. Aber nach dem Mauerfall kehrte Utz Rachowski in seine Heimat Vogtland zurück, wurde Mitbegründer der in Dresden erscheinenden Literaturzeitschrift „Ostragehege“.

Und gerade das Hamlet-Gedicht, das auch in diesem Band enthalten ist, zeigt ihn nach wie vor als sensiblen ostdeutschen Dichter, der eindrucksvolle Texte über seine Verwurzelung in einem besonderen Landstrich schreiben kann und gleichzeitig – aus der Perspektive des Verwurzeltsein – den Blick auf die Welt richtet und das, was dort (für so viele unfassbar) vor sich geht.

Denn er hat sich neben dieser tiefen Verbundenheit mit einer störrischen, zuweilen auch sehr einsamen Landschaft, auch den kritischen Blick bewahrt auf das Treiben der Mächtigen, die Unerbittlichkeit dessen, was Mächtige tun. Die Welt ist nicht heil. Man könnte sich diesen Hamlet auch mit Totenkopf auf dem Friedhof vorstellen mit den letzten Worten des Gedichtes: „Der Rest ist wenn du dich erinnerst und / meine Worte je dir etwas sagten Schweigen“.

Natürlich klingt das. Was ja die dritte Eigenart der Sächsischen Dichterschule ist: Die Vertreterinnen und Vertreter dieser „Schule“ beherrschen das Metrum, wissen, wie Gedichte klingen müssen, wie man sie regelrecht stimmt – so, wie einst Herr Bach seine Orgeln. Und einige von Rachowskis Gedichte sind im Grunde ordentliche Orgelpartituren, grundiert durch – Kennzeichen Nummer 4 dieser besonderen Dichterschule – fundiertes Wissen um Literaturgeschichte bis zu den alten Griechen.

Man könnte wahrscheinlich alle diese stillen Werkstätten der sächsischen Dichter bereisen und würde überall dieselben Bändchen aus dem Reclam und dem Aufbau Verlag stehen sehen, die literarische Verortung in einer Welt, die immer größer war als das kleine Land, in dem geschrieben wurde, und praktisch den ganzen Kosmos des europäischen Denkens umfasste. Und Griechenland sowieso, als Flucht und Zufluchtsort im Geiste. So wie in Thomas Fritz’ Roman „Kinder des Labyrinths“ oder in Mattheuers Sisyphos-Grafiken.

Sisyphos, wie er den Stein endlich rollen lässt. Dädalos, der gelernt hat, vorsichtig zu fliegen und sich den Herrschenden dienstbar zu machen. Ein gewisses Bild der Vergeblichkeit, das am Ende bleibt. Denn es waren auch 1990 nicht die Dichter, auf die man hörte. Man galoppierte einfach weiter und redete lieber nicht über die Verwundungen. Wer wird denn stehenbleiben und sich besinnen wollen? War da was? In Rachowskis Tauben-Gedichten kommt noch einmal die ganze Tristesse der Oststädte ins Bild, in denen einem überall dieselben grauen Stadttauben begegneten. Auch Leipzig ist dabei. Kein Lob-Gedicht diesmal.

Eben eher eines im Stil der Sächsischen Seher-Schule, die sich mit Goethe-Sprüchen nicht abspeisen lässt, sondern hinter der Maskerade die nackte Wahrheit sucht. Und natürlich findet, was uns heute noch immer beklommen machen sollte: das Ausgegrenzt- und Ausgesperrtsein. Dabei ist nur, wer nicht auffällt und nicht aus dem Rahmen fällt.

„Ich blieb / sitzen / für immer.“

Behutsam geht Rachowski nicht nur den Weg hinauf nach Wolkenstein, sondern auch durch die Gassen Wetzlars, wo er ausgerechnet vor „Jerusalems Haus“ ins Grübeln kommt, durch Warschau und Kreuzberg. Kein Ort, wo das Nachdenken aufhört und das Verwundertsein darüber: „das Unbegreifliche / nie begriffen / zum Greifen nah“. (in „Philadelphia pH-Wert“). „Neuerdings geschehen seltsame Dinge“, schreibt er in „Abschied“.

So staunt einer immer noch darüber, dass man sich sehr seltsam fühlen kann in der Welt, wenn man nur aufmerksamer dafür ist, was einem so geschieht. Immer noch geschieht und immer wieder. Und selbst wenn er längst wieder da ist und Wort ergreift für sein Stück Heimat, wird er die Frustration des Exils nicht los. „mit sieben Nägeln / schlägt es zu“.

Poesiealbum 339: Utz Rachowski, Märkischer Verlag, Wilhelmshorst 2018, 5 Euro

Eine Muntermacher-LZ Nr. 61 für aufmerksame Zeitgenossen

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