Dass Lutz Rathenow dereinst mit den Literaturwächtern der DDR aneinandergeriet, hat auch eine Ursache in seiner Art, Gedichte zu schreiben. Er liebt die Pointe, das Aphoristische, den kleinen liebevollen Stich mit einem Vers, der ins Schwarze trifft, dorthin, wo es entweder juckt oder wehtut. Oder wo es einfach allzu Menschliches aufs Korn nimmt. Denn wer – wie er – die Mitwelt mit poetischen Augen betrachtet, erkennt sich selbst wieder in anderen.

Und das bewahrt er sich selbst dann, wenn er in ein hohes Amt kommt wie das des Sächsischen Landesbeauftragten zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, das Lutz Rathenow von 2011 bis 2021 bekleidete und das ihn zehn Jahre lang in die sächsische Landeshauptstadt führte bzw. fahren ließ in Zügen, die ihn zuweilen reich mit Anregungen für neue Gedichte beschenkten.Wundersamerweise eher in der Direktion Dresden und weniger in der Direktion (Ost-)Berlin, wo Rathenow seit 1977 lebt. Er hat sich nicht ausbürgern und vertreiben lassen, ist auch dageblieben, als ihn die strengen Obrigkeiten nur zu gern von dannen geschafft hätten. Und hat die Gelegenheit zum Netzwerken genutzt. Auch das gehört zur Vor-Geschichte der Friedlichen Revolution: Ihre Stärke liegt neben ihrer Friedfertigkeit in ihrer Netzwerkarbeit. Wer sich nicht auf das „Wunder“ Herbst ’89 kapriziert, der kann was draus lernen. Denn das war das Erfolgsmodell aller friedlichen Revolutionen in Osteuropa.

Und ist auch ein Modell für alle anderen Revolutionen und Evolutionen. Wer eine bessere Welt will, vernetzt sich mit Gleichgesinnten und Unentmutigten. Und versucht, die anderen zu gewinnen, selbst die Scheuklappen abzulegen und der Welt wie sie ist ins Auge zu schauen. Was natürlich eine poetische Weltsicht ist. Zwangsläufig. Denn so sieht man die Widersprüche, Träume, Bruchkanten und die Masken.

Das vertraute Maskenmotiv

Weshalb es auch nicht verblüfft, dass auch die Masken der Corona-Zeit ihren Weg gefunden haben in Rathenows Dresden-Gedichte. Denn einer, der wie Rathenow in die Welt schaut, weiß, dass die meisten Menschen auch dann mit Masken herumlaufen, wenn sie gar keine vor dem Gesicht tragen.

Man könnte Rathenows Gedichte zum Beispiel mit Wolfgang Mattheuers Maskenmann bebildern, den der 2007 gestorbene Leipziger Künstler ganz absichtlich „Gesichtzeigen“ betitelt hat. Die Erfahrungen im Osten ähneln sich da – und das ist keineswegs erstaunlich.

„Bitte lege eine Maske an. / Und nimm sie später ab. / Damit ich Dein Gesicht / für mich entdecken kann“, lautet eins jener kurzen Gedichte in diesem Band, die eigentlich schon längst mit einem Bein im Reich der Aphorismen stehen. Masken verbergen nicht nur Gesichter, sie zwingen auch zum genaueren Hinschauen – und stören natürlich.

Noch eine Störung mehr in einer Welt, in der alles Mögliche stört (so wie im Gedicht „Irgendetwas stört“). Und wenn es ständig Störungen hagelt, dann wird der Mensch nervös, missmutig, gereizt, will, dass das aufhört irgendwann, wo man doch nur seinen Frieden will. Ja, und wie kommt man da hin? Mit einer aphoristischen Wendung natürlich, in der der Dichter diesen ach so naiven Wunsch auf seine eigene Art ernst nimmt: „… kein Ende / in Sicht. Also Schluss ohne Schuss. Frieden.“

Das ging dann gerade noch einmal gut. Geht noch gut. Denn all die Störungen sind damit ja nicht aus der Welt. Sie regieren uns – stecken in Schlagzeilen und politischen Eiertänzen. Irgendjemand will dann doch wieder schießen. Oder droht anderes an, weil er glaubt, das wäre dann wieder die schnellste und einfachste Lösung.

Dabei kennt Lutz Rathenow das Gefühl nur zu gut, wie er in der Antwort auf fünf Fragen von Volker Sielaff bekennt: „Ich war doch ein, zwei Jahrzehnte im Dauerzorn. Ich habe mich in Dresden des eigenen Zornes entwöhnt. Weil ich so viele angenehme Dinge erlebte? Sicher auch.“

Aber irgendwie haben ihm selbst die Montags-Dauerspaziergänger von Pegida geholfen. „Sie zeigten mir, wohin es führt, wenn (vorwiegend) Männer, die wie ich nun mal meist ältere Männer sind, aus ihrem Frust eine Wut backen und sich in Dauerzorn hineinbeamen. Und ihn durch Geselligkeitssolidarität zu konservieren versuchen.“

Zärtlich, wutvoll und gern

Da braucht es gar keine großen politischen Erklärungen. Er sieht das Menschliche in dem, was andere tun und was ihm selbst geschieht. Vielleicht ist sogar dies das Wesentliche an dieser Dresden-Zeit: Dass er wieder aufmerksam geworden ist auf die vielen kleinen Störungen der Welt, die aber am Ende unser Leben ausmachen.

Denn was wirklich passiert, passiert nicht da draußen, sondern in uns selbst: „Wir atmen tief ein, raketen / uns hoch (auf Biegen und Brechen, Lachen und / Stechen, Streicheln und Schmeicheln)“, heißt es in „In die Zukunft segeln“.

Ein Gedichttitel, den schon der junge Rathenow 1987 im Auge hatte. Weitergeschrieben aber hat er das Gedicht 2021. Manchmal muss man erst ein weiteres Stück gelebt haben, um den Faden wiederzufinden: „Ich lebe. Bebe und fliege, zärtlich / wutvoll und gern.“

Und auch wenn es hier wutvoll aus der Zeile fällt: Die Dresden-Gedichte leben von einer großen Gelassenheit, einer, die man sich wohl nur selbst schaffen kann, indem man lernt, die Störung als Teil des Lebens zu verstehen, sogar als begrüßenswerten. Denn produktiv wird die Krise erst, wenn wir darin die eigene Unruhe wiedererkennen: „Es blühen / die Krisen die Blumen die Chancen.“

Gleich neben diesem Gedicht („Na, dann mal los“) steht dann fast wie zu erwarten ein Gedicht über die Schönheit der Farbe Schwarz, das den Dichter fast mühelos bis zum kosmischen Schwarzen Loch führt: „Ort, / in dem sich Utopien sammeln – bis es (oder er sie?) / kollabiert. Das All würfelt sich neu.“

Wie Nähe entsteht

Dagegen ist unser Hiersein als Mensch ziemlich winzig. Nicht banal. Banal wird es erst, wenn wir uns viel zu ernst nehmen, uns und unsere kleine Wut und unseren Jähzorn. Fast zärtlich wird dann tatsächlich Rathenows Gedicht über das Maskentragen im Oktober 2020: „Der Stoff erwärmt angenehm, heimatlich, Nähe entsteht – durch / Berührungen. Ab wann wird das Leben ohne dem Ding vor Nase Mund Bart / Lippen schwer vorstellbar?“

Gute Frage. Über ein Jahr später noch immer aktuell. Und viel aktueller, da die einen sehr wohl spüren, wie dringend es der Berührungen bedarf. Und die anderen das in ihrem Wüten nicht mal merken. Gerade deshalb wird es ihm wohl auch möglich, Gedichte, die vor Jahrzehnten unvollendet geblieben sind, zu Ende zu schreiben in dieser Dresden-Zeit.

Und sogar die Freude genießen zu können, ewig auf dem gerade eröffneten Freisitz auf den Kellner warten zu dürfen. Wer hatte diese Freude nicht nach den ersten Lockdowns? Endlich wieder – „besonnungsglücklich“ – auf einen Espresso warten zu dürfen: „Die Genauigkeit pausierte, sie flanierte / im Labyrinth aller Möglichkeiten. Bis jeder Weg / herauszuführen scheint.“

Beglücktes Dresden, könnte man meinen. Diese Stadt, die andere wütend werden lässt, hat Rathenow wieder die Freude an der Gelassenheit geschenkt. Ohne die man eigentlich keine Gedichte schreiben kann, weil man ja ständig außer sich ist.

Und nicht geborgen in sich, gut ausgepolstert auch mit all dem Krempel der vergangen Jahre, den man nie ignorieren konnte – so wie die deutschen Schlager der 1970er Jahre, die Rathenow bis heute verabscheut. Wobei ostdeutscher Krempel nicht besser war und sich jetzt als Versatzstück in kleinen pointierten Gedichten wiederfindet: „Ein Licht. Das Licht? Durchhellt die Welt. / Seid bereit. Glücksverschneit.“

Ostdeutsche Wölfe in Schwaben

Womit dann die ganze Zwielichtigkeit der „besinnlichkeitsgelähmten“ Weihnacht erfasst ist. Wo in all dem Lametta bleibt dann das wirkliche Gefühl? Oder kommt einem auch das vertraut vor? Als ganz deutsche Romantik, die alles überzuckert und sich gerade deshalb so vor der Zukunft fürchtet, der man wütend gegenübersteht, weil sie sich nichts befehlen und nichts verordnen lässt: „Die Zukunft / als Erpressung: es war wie es wird.“

So wie in „Hölderlin und der Wolf“. Da muss man schon in Dresden aufmerksam sein, wie das aus der Lausitz so vertraute Wolfsgeheul nun auch in Schwaben hörbar wird. Es wird wohl so sein, dass sich die Wölfe im Osten nicht wirklich von den Heulern im Westen unterscheiden.

Die einen tun nur immer so, während ein beruflich auch mit Akten Beschäftigter wie Rathenow auf einmal in den alten Akten die abgefangenen Liebesbriefe findet und merkt, wie viel Neid in den Aktenverfassern gebrodelt haben muss beim Abfangen und Archivieren dieser Briefe: „Und der zuständige Beamte erblasste / vor Neid Hilflosigkeit Scham …“ („Lesevergnügen“).

Vielleicht ist das sogar der Moment, der die Wut verebben ließ, diese wärmende Erkenntnis, wie hilflos und überfordert die Wächter eigentlich gewesen sein mussten. Und damit letztlich auch machtlos, wenn sie selbst diesen Liebesbriefen, „einer schöner als der andere“, die Kraft zumaßen, ein eingemauertes System ins Wanken zu bringen.

Was ja dann auch so war. Und was immer wieder so ist, auch heute in recht gegenwärtigen Apparaten, die in diesem Bändchen auch ein paar kleine Stiche ernten. Hierarchien tendieren immer noch dazu, Dilettanten in ministeriale Ämter zu bringen und sich selbst für die in Stein gemeißelte Ewigkeit zu halten: „Die Verwaltung bleibt bestehen …“ („Im vorpoetischen Raum“).

Großes Shooting …

Da kann man schon das Gefühl bekommen, dass die Zeit eine Schnecke ist. Aber tatsächlich wirken die 48 hier versammelten Gedichte wie eine kleine Befreiung. Als hätte Harald Hauswald (mit dem gemeinsam Rathenow das Erfolgsbuch „Ostberlin“ gemacht hat) den Finger auf den Auslöser gedrückt und die Zeit wieder zum Fließen gebracht: „Großes Shooting / für den Kurzfilm eine Lebens“.

Das Ende einer Dienstzeit kann sehr befreiend sein, wenn eine Last von einem abfällt, von der man vorher gar nicht wusste, dass sie einen niederdrückte.

Und so werden das auch Gedichte einer erstaunlichen Leichtigkeit des Seins. Das hätte man Dresden gar nicht zugetraut. Aber die Stadt ist – wie es aussieht – doch noch für ein paar Überraschungen gut.

Lutz Rathenow Maskierungszärtlichkeit, Verlag SchumacherGebler, Dresden 2021, 18 Euro.

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