Manchmal kommen Gedichtbände etwas später, als es sich der Verleger gedacht hat. 2008 erschien im von Ralf Liebe betreuten Verlag Landpresse Lutz Rathenows Gedichtband „Gelächter sortiert“. Dem sollte eigentlich schon bald ein weiterer folgen. Doch dann wurde Lutz Rathenow 2010 Sächsischer Landesbeauftragter zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Da blieb für Gedichte nicht mehr viel Zeit. Im zweifachen Sinn. Denn wer so einen Job ausfüllt, hat auch selten die Zeit, in poetische Stimmung zu kommen. Dichter brauchen ein Umfeld, das Besinnung und Sinnen möglich macht.

Und so wurde der jetzt von Ralf Liebe liebevoll zusammengestellte Band eher ein Resümee der zurückliegenden 50 Jahre. Und daher auch ein Band für Entdeckungen für alle, die den frühen Lutz Rathenow, der der Stasi so viel Ärger machte, noch nicht kennen. Ganz einfach, weil er damals Gedichte schrieb, wie ihm der Schnabel gewachsen war, um es einmal ganz nüchtern auszudrücken.

Denn was die Herren mit der grauen Fasson überhaupt nicht mochten, waren literarische Texte, die das kleine Land mit den drei Buchstaben einfach so zeigten, wie es war. Es ist das alte Des-Kaisers-neue-Kleider-Problem. Und Rathenow und etliche weitere Mitstreiter im von ihm 1972 gegründeten Jenaer „Arbeitskreis Literatur und Lyrik“ fühlten sich sehr wohl wie das Kind in Andersens berühmten Märchen: Sie hatten eine nur zu verständliche Freude daran, die Dinge beim Namen zu nennen.

Komprimierte Welt

Und das Erstaunliche an dieser Art der Welt-Benennung ist ja: Das wird fast automatisch zum Gedicht. Verdichtet die Wirklichkeit auf einprägsame Zeilen und Bilder. Und die Zuhörenden und Lesenden sind überrascht und freuen sich selbst wie die Kinder, weil sie ihre Welt und Wirklichkeit darin wiedererkennen. Dichten ist – wenn es gelingt – Welt-Komprimierung. Deswegen standen Autoren und Autorinnen in der DDR stets unter besonderer staatlicher Aufsicht.

Und die frei Schreibenden sowieso. Weshalb der Arbeitskreis natürlich verboten wurde und ein Lutz Rathenow im Osten gar nicht erst nach Veröffentlichungsmöglichkeiten fragen musste. Seine Gedichte erschienen dann im Westen. Er selbst blieb aber da. Trotzig und ganz und gar nicht geneigt, sich ins unbefreundete Ausland abschieben zu lassen.

Und nun hat er – da hat Ralf Liebe bestimmt ein wenig gedrängt – seine alten Lose-Zettel-Sammlungen durchstöbert und auch etliche Texte gefunden, die seinerzeit in keinen Gedichtband fanden. Manchmal, weil sie einfach nicht passten. Manchmal, weil sie für den Dichter noch unfertig aussahen. Was natürlich passieren kann. Da fällt einem dann manchmal nach Jahrzehnten erst auf und ein, wie es weitergehen könnte, wohin der Text eigentlich drängt. Dazu braucht man an oft einfach noch ein bisschen Erfahrung mit der Welt.

Aber den skeptischen Blick auf die Mitmenschen hat Rathenow dabei nie verloren. Manchmal klingt es so leicht hingetuscht, wenn er – wie im „Einheitsjahr“ 1990 – schreibt: „Entherzte Wahrheiten nerven die Menschen …“ („Rauchsignale einer Stadt“). Vor den politischen Ereignissen, die ihm begegneten, hatte er nie Angst, auch nicht davor, sie in Gedichte zu packen.

Damit sie wahrgenommen werden. So ein typisches Gedicht aus den 1970er Jahren ist „Falttag“, in dem er einfach beschreibt, wie man als einfacher Staatsbewohner damals zum Wählen ging: Falten und ab in die Urne mit dem Zettel. Fertig. Die Gedanken aber sind frei.

Der Lärm der Welt im Kopf

Diese Fundstücke aus seinem Zettelarchiv hat Lutz Rathenow zwischen Texte gestreut, die tatsächlich erst in den letzten Jahren entstanden sind, als er wieder Freiraum zum Schauen hatte und sich selbst wieder wahrnahm als Menschen in einer Welt, die an Seltsamkeit nichts verloren hat.

Erst recht nicht Berlin, wo er lebt. Und sich erstaunlich irdische Gedanken macht, wenn er S-Bahn fährt oder die Treppen hinauf ans Tageslicht steigt. „Ich ärgere mich noch über den Regen, ich weiß schon, wir brauchen ihn, aus vielen guten und besseren Gründen.“ Es ist ein Text, in dem er sichtbar macht, wie es uns allen in den Köpfen rumort, wie wir Kluges und moralisch Richtiges denken und gleichzeitig voller Vorurteile sind und uns inwendig am Zügel nehmen müssen, um nicht zu platzen.

Geändert hat er sich nicht. Ein Gedicht über den „Spätherbst“ lässt er in einem geradezu herausfordernden Satz enden: „Ich fordere auf, mir zu mißtrauen.“

Und gleichzeitig freut er sich wieder (oder immer noch) über die Dinge um uns wie ein Kind, über Sonne und Neuschnee (der den Schmutz der Stadt für einen Moment verdeckt). Er radelt durch die Stadt und sucht einen echten Flipperautomaten, schreibt ein Gedicht von 1987 fort: „In die Zukunft segeln“. Und feiert in „Ins Offene“ die innige Freude am Laufen.

Da erinnert nur der Titel an ein Hölderlin-Gedicht. Und trotzdem ist Hölderlin präsent. Wie so manch anderer Dichter, der als Zitat aufscheint. Aber klar ist auch: So wie Hölderlin bekommt man unsere Gegenwart nicht mehr zu fassen. Das Hymnische wäre völlig fehl am Platz. Wir sind lakonisch geworden in unseren Gefühlen. Verstecken uns hinter Worten, die eigentlich in keinem Gedicht funktionieren – einige hat Rathenow in einem „Placebogedicht“ platziert. Man merkt: Er ist noch genauso widerständig wie einst, wenn es um Phrasen und Hülsen geht. Aber statt sie zu meiden, spießt er sie auf.

Sarkastisch tut er das – wie in „Umweltbeglückt“, wo er uns allen unsere verlogene Sicht auf die zu schützende Natur unter die Nase reibt. Denn geschützt wird sie ja eigentlich nur, „damit / sie länger stirbt“. Denn wir sind nicht wie die Kinder. Wir funktionieren und „zermailen“ unsere Tage.

Haben kein Gespür mehr und „keine Zeit“ für die vielen kleinen Sensationen unseres Lebens – das Berühren von Haut, den Kuss, den Tag im Sand am Strand. Und die Narreteien des frühen Jahres 2025 nimmt er in „Selbsttäuschungslabyrinth“ schon mal vorweg: „Don Quichotte verbarrikadiert sich / im letzten Atomkraftwerk. So viele Pferde / hat keiner, gegen alle Mühlen anzureiten.“

Der fehlende Elefant

Was wohl eine Menge damit zu tun hat, dass so viele Menschen gar nicht richtig da sind. Immer schon weg. Selbst beim „ersten Kaffetrinken im Freien“, wo sie mit dem Cappuccino auch gleich die Rechnung haben wollen. „Und bitte gleich.“ Menschen, die nicht da sind, wenn sie da sind. Und damit auch nicht bei sich. Schon gar nicht so intensiv wie der Dichter, der sich damit – leider – eben doch die Stimmung verderben lässt. Denn diese Hektischen und Wichtigen machen Lärm und zerstören jeden stillen Moment.

Auch weil sie ihn ganz offensichtlich nicht genießen können. In „Irgendetwas stört“ versucht Rathenow, diesen Missmut zu erfassen, der irgendwie zur Volkskrankheit geworden ist: „Es stört das Gerede, / aufdringliche Stille. Katzen, Marmeladengläser / ohne Marmelade. Die Mücken. Die Abwesenheit / des Elefanten …“

Man merkt: Er hadert noch mit seiner Mitwelt. Oder wieder. Und genießt es, obwohl es ihn aus seinen Gedanken und Versunkenheiten reißt. Denn die Situationen, in denen der Missmut mal daußen bleibt, genießt er: „Ich kann mit der Stille einer Wohnung spielen, / sortiere die Geheimnisse der Blätterstapel neu …“ Und manchmal packt er die Geheimnisse dann eben doch wieder in einen neuen Gedichtband, den Ralf Liebe von der Leipziger Grafikerin Katja Zwirnmann illustrieren ließ mit richtigen Holzschnitten. Man riecht es.

Der Band ist auch ein Genuss für die Nase. Und trotzdem so kalkuliert, dass ihn sich auch sparsame Lyrikliebhaber leisten können. Und vielleicht auch alle, sie sich zu Weihnachten nichts geschenkt haben, aber nun ein Gefühl teilen, das Rathenow beim Namen nennt: „Frühlingsauferstehungslust“. Wieder so ein verkapptes Zitat, das beiläufig daran erinnert, dass unsere Klassiker gar nicht so langweilig sind, wie sie in der Schule meist verkauft werden.

Erst recht, wenn man die Kunst gelernt hat, mit ihren Texten zu spielen und sie in eine Zeit zu holen, in der nur noch wenig so selbstverständlich ist wie zu Fausts Zeiten: „Der Winter, kaum Winter / noch, schmilzt zu einem langen langen Herbst.“ Da sind wir gerade. Manche warten auf den ersten Sonnentag im Freisitz. Und manche holen sich einen neuen Gedichtband aus der Buchhandlung, um ihn mit festlichen Augen lesen.

Und um vielleicht an ein paar Zeilen von 1973 hängenzubleiben: „Hab Acht vor dem Feuer – es knistert so schön.“

Lutz Rathenow „Früher ist morgen“, Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2025, 25 Euro.

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