Das Leben hört eigentlich nie auf, Momente voller Poesie zu bieten. Man muss nur aufmerksam bleiben, offen bleiben für das, was einem der Tag beschert. Also mit offenen Sinnen durchs Leben gehen. Wie es eben die Meisten nicht tun. Was einer der Gründe dafür ist, warum unsere Welt so kaputt ist. Warum es so viel Streit, Selbstgerechtigkeit und Rücksichtslosigkeit gibt. Poesie erinnert uns daran, wie zerbrechlich alles ist, was uns begegnet. Und Regina Jarisch fängt das ein.
Sie lebt in Weimar, bekanntlich ein von Poesie geweihter Ort. Nur dass man die poetische Sicht auf die Welt nicht am Frauenplan lernen kann, sondern da, wo man tatsächlich lebt, den Tag entdeckt, die Momente der Stille, des Besinnens und Innehaltens. Und natürlich das Gefühl für die Vergänglichkeit all dessen, was uns geschieht. Wofür man aber all die trickreichen Ablenkungsgeräte abschalten sollte, die nichts anderes bezwecken, als uns blind, dumm und anhängig zu machen.
Denn sonst haben wir keinen Blick frei für das Bezaubernde im Leben, in jedem Moment. Das Gewahrwerden, wie sehr wir da sind und wie seltsam alles ist – bemerkenswert seltsam. Selbst das, was wir so gern mit Schulterzucken abtun: „im spätsommer sind wir / aufgetaut im zärtlichen / zueinander“, fängt Jarisch zum Beispiel so einen Moment ein im Gedicht „wir sind“. Einem Gedicht, das gerade in seiner lakonischen Dichte zeigt, wie das Erstaunliche unseres Daseins sich in einem Moment, einem Gedanken, einem Verwundern darüber zeigt, was uns da passiert.
lass uns / über den ausblick staunen
Eigentlich fortwährend passiert. Auch dann, wenn wir unaufmerksam daran vorüberrennen. Man sieht es, wenn man nur den Blick einmal fokussiert: „und sie warten und suchen / suchen die anleitung / zum lieben“. („suchend“)
Womit eigentlich fast alles gesagt ist über Berge von heutigen (Nicht-)Liebesgeschichten und (Nicht-)Liebesromamen, in denen sich alles irgendwie um Romantik dreht. Aber selten um das, was Liebe wirklich so intensiv macht. Ein Gefühl, das sich meist ganz wortlos entfaltet, wenn zwei den Moment einfach zulassen: „du nickst murmelst: lass uns / über den ausblick staunen / ohne plan und schwur“. („im gegenlicht“)
Es sind Gedichte aus dem Leben, die Regina Jarisch hier gesammelt hat. Aus ihrem eigenen Leben. Komprimierte Augenblicks-Notate, die in ihre Lakonie die Poesie eines menschlichen Daseins sichtbar machen. Auch mit all den Verlusten. Denn leider können wir ja nicht einfach Menschen sammeln, wie wir wollen. Abschiede gehören dazu – und Erinnerungen an das Was-hätte-sein-Können: „bist du mir verloren gegangen / in schwarz-weiß geschichten / wandeln die letzten sonnenstrahlen / und ich such das ungeschriebene …“ („unerwartet“)
Es gehört dazu. Und Jarisch zeigt, dass man nicht schönmalen muss, wenn man die Betroffenheit vom Leben zeichnen möchte, dass die Worte unserer Sprache von ganz allein stark genug sind, die richtigen Bilder zu schaffen, in denen Gefühle sofort spürbar werden. Miterlebbar für alle, die sich Zeit zum Lesen von Gedichten nehmen.
Und zum Draufeinlassen auf all unsere Vergänglichkeit, die sich im Alter natürlich immer deutlicher bemerkbar macht. Eine Zeit, in der so mancher nicht mehr glaubt, zu atemberaubenden Gefühlen fähig zu sein. Aber das Gegenteil ist der Fall, wie Regina Jarisch feststellt: „ich meine es gehörte sich / nicht im herbstalter / das frühlingsverliebtsein“. („entschuldigung“)
eine / seltsame versehrtheit
Aber irgendwie passiert es eben doch. Und dann wäre „mehr zu sagen / unter uns“. Wenn wir uns trauen. Und die Worte finden dazu. Oder fänden. Denn all unsere Ratlosigkeit macht uns auch hilflos im Umgang mit Worten. Wir werden sprachlos, je mehr wir versinken im großen Geschwätz. Und damit auch empfindungslos. Denn greifen können wir nur, was wir auch benennen können.
Selbst in der Großstadt, die Regina Jarisch in sechs Gedichten besucht. Doch die bietet nicht wirklich Ruhe und Raum für ein Gespräch: „über das pflaster klappern / absätze schnell und launisch / das reden über dies und das / erdrückt im getümmel / die aussichten auf himmel …“ („großstadt VI – laut“)
Dabei böte auch ein Spaziergang durch die abendliche Stadt Raum für Gefühle – wenn man sie denn wahrnehmen wollte: „ein liebeshunger knurrt / im heimischen zimmer spür ich eine / seltsame versehrtheit“. („abenddämmerung“)
Man muss es sich nur eingestehen. Und die Gefühle zulassen. Eben weil sie uns erdrücken, wenn wir ihnen nicht Raum geben. Denn darin werden sich viele wiedererkennen, wenn Regina Jarisch schreibt: „ich warte auf einen hauch / glück im heimischen versteck“. („es lohnt sich“)
Manchmal wird es ganz elementar, spürt die Autorin die ganze Vergänglichkeit des Moments. Manchmal wird es auch fantastisch, merkt man, mit welcher Lust sie die Angebote der Sprache annimmt, die Verse abheben zu lassen ins Märchenhafte, Traumhafte.
So wie im Kapitel „schafe tanzen nicht“, in dem sie eigentlich sichtbar macht, wie leicht es ist, mit Versen Bilder zu zaubern: „der adler fraß den paradiesvogel / die schmuckfedern fliegen noch / genaueres ist unbekannt“. („am himmel vorbei“) Und dabei passiert es uns fast beiläufig fast jeden Tag, so wie in „auf dem falschen fuß“: „sein traum / nachtverrutscht / verbummelte die wünsche / im schwarzen kaffee …“
Fast liest sich das kleine Gedicht wie eine Warnung, auch nach einem verrutschten Traum lieber auf die eigenen Füße zu achten. Aber so sind wir ja nicht. Wir schweben manchmal zwischen den Welten, nicht ganz hier, nicht ganz fort. Und treten daneben. Was eigentlich schon eine bildhafte Beschreibung ist für das Gefühl, in ein Gedicht geraten zu sein.
ich sitze im sternengeflüster
Da können sich dann auch schon mal Märchengestalten in unser Leben mischen. „der wolf reißt / schafe aus dem traum / frisst die großmutter / ein sturm fegt / wirbelt schneeweißchen / in die luft …“
Märchen oder Wirklichkeit? Oder nur die schöne Fähigkeit, das Besondere in unserem Leben noch wahrzunehmen, zu sehen, in Worte zu fassen? Selbst dann noch, wenn die Trauer unser Herz kaputt macht wie in „herzkaputt“. Aber dazu braucht man eben diese ganze, vielleicht ein Leben lang geübte Aufmerksamkeit für das, was uns geschieht.
Denn erst dann gelingt es, auch die zerbrechlichen Stimmungen einzufangen, aus denen unsere wacheren Tage bestehen: „im stundenglas wirft die sonne schatten / ich sitze im sternengeflüster / die geier fliegen tief / ich fürchte mondlose stunden …“ („hell sehen“)
Das klingt wie eine leise Reminiszenz an Goethes letzte Worte. Leiser, bescheidener. Kein Wort für die späteren Anekdoten. Sondern eins aus dem Gewebe des Tages. In dem wir verfangen sind. Und manchmal spüren: Alles bekommen wir dennoch nicht gefasst. „es zieht in den lücken / zwischen den nie geschriebenen zeilen“. („blaue stunde“)
Es bleibt so viel Ungesagtes, Nicht-Gefangenes. Also auch das Bedürfnis, morgen weiterzumachen und den Moment zu beschreiben zu versuchen, in dem wir spüren, wir wir sind. In dem wir versuchen, heil zu werden vom Lärm da draußen: „in der wörterbank / ist gleichheit nicht gefragt / brüderlichkeit aus der mode / nicht gendergerecht / freiheit wird stark nachgefragt / oft missverstanden / enttäuscht zurückgegeben / second-hand-verkauf funktioniert …“ („wörterbank“)
Auch solche Gedichte findet man in diesem mit Fotografien von Gudrun Wiesmann bebilderten Gedichtband – Gedichte zur Zeit. Zeit-Gedichte, die sagbar zu machen versuchen, wie erschreckend und zermürbend der Lärm ist. Diese allgegenwärtige Second-Hand-Freiheit, die immer nur „Ich!“ verkündet, aber tatsächlich nie bei sich ist. Nie in diesem bescheidenen Moment, in dem wir spüren, wie verletzlich und liebesbedürftig wir eigentlich sind.
Aber wer sucht nach Liebe, wenn er auf den Straßen „Freiheit!“ brüllen kann? Ein Gedichtband für alle, die sich wieder erden wollen im eigenen Leben. Und in der Gewissheit, dass jeder Tag ei Geschenk ist, bemerkenswert im reinen, poetischen Sinn.
Regina Jarisch „tatsächlich tanzen“ sisifo im Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2025, 19,95 Euro.
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