Haben wir keine Intellektuellen mehr? Gibt es keine intellektuellen Debatten mehr in Deutschland? Das Gefühl sagt: ja. Da ist etwas verloren gegangen. Nicht, dass sich lauter Berühmtheiten nicht regelmäßig lautstark zu Wort melden. Aber die Wortmeldungen plumpsen ins große Schaummeer der medialen Aufregungen. Manchmal gibt es dann noch großes Geheule, weil jemand sich beleidigt fühlt. Und dann ist wieder Ruhe im Karton. Versandet das Spektakel. Da fehlt etwas.

Ulrike Ackermann ist Politikwissenschaftlerin und Soziologin. „2009 gründete sie dort (in Heidelberg, d.Red.) das John Stuart Mill Institut für Freiheitsforschung und leitet es seitdem“, kann man bei Wikipedia lesen.

Und ihre These ist durchaus berechtigt: Wenn es in einer Demokratie keine öffentlichen Debatten mehr über die großen Fragen der Zeit gibt, fehlt die Orientierung. Demokratie lebt vom Streit der Positionen. Und zwar vom sachlichen Streit, bei dem die Kombattanten aufeinander eingehen, ihre Argumente begründen und vor allem auch unterschiedliche Denkansätze sichtbar werden. Eine Gesellschaft lebt vom Vorausdenken, vom Das-Mögliche-Denken, Zukunft-Antizipieren.

Und auch vom Verorten, vom klugen Erkunden, wo man eigentlich steht bei den großen Fragen von Freiheit, Gerechtigkeit, Glück und Teilhabe. Alles Themen, die heute die Debatte bestimmen müssten. Aber sie kommen nicht vor. Sind verdrängt von oft genug hysterischen Diskussionen über Grenzen, Kosten, „können wir uns nicht leisten“.

Auch unsere gesellschaftliche Debatte wurde völlig ökonomisiert. Und das bestimmt letztlich auch die Sieger-Verlierer-Berichterstattung in den Medien, die sich die Bezahlung kluger und nachdenklicher Beitragsschreiber alle längst gespart haben. Natürlich aus Kostengründen.

Wenn man aber die Nachdenklichen und Denkmutigen nicht mehr einlädt, ihnen keine Plattform mehr bietet, dann entsteht eine riesige Leere. Die dann mit Zank und Streit und Besserwisserei aufgefüllt wird. Mit dem, was Ackermann als Polarisierung beschreibt. Man redet nicht mehr miteinander, sondern schimpft nur noch über die Anderen in ihren Denkblasen.

Ganz zu schweigen von den enthemmten Medien, den sogenannten „social media“, wo alle Grenzen des Respekts und des Dialog vernichtet sind, wo sich nur noch blanker Hass und blanke Ablehnung austoben und genau das Bild entsteht, das so fatal ist: Ein völlig in Egoismus, Streit und Rechthaberei versunkener Westen.

Eigentlich tendiert Ackermanns Thema zu einer Medienanalyse. Auch wenn sie ausführlich versucht zu analysieren, wie die Intellektuellen aus den Medien verschwunden sind. Aber das deutet sie nur an. Und da wird es etwas kompliziert. Denn sie betont zwar an einer Stelle, wie unproduktiv das ewige Klippklapp von Links und Rechts ist – vor allem in der politischen Analyse.

Aber dann kritisiert sie dennoch seitenweise die wilden rechten und linken Positionen, betrachtet also selbst die Debatte unter einem sehr rigiden Links-Rechts-Schema, bei dem zumindest zu ahnen ist, dass sie die Mitte irgendwie bei den alten Volksparteien CDU und SPD verortet, die beide drastisch an Wählern verloren haben.

Sie verlässt also das vor allem von Medien benutzte Links-Rechts-Schema nicht wirklich und übernimmt auch ein Bild von Mitte, das sie im eigenen Text immer wieder konterkariert, spätestens, wenn sie feststellt, dass auch extreme Positionen zu Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus in der Mitte genauso zu finden sind wie an den Rändern.

Was also ist die Mitte? Welche Mitte meint sie? Die finanzielle? Die soziologische? Oder doch eher die bürgerliche Oberschicht, die auf robuste Bildungskarrieren und ein gutes Einkommen schauen kann? Das wird nicht wirklich klar.

Klarer wird, dass sie ihre Probleme hat, die Spaltung unserer Gesellschaft als eine ökonomische Spaltung zu akzeptieren. Was mit ihrer eigenen Position zu tun hat, denn so ganz unparteiisch ist sie als Gründerin des John Stuart Mill Instituts nicht, das sich ja dem Liberalismus verpflichtet fühlt.

Aber selbst Wikipedia zählt drei große Liberalismen auf, die durchaus im Konflikt miteinander stehen – etwa der Wirtschaftsliberalismus mit dem sozialen. Eine von Fesseln befreite (Markt-)Wirtschaft kann sehr produktiv sein und riesigen Wohlstand schaffen – aber sie kann auch die Welt an den Abgrund bringen, wenn sie die natürlichen Grenzen nicht respektiert.

Das heißt: Liberalismus an sich kann sich ebenso radikalisieren, wenn er die Freiheit des Egos überbetont, die Folgen eines entfesselten Wettbewerbs negiert und die sozialen Verpflichtungen, die einer Gesellschaft erst Frieden geben, dem Rotstift opfert. Diese Grunddiskussion ist eigentlich nötig, wenn man die Leerstelle in der gesellschaftlichen Debatte überhaupt definieren will. Einfach in Abgrenzung zu „Rechten“ und „Linken“ – das ist zu wenig. Erst recht, wenn Ulrike Ackermann zwar durchaus erwähnt, dass es vor allem ökonomische Entwicklungen sind, die unsere heutigen Gesellschaften zerreißen – das Argument von der aufklaffenden Schere zwischen Armut und Reichtum aber regelrecht abqualifiziert, weil es zum Repertoire der Linken gehört.

Denn die ökonomischen Verwerfungen haben ja nicht nur die Medienlandschaft verändert – und damit auch den großen konservativen Medien einen Großteil ihrer Deutungsmacht genommen.

Sie haben dafür gesorgt, dass es in allen westlichen Staaten mittlerweile wachsende Bevölkerungsgruppen gibt, die nicht nur das Gefühl haben, „Bürger 2. Klasse“ zu sein, sondern tatsächlich eine massive Prekarisierung ihres Alltags erleben.

Am Beispiel der „Gelbwesten“-Bewegung in Frankreich thematisiert sie es ja, wenn sie den französischen Geografen Christophe Guilluy zitiert: „Abseits der Metropolen sei ein zunehmend zersiedeltes Restgebiet entstanden, ,la France périphérique‘, und inzwischen profitierten daher eher Vorstadtbewohner arabischer und afrikanischer Herkunft eher von ökonomischen Entwicklungen als kleine Angestellte, Kleinbauern oder Rentner in entlegenen Regionen.“

Solche Regionen gibt es mittlerweile in allen westlichen Staaten. Und das hat Folgen. „Die oberen wirtschaftlich dynamischen Schichten können ihr Wohnviertel in Paris und die Schulen für ihre Kinder frei wählen. In einer Kleinstadt aber oder auf dem Dorf sei dies nicht möglich. Umso bedrohlicher erscheine es daher, wenn ein Krankenhaus geschlossen, die Schule in die nächstgrößere Stadt verlegt wird oder der Bäcker keinen Nachfolger findet.“

Wobei die Phrase von den „oberen wirtschaftlich dynamischen Schichten“ suggeriert, dass diese glücklicher, freier und selbstbestimmter sind. Oder sogar homogen.

Die „Mitte“ sind sie für Ulrike Ackermann übrigens auch nicht. Was verblüfft. Eher folgt sie dabei einigen wenig belastbaren Thesen, in denen heute in den (großen) Medien versucht wird, so eine Art städtisches Erfolgsbürgertum zu definieren. Das taucht bei Ulrike Ackermann dann zum Beispiel in einem Verweis auf den Philosophen Rüdiger Safranski auf: „Auch er kritisiert deshalb die abgehobenen, kosmopolitisch orientierten Eliten, die sich als stolze Weltbürger präsentieren und Heimatbezüge verächtlich als provinziell brandmarken.“

Die Diskussion des Heimatbegriffs zeigt dann, dass Ulrike Ackermann ein ganz ähnliches Elite-Modell verwendet. Was seltsame Folgen hat. Denn wenn man die heutigen Medien und das aus ihnen verschwundene Debattieren der Intellektuellen nicht analysiert, entsteht natürlich ein rätselhafter Raum, den auch Ulrike Ackermann dann mit Vermutungen füllt, wenn es um die Migrationsdebatte von 2015 geht: „Eine breite politische Debatte wurde anfangs unter dem Deckel gehalten, in der Öffentlichkeit und im Parlament. Das grüne und kirchliche Lager als Verteidiger der Humanität und multikulturellen Vielfalt propagierte am vehementesten offene Grenzen.“

Der Elitenbegriff verschwimmt hier völlig, weicht ausgerechnet dem, was Ulrike Ackerman dann selbst anhand anderer Filterblasen kritisiert: der Definition einer homogenen Gruppe mit einer eigenen Identität, der dann eine diffuse Deutungs- und Unterdrückungsmacht zugeschrieben wird.

Besonders deutlich, wenn sie versucht, das Selbstverständnis der an unseren Hochschulen ausgebildeten „zukünftigen gesellschaftlichen Leistungsträger in Politik, Wirtschaft, Kultur und Medien“ zu erfassen: „Und damit sind wir wieder bei den sogenannten liberalen kosmopolitisch und multikulturell orientierten Eliten angelangt, denen so viel Misstrauen entgegenschlägt. Liberal sind sie vor allem im Sinne des amerikanischen liberal, womit in den USA die Demokraten, also die Linken beziehungsweise Linksliberalen bezeichnet sind.“

Eine zumindest eigentümliche Definition, die die vielen stockkonservativen oder technokratischen Absolventen der Hochschulen ausblendet.

Eine wirkliche soziologische Untersuchung zu diesen großstädtischen gebildeten Milieus gibt es bis heute nicht. Immer wieder wird nur auf solche sehr undifferenzierten Verallgemeinerungen zurückgegriffen, um Dinge zu erklären, die sich damit nicht erklären lassen. Dass sich die vor allem in Städten lebenden Hochschulabsolventen durch ihren Lebensstil zwangsläufig von den kleinen Handwerkern und Angestellten in den peripheren Gebieten unterscheiden, ist ökonomisch geradezu zwingend.

Und es ist auch folgerichtig, dass sich ihre Sicht auf die Welt und die Veränderungen von der in Dörfern und kleinen Städtchen unterscheidet.

Das ist übrigens die Stelle, an der die Analyse beginnen müsste, warum unsere Gesellschaft immer mehr „zersplittert in immer neue Kollektive, die für ihre partikularen Gruppeninteressen kämpfen und mit ihrer teils rigiden, fundamentalistischen Identitätspolitik für eine weitere Fragmentierung der Gesellschaft sorgen.“

Was ja mehrere Schlüsse zulässt. Der eine betrifft tatsächlich die politische Debattenkultur, in der auch das liberale Lager sich gern in der Verächtlichmachung anderer hervortut. Und das andere ist die Frage, um die es die ganze Zeit geht: Wo sind die großen Moderatoren, die wenigstens eine Idee haben, wie man über die Veränderungen unserer Gesellschaft reden könnte, wie man auch den Diskurs zwischen unterschiedlichen Einzelinteressen herstellen kann? Das war mal eine liberale Tugend. Die gerade bei den Liberalen höchst selten geworden ist, seit sie das Primat der Wirtschaftsfreiheit über alles gesetzt haben.

Und damit ziemlich blind geworden sind dafür, dass unbegrenzte Freiheit auch die Machtfrage stellt. Denn Freiheit muss klug genutzt werden, empathisch, möchte ich mal sagen. Denn die eigene Freiheit schränkt immer die Freiheiten der anderen ein. Was Ackermann durchaus diskutiert in dem Kapitel, in dem sie sich mit der notwendigen Rolle einer klar definierten Nation zur Sicherung von demokratischen Freiheitsrechten beschäftigt.

Was übrigens der Punkt ist, an dem sie einen scheinbar völlig unüberbrückbaren Gegensatz zu den Multikulturisten und Kosmopoliten aufmacht und ihnen gar pauschal unterstellt, sie wollten allesamt Staaten und Grenzen abschaffen.

Lese ich die falschen Medien, dass mir ausgerechnet diese Forderungen durch die Lappen gegangen sein sollten? Eine bessere Integration der EU und Freizügigkeit im Reiseverkehr haben nun einmal nichts mit der Abschaffung von Staaten und Grenzen zu tun. Recht hat Ackermann, dass genau hier diskutiert werden muss, dass wir uns über starke Staaten, die Freiheitsrechte garantieren können, unterhalten müssen.

Da geht es nicht nur bei den selbsternannten Patrioten ans Eingemachte. Da geht es auch um gerechte Lastenverteilung, Steuer- und Wirtschaftsfragen. Auch die völlige Entfesselung der Märkte – gern unter dem Stichwort Globalisierung – schwächt Staaten und Regierungen, macht sie oft genug sogar handlungsunfähig.

Man kommt um den ökonomischen Aspekt der Freiheit nicht herum.

Was eigentlich auch heißt: Wenn man Ulrike Ackermanns Fragestellung zu Ende denkt, kommt man nicht zu einer „schweigenden Mitte“. Im Gegenteil. Niemand ist lauter und hat mehr Einfluss auf die mediale Diskussion.

Man kommt an einen ganz anderen Punkt: Denn die finanzielle Schwächung der Medien sorgt dafür, dass es wirklich streitbare Intellektuelle nicht mehr auf die besten Sendeplätze und die ersten Seiten der Zeitungen schaffen. Auch der große Historikerstreit der 1980er Jahre, den Ulrike Ackermann etwas ausführlicher betrachtet als exemplarische Intellektuellen-Debatte, war von Positionen getragen, die sich teils weit außerhalb der Mitte bewegten. Darunter auch sehr konservative und sehr linke.

Wenn sich heute der Streit scheinbar in die Hörsäle verlagert hat, wo radikale Studenten die Vorlesungen von kritisierten Professoren sabotieren, dann hat das auch damit zu tun, dass der Streit konträrer Positionen aus der medialen Öffentlichkeit verschwunden ist. Ein Streit, der sehr fruchtbar sein kann – auch für Studierende. Denn er zwingt dazu, sich mit den Argumenten der anderen auseinanderzusetzen und selbst argumentieren zu lernen. Differenziert und faktenbasiert.

Da ist dann eher die Frage, ob Medien in ihrer heutigen Zersplitterung überhaupt noch in der Lage sind, große gesellschaftliche Debatten anzustoßen und auch zu tragen. Ob dabei die diffuse Mitte in irgendeiner Weise zur Verortung hilft, wage ich mal zu bezweifeln. Was Ulrike Ackermann übrigens auch tut, ohne es zu merken: „Auch Intellektuelle stehen nicht über den Dingen und Verhältnissen, wie wir wissen, und neigen natürlich ebenfalls zur Lagerbildung.“

Auch liberale Intellektuelle. Die übrigens ebenso gern wie andere „in der derzeitigen Situation das Heil in einer Zuspitzung der Polarisierung suchen.“

Denn darauf sind unsere heutigen Aufmerksamkeitsmedien geeicht: auf Zoff, Rabatz, Streit und Skandal.

Man kommt immer wieder dahin: Man kann über die entgleisende gesellschaftliche Debatte nicht schreiben, wenn man die medialen Veränderungen nicht in den Blick nimmt. Und die dortigen Zwänge und Machtverhältnisse, die bestimmen, was und wie berichtet wird.

Die Intellektuellen, die fähig wären für richtig gute Debatten, die haben wir. Nur ist ihr Platz in der medialen Landschaft verloren gegangen. Da streitet sich heute eher die „Mitte“ über lauter Themen, die morgen schon wieder vergessen, abgehakt und weggesendet sind.

Ulrike Ackermann Das Schweigen der Mitte, wbg Theiss, Darmstadt 2020, 22 Euro.

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