Wahrscheinlich ist Gregor Gysi tatsächlich der einzige Bundespolitiker derzeit, der so ein Buch hätte schreiben können. Nicht nur, weil er als Politiker nichts mehr zu verlieren hat, kein Amt und auch keinen künftigen Top-Job bei irgendeinem Großunternehmen, das sich mit alten Top-Politikern den Aufsichtsrat verschönert. Und schon gar keine Wahl.

Auch in der Bundestagswahl 2021 holte er ein Direktmandat – eins der drei wertvollen Direktmandate, die der Linken doch noch den Einzug in den Bundestag ermöglichten, obwohl sie mit 4,9 Prozent eigentlich die 5-Prozent-Hürde nicht geschafft hatte.

Und wahrscheinlich hat sich auch kein anderer so viele Gedanken gemacht darüber, wie Politik auf die Bürger wirkt und warum so viele Wähler/-innen das Gefühl haben, dass sie weder die Regierenden verstehen, noch die Regierenden verstehen, was den Wählern auf der Seele brennt. „Nicht kommunizieren geht nicht“, wissen die Psychologen. Aber nirgendwo wird durch viel Reden so wenig und so schlecht kommuniziert wie in der Politik.

Einen Grund nennt Gysi schon im Untertitel: „… weil es um Mehrheiten und nicht um Wahrheiten geht“. Und diese Mehrheiten müssen alle vier, fünf Jahre neu erkämpft werden. Bei einem Wahlvolk, das wohl zu Recht das Gefühl hat, immer nur zu den Wahlen gefragt zu sein.

Und dann darf es wieder zuschauen bis zur nächsten Wahl, meist ziemlich frustriert, weil es meistens nur lauter Kompromisse bekommt, zu denen niemand erklärt, wie sie zustande kamen und wessen Interessen tatsächlich damit berücksichtigt werden.

Politik als Boxkampf-Inszenierung

Politik als eine Black Box. Obwohl doch so viel geredet wird, getwittert, gepostet und in Talkshows gestritten. Obwohl das mit Streit nicht viel zu tun hat, eher mit Phrasen und Schlagabtausch. Weshalb Gysi einer der beliebtesten Talkshowgäste ist, obwohl er Talkshows überhaupt nicht mag.

Aber er wirkt dort jedes Mal wie ein frischer Wind, weil ihm am üblichen Austausch der eh schon bekannten Argumente, Phrasen und Positionen nichts liegt.

Aber so sind die meisten Talks ja konstruiert – die ganze politische Elite der Republik taucht dort regelmäßig auf, darf zu gerade brennenden Themen etwas sagen, und die Choreografie ist so angelegt, dass die Fronten klar sind und sich am Ende alle fetzen und das Publikum eigentlich nur nur entscheiden kann, wer gewonnen hat und wer verloren.

Mit Demokratie hat das nicht viel zu tun. Und klüger ist man nach solchen Schlagabtauschen auch nie. Es sei denn, es sitzt einer in der Runde, der wirklich versucht, ins Gespräch zu kommen. Denn die wirklich wichtigen Probleme lassen sich nicht in anderthalb Minuten Statement abhandeln. Schon gar nicht erklären.

Logisch, dass Gysis Buch auch ein paar herrliche Strecken Medienkritik enthält – Kritik im urwüchsigsten Sinn: Beschreiben, was falsch läuft und warum es falsch läuft und was das mit der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie zu tu hat, die im Grunde eine Ablenkungsökonomie ist.

Zeit, die Dinge mal zu erklären, bleibt da nicht. Und damit haben alle Politiker/-innen zu tun, erst recht, wenn sie auch noch um Aufmerksamkeit in den „social media“ kämpfen wollen und müssen.

Wie Entscheidungsfindungen unsichtbar werden

Aber selbst die Reden im Bundestag werden fast nie dazu genutzt, die Dinge zu erklären. Oder gar zu erklären, was eigentlich längst schon hinter den Kulissen passiert ist. Denn der größte Teil der Arbeit im Bundestag (aber auch in Landtagen und Gemeinderäten) passiert nicht im Plenarsaal, auch wenn die Politikdarsteller aus dem blauen Topf ihren Wählern gern einreden, genau das sei der Fall. Das Veräppeln der Wähler ist ja so leicht.

Dabei findet der Hauptteil der Arbeit in den Ausschüssen statt, wo selbst die Abgeordneten aus der Opposition mitreden dürfen und sogar Gehör finden. Gysi erzählt hier ein Stück vom ganz normalen Funktionieren unserer Demokratie, das die meisten Deutschen nicht kennen.

Weil es ihnen auch die Medien nicht zeigen, weil die meisten Medien Politikberichterstattung genau so betreiben, wie sich die blauen Alternativen das so vorstellen: Als Schlagabtausch, bei dem der „Gegner“ öffentlich fertig gemacht werden muss. Demokratie als Boxring.

Wahrscheinlich ist Gysis Buch eins der wichtigsten zur Zeit, weil es auch erzählt, warum Politik öffentlich so falsch erzählt wird und warum so viele Politiker/-innen den Kontakt zu „denen da draußen“ verlieren, in eine Haltung rutschen, als wären sie tatsächlich Auserwählte, nur weil sie ein Mandat gewonnen haben.

Die da draußen

„In dem Zusammenhang heißt es auch oft, man müsse die Leute ‚abholen‘ oder ‚mitnehmen‘. Das ist der verhängnisvolle Sprachschatz von selbst ernannten Führenden, die ihren Auftrag darin sehen, die eher Unwissenden, Hilflosen gönnerhaft auf die richtige Wegstrecke zu bringen, also auf Kurs“, beschreibt Gysi dieses Phänomen.

„Als sei man Avantgarde, und als gehe man denen, die einen gewählt haben, missionarisch voran. Derartiges Vokabular diskreditiert das Wort von der Volksvertretung; man ist doch keinesfalls auserwählt, sondern eben nur gewählt. Und das auch noch zeitlich begrenzt.“

Das Buch ist gespickt mit so einfachen wie klaren Befunden. Als hätte es sich Gregor Gysi jetzt zur Aufgabe gemacht, die Rolle eines Volksvertreters einfach mal durchzudeklinieren – und sich selbst dabei zu verorten und zu befragen, warum er eigentlich damals die SED/PDS gerettet hat (schwer vorstellbar, dass das ohne Gysi geklappt hätte) und dann so lange dabei geblieben ist, obwohl auf jeden Fall in den ersten zehn Jahren keine Partei so viele Anfeindungen und Pöbeleien erlebt hat wie die PDS.

Aber einer wie Gysi schaut anders auf diese scheinbar festgemauerten Fronten, hinter denen sich Abgeordnete so gut verstecken können. Was auch die meisten tun, oft professionell geschult, um sich bei öffentlichen Reden ja keine Blöße zu geben, vor jeder Kamera souverän und abgeklärt zu wirken, auch wenn die Sätze, die dann ins Mikro gesprochen werden, überhaupt nichts sagen.

Schon gar nichts Persönliches. Weshalb Gysi einen Großteil seines Buches der Rhetorik widmet, ihrem Sinn und ihrer Erfindung bei den alten Griechen, die sich – als „Erfinder“ der Demokratie – natürlich eine Menge Gedanken gemacht haben über das öffentliche Sprechen und die Wirkung, die geschulte Rhetorik auf das Publikum hat. Die hat es nämlich. Im Guten wie im Schlechten.

Wissen, zu wem man eigentlich spricht

Wobei Gysi der deutschen Politik wahrscheinlich zu Recht attestiert, dass die meisten Politiker/-innen leider jegliche rhetorische Schulung vermissen lassen. Entsprechend dröge, fad und leblos wirken deren Reden.

Was Gysi so nie machen wollte. Da kam ihm, wie er erzählt, seine langjährige Arbeit als Anwalt zugute. Denn im Gerichtssaal kommt es noch viel mehr als im Plenarsaal auf Wirkung beim Reden an.

Anwälte, die herumstottern, den Faden verlieren, ihre Argumente nicht setzen können und Richter wie Schöffen nicht überzeugen können, erreichen für ihre Mandanten auch nichts. Sie müssen es schaffen, alle Zuhörer im Saal anzusprechen und Wirkung zu erzielen.

Vielleicht zieht es deshalb so viele Anwälte in die Politik, auch wenn nur wenige so eindrucksvoll reden können wie Gysi, der im Buch auch erklärt, warum er so redet, wie er es tut, warum er ungern über andere urteilt und sich selbst gern auf die Schippe nimmt.

Und warum er nicht den Applaus aus der eigenen Fraktion abfassen will, sondern immer zu den Vertretern der anderen Fraktionen spricht. So, wie er mit ihnen auch außerhalb der Plenarsitzungen spricht. Denn ihn interessieren tatsächlich die Menschen, die da sitzen, auch wenn sie Positionen vertreten, die nicht die seinen sind.

Damit hat er sich auch bei Konservativen und Liberalen Hochachtung erarbeitet. Eine Hochachtung, die eigentlich auf dem Grundstein aller Demokratie beruht: dem menschlichen Respekt voreinander und dabei den anderen in seinem Andresdenken immer auch als Mensch akzeptieren zu können.

„Wer nicht kompromissfähig ist, ist nicht demokratiefähig“, schreibt Gysi einen dieser einfachen Sätze, die im deutschen Politik-Feuilleton so schlecht ankommen, weil man dort Politik nur zu gern als ein Wrestling mit Sieg und k.o beschreibt. Als hätte der Unterlegene überhaupt keinen Anteil an der Demokratie, gäbe es immer nur Sieger und Verlierer. Wo es aber nur Sieger und Verlierer gibt, gibt es keine Kompromisse.

Die nicht mehr Gesehenen

Wenn aber selbst die Parteien, die die Mehrheit haben, so handeln, als wären damit auch die Interessen der Minderheit obsolet, bekommt man eine Politik der Privilegierten. Und etliche Kapitel widmet Gysi der Frage, wo dann nun eigentlich die Leute bleiben, die dann keine Vertretung mehr finden?

Eine wichtige Frage. Denn sie trägt zu den Frustrationserfahrungen derer bei, die sich dann von Politik nicht mehr vertreten sehen, resignieren oder gleich ganz abwandern in antidemokratische Ressentiments. Nicht vertreten heißt eben auch: nicht verstanden.

An mehreren Beispielen aus seiner politischen Laufbahn macht Gysi deutlich, wie sehr es im normalen Polit- und Talkshow-Sprech an Klarheit fehlt, wie die tatsächlichen Probleme, die unser Land ja hat, hinter Phrasen und Floskeln verschwinden.

Und damit letztlich aus dem Blick. Sie verlieren alle Relevanz, weil sie dann im Wortgebrauch einfach vernebelt werden, so wie die „bildungsfernen Kinder“ (eine Bosheit sondergleichen, wie Gysi feststellt) oder die „sozial Schwachen“ (eine Herablassung feinster Güte).

Dass Reden auch zur Manipulation und Täuschung dienen können, ist ihm nur zu bewusst. Und dass sie von manchem Redner auch so benutzt werden, ist ihm durchaus klar. Aber kann man auch mit Klartext das Publikum ansprechen und bannen? Kann man, stellt Gysi fest.

Man kann Gefühle zeigen und auch die eigene Verletzlichkeit. Denn Politiker sind auch nur Menschen. Und was sie wollen und denken, wird viel verständlicher, wenn sie sich nicht zu Allwissenden aufblasen, sondern so sprechen, dass sie auch verstanden werden.

Wobei Gysi dann meist gern betont, dass es auch Leute wie er verstehen müssen. Ein kleines eitles Understatement, das aber hier seinen richtigen Platz hat: Wer selbst nicht versteht, was er da am Rednerpult redet, hat eigentlich in der Politik nichts zu suchen. Denn Politik ist nun einmal zuallererst ein permanentes Problemelösen. Nicht Machthaben.

Demokratie ist nichts für Ahnungslose

Dass es um Macht geht, denken nur die Narren, die glauben, sie müssten andere Leute bevormunden und zu ihrem Glück zwingen. Und die meist mit Verachtung auf die Demokratie herabschauen und sich selbst für schlauer und klüger halten als die anderen im Saal. Leider lassen sich Wähler auch von diesem arroganten Machttypus viel zu leicht an der Nase herumführen.

Denn alles andere ist komplizierter. Auch Gysi macht eigentlich deutlich, dass Demokratie einen Wähler braucht, der mehr weiß und mehr wissen will, der eben nicht nur alle vier und fünf Jahre seine Stimme abgibt und dann erwartet, dass er sein Amazon-Päckchen pünktlich geliefert bekommt.

Der also auch in der Zwischenzeit mitmacht. Wenn er darf. Ein Thema, das Gysi im Kapitel „Ein Parlament, das laut denkt“ thematisiert. Denn der Wähler sieht heute fast nur die Vorführungen im Parlament, wo zwar jede Fraktion reden darf, wo aber im Grunde vorher schon alle Mehrheiten klar sind und die Gesetzestexte längst fertig.

Er erfährt nicht, wie die Gesetze entstanden, wie die Parteien in den Ausschüssen diskutiert und gerungen haben. Er sieht eine Regierungskoalition, die kraft ihrer Mehrheit einfach die quengelige Opposition überstimmt. Immer wieder. Und manchmal verschenkt die Regierungskoalition damit auch jede Menge Akzeptanz, lässt ein Bild entstehen, in dem das Parlament „nur der begleitmusikalische Apparat zum Abnicken der Regierungsarbeit ist“.

Was mit Demokratie, wie Gysi sie sich vorstellt, nichts zu tun hat. Demokratie wird erst sichtbar, wenn das Parlament auch als „wahrhaft diskutierendes, streitendes“ sichtbar wird. „Ein Parlament, das laut denkt.“

Demokratie lebt vom klaren Sprechen

Und bei dem die Wähler/-innen dann auch nachvollziehen können, warum es zu welchen Entscheidungen kam. Im Grunde macht Gysi mit seinem Buch klar, wie elementar alle Formen guter Rhetorik Kernbestandteil der Demokratie sind.

Und dass Demokratie überall da Schaden erleidet, wo Rhetorik falsch verwendet wird oder zu falschen Zwecken, wo geschönt und manipuliert wird. Und wo vor allem eins fehlt: Verständlichkeit und Klarheit für die Wähler/-innen, die das Ganze nun einmal angeht.

Auch wenn viele Politiker so reden, als ginge es „die Leute da unten“ oder „die Leute da draußen“ nichts an, als brauche man höhere Weihen, um politische Arbeit begreifen zu können.

Obwohl auf die Gewählten eins zuallererst zutrifft: Sie sind allesamt Amateure und Dilettanten. Manche im besten Sinne. Denn Demokratie ist nun einmal Politik von Amateuren für Amateure. Jeder Bürger kann gewählt werden. Und so wirft Gysi seinen Genossen auch vor, dass so manche reden, als würden sie allein die einzige Wahrheit kennen.

Das kommt bei den Zuschauenden gar nicht gut an. Das kommt wie Belehrung und Indoktrination an. Dabei lernt man viel mehr, wenn man Zweifel und Unsicherheiten zulässt und den anderen auch zuhört, das Gespräch zulässt – auch über Parteigrenzen.

Was manche Gysi-Rede eben so sympathisch macht: Er wird zwar deutlich, gibt aber gern auch zu, dass er Dinge nicht weiß. Und oft auch nicht weiß, ob der Vorschlag so auch funktioniert. Denn Politik ist nun einmal auch Ausprobieren. Auch die Herrschenden wissen vorher nicht, ob und wie das funktioniert, was sie zum Beschluss vorgelegt haben.

Ohne Visionen funktioniert Politik nicht

Wir sind alle Tastende, wenn es um die Zukunft geht. Aber wir kommen da nur hin, wenn wir uns was trauen. Auch Visionen muss man dazu haben, wie Gysi betont, der nichts schlimmer findet als die Selbstgerechtigkeit von Pessimisten, die immer schon wussten, dass das Ganze schiefgehen muss.

„Aber man sollte Zukunft nie den Abwinkenden überlassen“, schreibt er, „sondern sie für sich und seine Ideale in Anspruch nehmen. Den Kopf hochhalten, auch Rückschläge ertragen. Aus diesem Impuls heraus lebe ich.“

Am Ende weiß man wirklich in Grundzügen, warum viele Politiker/-innen solche Probleme mit dem Klartext haben und mit dem zugewandten Sprechen zu einem Publikum, das zwar meistens unten sitzt oder steht, das aber bei jeder Wahl entscheidet, wer für es ins Parlament einzieht.

Niemand hat mehr Respekt und Zuwendung verdient als „die da unten“. Egal, wie gut oder schlecht sie gekleidet sind, wie spendenfreudig oder wütend.

Und obwohl Gysi hier im Grunde den schönsten Essay über das Sprechen und Wirksamwerden als Politiker der letzten Jahre geschrieben hat, ist es trotzdem ein sehr persönliches Buch geworden. Eines, mit dem sich der begnadetste Redner der deutschen Linken auch selbst erklärt, warum er 1989 den Laden SED gerettet hat und dann – trotz aller Prügel – so lange dabei geblieben ist. Und es auch nicht bereut.

Gregor Gysi Was Politiker nicht sagen, Econ Verlag, Berlin 2022, 22 Euro.

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