Da haben die klugen europäischen Politiker seit Jahrzehnten an einem Wettbewerbsrecht gefeilt, dass ruhige Projektabwicklungen garantiert, weil man in jeder Verfahrensstufe klar geregelt hat, wer alles nicht mitreden darf. Und dann gehen diese schrecklichen Wutbürger auf die Straße und machen deutlich, dass ihnen die Großprojekte, mit denen sich einige Leute Ruhm erkaufen, gar nicht recht sind. Großprojekte haben in Deutschland spätestens seit "Stuttgart 21" ein Akzeptanzproblem.

Natürlich ist der Begriff “Wutbürger” einer aus dem politischen Wortschatz jener Politiker, die glauben, mit ihrer Wahl in Verantwortung seien sie dem Wähler nicht mehr verantwortlich, dann sei auch Kritik an ihrem Gebaren und ihrem Umgang mit Steuergeldern geradezu eine Anmaßung. Aber nicht nur die sparsamen Schwaben haben mitbekommen, dass eine der Ursachen für die Überschuldung der Republik auch die vielen patriarchalischen Großprojekte sind, die überall im Land entstanden sind und weiter entstehen. Sie reihen sich ja wie eine Perlenkette aneinander: Stuttgart 21, die Hamburger Elbphilharmonie, der Großflughafen BER.

Aber auch der Bau neuer Kraftwerke, von neuen Autobahnen und Stromtrassen stößt zunehmend auf Bürgerprotest. Was logisch ist: Kein Land ist mittlerweile so dicht mit Infrastrukturen bebaut wie Deutschland. Aber viele konkurrieren miteinander, jagen einander die Nutzer ab – die hochsubventionierten Flughäfen genauso wie die Schnelltrassen der Bahn und die zunehmenden Autobahn- und Bundesstraßenkilometer. Immer mehr fruchtbares Land verschwindet unter Beton. Und selbst Landschaften, die bislang abseits der verdichteten Verkehrstrassen lagen, werden auf einmal zu Planungsräumen. Die Rückzugsräume für Menschen, die nicht unbedingt neben einer Schnellstrecke wohnen wollen, haben sich rapide verringert.

Auch deshalb hat die Leipziger Agentur Hitschfeld ihre Längsschnittstudie “Akzeptanz von Projekten in Wirtschaft und Gesellschaft” gestartet. Und eine mittlerweile sehr gewaltige Partizipationskluft festgestellt. In Zeiten, wo eigentlich immer mehr Einbindung der betroffenen Bürger auf der Tagesordnung stünde, werden sie immer öfter mit einem arroganten Schweigen bedacht. Politiker und Projektträger behandeln die aufmüpfigen Bürger wie Störenfriede – und hauen ihnen dann lieber Vokabeln wie Wirtschaftsstandort und Arbeitskräftesicherung um die Ohren.

Dabei würde sich jeder zweite Deutsche bereit finden, sich für oder gegen privatwirtschaftliche oder öffentliche Vorhaben, wie den Bau von Windparks, Straßen oder Stromleitungen, zu engagieren. 60 Prozent stimmten dem zu. Im Mai 2013 hatte dieser Wert bei 49 Prozent gelegen.
Doch solchem potenziellen Engagement kann man düpieren. Und augenscheinlich haben Politiker und Projektmanager hier in den vergangenen Jahrzehnten ganze Arbeit geleistet.

Der Aussage “Die große Politik entscheidet und wir müssen die Folgen tragen” stimmen 85 Prozent der Befragten zu. Wobei eine gewisse Lamento-Haltung auch nicht zu übersehen ist, denn der Wert steigt bei den Älteren und bei den Befragten mit niedrigen Schulabschlüssen. Was natürlich auch wieder zeigt, dass Engagement immer auch Wissen, Kompetenz und Bereitschaft voraussetzt, sich wirklich einbringen zu wollen. Engagement vom Fernsehsessel aus ist ein Ding der Unmöglichkeit.

Der Aussage “Auch wenn er bei solchen Projekten unmittelbar betroffen ist: Der einfache Bürger hat praktisch keine Möglichkeiten, seiner Meinung Gehör zu verschaffen” stimmten im Juni 67 Prozent der Befragten zu. Die Projektgröße ist dabei nicht entscheidend.
“Der hohe Bereitschaftsgrad für bürgerschaftliches Engagement kommt nicht von ungefähr”, erklärt Unternehmensberater Uwe Hitschfeld. “Die Menschen sind sensibilisiert, nicht zuletzt durch die Medien und Geschehnisse um Bauprojekte wie Stuttgart 21 oder den Flughafen Berlin-Schönefeld.”

Doch nicht nur die hohe Bereitschaft der Bevölkerung, sich im Zuge von Projekten zu engagieren, ist konstant auf hohem Niveau: Auch die in den vorangegangenen Erhebungen vom Büro Hitschfeld definierte Partizipationskluft manifestiert sich als gesellschaftliches Phänomen. Dem hohen Aktionspotenzial steht ein großer Pessimismus gegenüber, was die eigene Rolle in der Gesellschaft und die Möglichkeiten, seiner Meinung Gehör zu verschaffen, angeht. Hitschfeld: “Das ist ein besorgniserregender Befund für eine Bürgergesellschaft, dessen Bedeutung weit über die Frage hinausgeht, wie man in Deutschland Infrastrukturprojekte künftig planen und umsetzen soll.”

Die spannende Frage in diesem Zusammenhang sei, welchen Effekt die Partizipationskluft habe. Denkbar seien zwei Szenarien: Entweder verstärkt das große Misstrauen die Aktionsbereitschaft oder es führt zu mehr Resignation und damit mittelfristig zur Abnahme der Bereitschaft sich zu engagieren.

Und damit auch zu einer zunehmenden Politikverdrossenheit. Was die Hitschfeld-Studie so direkt natürlich nicht untersucht. Aber Politiker, die Großprojekte vorantreiben, identifizieren sich auch in ihrer Politikerrolle mit diesen “Macherthemen”. Manchmal so sehr, dass sie das “Ding” durchziehen bis zum bitteren Ende. Bis die Kostenrahmen gesprengt sind und das Investitionsdebakel zur Abwahl führt.

Was dann eine ganz eigene Studie rechtfertigen würde: Wie stark ist die Spielermentalität in Politikern ausgeprägt? Und wie sehr ähnelt das einer Sucht?

Die Studie ist abrufbar auf:
www.hitschfeld.de

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