Es ist ein Preis, der für Furore sorgt, auch wenn es außerhalb der deutschen Verwaltungswissenschaft kaum einer mitbekommt: der mit 1.500 Euro dotierte Kommunalwissenschaftliche Preis der Carl und Anneliese Goerdeler-Stiftung. Am Montag, 3. Februar, wurde er zum 16. Mal vergeben. Diesmal an den jungen Verwaltungswissenschaftler Dr. André Göbel aus Halberstadt.

Der Wissenschaftler wurde am Montag für seine Dissertation geehrt. Das Thema: “Verwaltung als Standortfaktor für Unternehmen: Eine interdisziplinäre und multiperspektivische Analyse der Standortzufriedenheit von Unternehmen mit kommunalen Verwaltungen und Wirtschaftsförderungen”.

Dr. André Göbel ist Vertretungsprofessor für Verwaltungsmanagement und Wirtschaftsförderung am Fachbereich Verwaltungswissenschaften der Hochschule Harz sowie Leiter und Initiator der Labore für angewandte IT in der Wirtschaftsförderung am dortigen Campus Halberstadt. Als diplomierter und prämierter Verwaltungsinformatiker arbeitet er seit 2007 in verschiedenen Forschungsprojekten mit E-Governmentbezug und zudem als Lehrbeauftragter und Gutachter an der Hochschule für Wirtschaft und Recht in Berlin; zuvor war er ein Jahr in mehreren Bereichen der Bayer AG in China tätig sowie von 2003 bis 2006 in der Bundesanstalt für Züchtungsforschung.

Vor der Preisverleihung gab es traditionell die feierliche Blumenniederlegung am Denkmal von Dr. Carl Friedrich Goerdeler am Neuen Rathaus.

Und dann gab’s in Ratsplenarsaal Musik, Reden, Preisvergabe.

Das Thema ist ein hochaktuelles. Und André Göbel wusste schon, als er die dreieinhalbjährige Arbeit an seiner Doktorarbeit begann, dass er damit Grenzen überschreitet und Daten sammelt, wie es selten einer für seine Doktorarbeit tut. 2.600 Anfragen schickte er raus – die eine Hälfte an Unternehmen und die andere an Verwaltungsmitarbeiter, die mit Wirtschaftsförderung zu tun haben. Letztere auch noch nach Ebene gestaffelt. Was auch eine wichtige Erkenntnis bringt.

Die eine Erkenntnis ist uralt: Seit ungefähr 20, 30 Jahren befinden sich Dörfer, kleine, mittlere und große Städte in Deutschland in einem Standortwettbewerb. Gegeneinander. Ein Begriff, der früher überhaupt nichts mit Wirtschaft zu tun hatte. Es gab den Standort-Begriff im geografischen Sinn, dann gab es den Standort in der Biologie (wo steht ein Baum) und den Standort beim Militär, der meistens eine Kaserne war. Fertig der Lack.

Dann irgendwann in den 1970er Jahren tauchte der Standortbegriff in der Wirtschaftslehre auf – bei der Beschreibung von Wirtschaftskonkurrenz zwischen unterschiedlichen Staaten. Das Land war der Standort. Und so langsam nahmen die Staaten den Wettbewerb um die Konzerne auf, die auf einmal mobil wurden. Was ein Jahrhundert lang normal war, dass ein Konzern aufs engste mit einer Stadt und einer Region verknüpft war, galt auf einmal nicht mehr. Konzerne waren auf einmal so groß, dass sie Filialen und Ableger in anderen Ländern gründeten. Oder selbst umzogen.

Ein gesellschaftliches Denken, das immer mehr auf “Wettbewerb” umschaltet, kennt kein Halten mehr. Dem Rangeln der Staaten um Unternehmensansiedlungen folgte die Rangelei von Regionen und Bundesländern. Dem folgte spätestens mit Beginn der 1990er Jahre die Konkurrenz der Städte, Dörfer und Kreise. Dass dabei den Unternehmen, die jetzt auf einmal zwischen lauter tollen Ansiedlungsangeboten, wuchernden Subventionen, kostenlos hingebreiteten Infrastrukturen und anderen Geschenken wählen konnten, eine unheimliche Macht zuwuchs – das merken immer jene “Standorte”, die auf einmal in der Rangelei nicht mehr mithalten können, weil ihre Ressourcen verbraucht sind und sie nichts mehr zusetzen können.

Mit dem Wettbewerb an sich beschäftigt sich Göbel nicht. Er wollte einfach wissen, wie es an der Nahtstelle aussieht, da, wo sich Unternehmen und Verwaltung begegnen.

Mit dem also, was er Standortzufriedenheit nennt, eingebunden in Wirtschaftsgeographie und der Standortfaktorenlehre.Die Laudatoren heben besonders die starke Relevanz und Aktualität der Dissertation sowie ihren innovativen interdisziplinären Ansatz hervor. Die angewandte Methodik auf breiter, empirischer Basis in den beiden Sektoren Verwaltung (Eigenbildanalyse) und Unternehmen (Fremdbildanalyse) sei vorbildlich. Auch die interessanten Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen sowie die gegebenen Handlungsempfehlungen für die Praxis werden in der Begründung der Preisverleihung an Dr. Göbel besonders gewürdigt.

Eigenbild heißt: Wie sieht sich die Verwaltung selbst als Hüter und Heger der Wirtschaft, als Dienstleister insbesondere und Ansprechpartner für Unternehmen. Fremdbild ist dann die Außensicht der Unternehmen. Oder besser: der einzelnen Unternehmer, die schon gern mal vergrätzt reagieren, wenn die Verwaltung sich nicht ausmärt oder mit Bürokratie reagiert oder gar nicht.

Denn nicht nur in Leipzig trifft ein Phänomen zu, das bestätigte auch OBM Burkhard Jung bei der Preisvergabe: Für große Unternehmen entwickeln Verwaltungen ganz erstaunliche Geschwindigkeiten, für kleine haben sie oft keinen Nerv und kein Verständnis. “Porsche haben wir binnen 19 Tagen genehmigt. Das war schon spitze”, sagt Jung. “Bei Amazon haben wir sogar nur 16 Tage gebraucht.” Nur bei den kleinen heimischen Unternehmen fehle viel zu oft das Gespür. “Jawohl, Dr. Göbel, wir geloben Besserung”, versprach Jung.

Es wird schwer werden. Das weiß er selbst nun aus all den Arbeiten, die mit dem Goerdeler-Preis ausgezeichnet wurden. Und aus den Schriften Carl Goerdelers, der auch schon vor seiner Zeit als Leipziger Oberbürgermeister (1930 bis 1936) als exzellenter Verwaltungsfachmann und Verwaltungstheoretiker galt. Und der auch schon Arbeiten um Arbeiten schrieb über das Thema Modernisierung und Entbürokratisierung von Verwaltung. “Ich glaube bald nicht mehr daran, dass wir das wirklich schaffen”, sagt Jung ein wenig scherzhaft zum Thema Entbürokratisierung.

Aber andererseits steht jede Verwaltung permanent unter Veränderungsdruck. Wenn sich die Welt verändert, muss auch die Verwaltung sich ändern. Standortpolitik ist dabei ein Thema, das praktisch flächendeckend Verwaltungen zum Umdenken gezwungen hat. Eben weil all jene Mitspieler, die das Thema seit 1990 nicht erst genommen haben, weg vom Fenster sind. Jung hat gleich die ganze Liste all jener Gründungen aufgeführt, mit denen die Stadt mit einer Menge Aufwand um neue Unternehmensansiedlungen kämpft – seit Jahren schon. Von der eigenen Wirtschaftsförderung über die Stiftung Innovation und Technologietransfer bis hin zur erst 2013 aus dem Boden gestampften Wirtschaftsförderung Region Leipzig, in der man endlich mit den beiden Landkreisen kooperiert.

Spät kooperiert. Aber der Lernprozess hat über zehn Jahre gedauert, bis die drei Akteure begriffen haben, dass sie sich gegenseitig niederkonkurrieren im Kampf um Unternehmen, die der Region insgesamt nottun.

Das Standort-Denken muss also nicht mehr in die Verwaltungen. Es ist längst da. Mit kleinen Abstrichen, wie Göbel feststellt: die Mitarbeiter der unteren Hierarchieebenen wissen viel besser als die Führungskräfte, wie wichtig dieses Standort-Denken ist. Und noch eine Schieflage benennt er: Bei großen Unternehmen ist man in diesem Denken schon auf Augenhöhe und zu fast jeder Schandtat bereit. Dafür ist ein viel größeres und noch wichtiges Arbeitsfeld fast aus dem Fokus geraten: “Vor allem die Betreuung der bestehenden Unternehmen muss sich verbessern”, sagt Göbel. Da fehlt vielerorts das Sensorium. Denn wer schon da ist, hat andere Bedürfnisse als einer, der erst bauen will. Und die örtliche Wirtschaft reagiert – oft zu recht – gereizt, wenn ihre Belange einfach nicht wahrgenommen werden. Jung spricht zwar von einem Prozess des Austarierens.

Aber es ist auch ein Kommunikationsproblem. Mit einem Großen kann man anders sprechen als mit hundert Kleinen, die sich schon seit Jahren zurückgesetzt fühlen. Göbel fasst es in dem griffigen Satz zusammen: “Der Ton macht die Musik.”

Der sich dann mit der anderen Erkenntnis aus seiner Befragung koppelt, die sich mit dem Wettbewerb selbst beschäftigt: “Wer schneller ist, gewinnt.”

Das hört man dann in Halberstadt bestimmt mit einem etwas anderen Ton als in Leipzig. Aber der Standortwettbewerb nimmt auf die Größe der Stadt keine Rücksicht.

Es war die nunmehr 16. Verleihung des Goerdeler-Preises. Was schon eine Menge Holz ist. Denn, so Göbel: “Die früheren Preisträger gehören heute zu den namhaften Vertretern des Faches. Ich hätte nicht gedacht, dass ich in diesen illustren Kreis aufsteigen würde.”

Was die Stiftung jetzt zu Überlegungen bringt, in den nächsten Jahren doch einmal die Preisträger der früheren Jahre wieder in Leipzig zu versammeln und öffentlich darüber zu diskutieren, ob und wie ihre Arbeiten sich in Verwaltungshandeln verwandelt haben. Und noch eine Veränderung ist für 2015 angedacht: die Vergabe zweier gleichberechtigter Preise. Der eine, wie gehabt, zu kommunal-wissenschaftlichen Themen, die andere aber zu kommunal-politisch herausragenden Projekten. Also für modernes Verwaltungshandeln, das vorbildhaft ist. Da ist auch Burkhard Jung gespannt, was dann in Leipzig ein bisschen Öffentlichkeit mit dem Goerdeler-Preis bekommen wird.

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