Als 1894 Leipzig zum erste Mal Veranstaltungsort fรผr den Deutschen Historikertag war, gab es das Neue Rathaus noch nicht, stand an der Stelle noch die alte Pleiรenburg. 100 Jahre spรคter, als Leipzig zum zweiten Mal Austragungsort wurde, war die Stadt noch grau und die Neue Messe gerade im Bau. 2023 soll Leipzig zum dritten Mal Austragungsort fรผr den Deutschen Historikertag werden unter dem schรถnen Titel โFragile Faktenโ.
Vom 19. bis zum 22. September 2023 soll der nunmehr 54. Deutsche Historikertag in Leipzig stattfinden.
Warum der Historikertag das Motto โFragile Faktenโ bekommt, erklรคrt Thomas Urban vom Organisationsbรผro des 54. Deutschen Historikertags 2023 so: โBegriffe wie โFake Newsโ, โAlternative Faktenโ oder โFaktencheckโ sind seit einigen Jahren in รถffentlichen Debatten omniprรคsent. Wie in einem Brennglas spiegeln sie, wie in Politik und Gesellschaft um die Ermittlung von Fakten und wissenschaftlichen Erkenntnissen gerungen wird. Was gilt รผberhaupt als wahr, was als falsch, und welche Strategien erweisen sich als erfolgreich, wenn bestimmten Argumenten Geltungshoheit verschafft werden soll?โ
So aktuell diese Fragen in der รffentlichkeit diskutiert wรผrden, so elementar seien sie seit jeher fรผr die Geschichtswissenschaft.
โSchlieรlich stellt sich fรผr jede historische Analyse die Frage der Faktizitรคt, genauso wie der Blick in die Geschichte die vielen Kontinuitรคtslinien fragiler Fakten und den Umgang mit ihnen offenlegt. Nicht zuletzt lรคdt ein Nachdenken รผber die Fragilitรคt von Fakten zur Reflexion รผber die inhaltlichen, methodischen und theoretischen Grundlagen des Faches ein โ in einer Zeit, in der konstruktivistische Terminologie fรผr Relativierungen und Falschinformationen missbraucht wirdโ, betont Urban.
โFaktenfindung als Kompetenz der Geschichtswissenschaft wird wichtiger: wissenschaftlich, in der Schule, im Umgang mit Medien.โ
Gebrauch, Missbrauch, Manipulation
Geschichtswissenschaft ist nun einmal kein weltfremdes Forschungsgebiet. Im Gegenteil: Hier geht es um ganz konkrete soziale Entwicklungen, um die eigene Vorortung im geschichtlichen Prozess, um Wurzeln und Deutungen der Gegenwart โ bis in die Politik hinein.
Weshalb sich verschiedene Sektionen auf dem Historikertag auch mit Themen wie dem โalten und neuen Problem des politischen Gebrauchs bzw. gezielten Missbrauchs und der kommunikativen Manipulation historischer Faktizitรคtโ oder der fachlichen โReflexion รผber den Status und die Relevanz von Faktenbezug und Faktizitรคt fรผr Methodik und Theorie geschichtswissenschaftlicher Forschungโ beschรคftigen werden.
Aber auch die โmediale Kommunikation historischer Fakten und ihrer wissenschaftlichen (Re)konstruktionโ soll Thema werden. Immerhin sind es vor allem die Medien, welche die Menschen konsumieren, die ihnen ihr Bild der gemeinsamen Geschichte und der gemeinsamen Geschichtserzรคhlungen vermitteln.
Ein Bild, das oft altbacken und stereotyp wirkt, wenn man es tatsรคchlich mit dem Facettenreichtum moderner Geschichtswissenschaft vergleicht. Da braucht es auch mal eine klare Ansage von forschenden Historikern, wo man in der modernen Geschichtsforschung tatsรคchlich steht.
Einheit und Vielfalt der Geschichtswissenschaft
Der Historikertag soll dazu seinen Beitrag leisten, so Urban: โDer Verband fordert seine Mitglieder auf, den Leipziger Historikertag zu einer Werkschau aktueller Geschichtsforschung in ihrer Vielfalt รผber die Epochen, Themen und Methoden hinweg zu machen. Jenseits des Leitthemas sind zwei Drittel der Sektionsvorschlรคge fรผr frei wรคhlbare Themen reserviert. Wir hoffen, dass der Leipziger Historikertag so auch ein Zeichen setzen kann fรผr die Einheit und Vielfalt der Geschichtswissenschaft.โ
Und noch etwas soll deutlicher werden: Geschichtsforschung hat nichts mit nationaler Selbstbespiegelung und Beweihrรคucherung zu tun. Urban: โZiel ist es, den Leipziger Historikertag 2023 darรผber hinaus zum Spiegel der internationalen Verflechtungen der aktuellen geschichtswissenschaftlichen Forschung zu machen. Grenzรผberschreitende Diskussionen und die Prรคsenz internationaler Kolleg/-innen sind ausdrรผcklich erwรผnscht.โ
Denn oft sind es Forscher/-innen, die in anderen universitรคren Strukturen forschen, die auch einen neuen und damit erhellenden Blick auf nationale Geschichte einbringen und Prozesse neu und gewinnbringend interpretieren. Wer Abstand hat, sieht oft mehr. Oder sieht รผberhaupt erst das Wesentliche, weil er oder sie ohne Scheuklappen auf historische Ereignisse schauen kann.
โIm Zuge des Kongresses werden 3.000 bis 4.000 Historikerinnen und Historiker im September 2023 nach Leipzig kommen, um ihre Forschungen zu prรคsentieren und vergangene, aber auch aktuelle Fragen unter dem Motto โFragile Faktenโ zu diskutieren. Ebenso wird es ein Programm fรผr Schรผlerinnen und Schรผler und Lehrkrรคfte gebenโ, kรผndigt Milan Spindler an, der den Historikertag in Leipzig mit vorbereitet.
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