Für Liebhaber der Menschheitsgeschichte ist dieser Harald Meller, Landesarchäologe von Sachsen-Anhalt, ein Glücksfall. Denn er hat wie kaum ein anderer in seiner Zunft verinnerlicht, dass sich Geschichte nun einmal über Geschichten erzählt. Große Geschichten. Spannende Geschichten. Menschliche Geschichten. So wie es die Geschichte der Schamanin von Bad Dürrenberg ist, die er hier wieder gemeinsam mit dem Historiker Kai Michel erzählt.

Mit Kai Michel zusammen hat er schon die Geschichte der berühmten Himmelsscheibe von Nebra erzählt und in „Die Himmelsscheine von Nebra“ die Konturen eines bis dato unbekannten Reiches der Bronzezeit im heutigen Mitteldeutschland sichtbar gemacht.

Mit „Griff nach den Sternen“ schrieben sie praktisch die Fortsetzung dieses Buches und verorteten dieses Reich über zahllose Artefakte aus dem mitteldeutschen Raum in einem großen Netzwerk der Bronzezeit, das das schriftlose Gebiet an Saale und Elbe mit den großen Kulturen im Nahen Osten und am Mittelmeer verband.

Als wir noch in den Wäldern lebten

Mit „Das Rätsel der Schamanin“ freilich nehmen sie die Leser mit in eine ganz andere Zeit, die noch viel geheimnisvoller ist, weil noch ferner und noch viel schwieriger in Bodenfunden nachzuweisen. Es geht gleich mal 9.000 Jahre zurück, in eine Welt voller Wälder, in das Europa wenige Jahrtausende nach der letzten Eiszeit.

Die riesigen Steppenbewohner, wie sie noch heute in den Höhlen Südfrankreichs und Spaniens zu sehen sind, sind verschwunden, denn als das Eis sich zurückzog und die Böden auftauten, wanderte auch der Wald nordwärts, machte Europa zu einer Waldwelt, in der die Menschen vom Jagen der deutlich kleineren Waldtiere lebten, von Fischfang und dem Sammeln der Waldfrüchte.

Europa war dünn besiedelt. Doch in den riesigen Wäldern fanden die Menschen alles, was sie zum Leben brauchten. In gewisser Weise war das auch hier an Saale, Unstrut und Elbe ein Paradies.

Aus dem die Menschen erst 2.000 Jahre später vertrieben werden würden, als die Ackerbauern und Tierzüchter aus dem Fruchtbaren Halbmond nach und nach die Donau aufwärts gewandert kamen und auch im heutigen Sachsen und Sachsen-Anhalt die sesshafte Lebensweise einführten. Die Landwirtschaft konnte zwar deutlich mehr Menschen ernähren.

Doch mit ihr kamen auch die großen Seuchen, die fortan die Zivilisationsgeschichte der Menschheit prägen sollten, kamen Besitz, Herrschaftshierarchien und das Patriarchat.

Und es begann der Verlust der Einheit mit der Natur, die für die kleinen Jäger-und-Sammler-Gemeinschaften im Gebiet um die Salzquellen von Bad Dürrenberg noch selbstverständlich war. Eine Welt-Beziehung, die auch heute noch bzw. wieder für viele Menschen mit Spiritualität zu tun hat.

Dunkel, blauäugig und ganz bestimmt eine Frau

Und dabei hatte die für heutige Verhältnisse noch recht junge Frau, die heute im Museum für Landesgeschichte in Halle zu sehen ist, noch gewaltiges Glück. Denn als sie 1934 im Kurpark von Bad Dürrenberg gefunden wurde, hätte sie durchaus Teil des rassistischen Missbrauchs der Geschichte durch die Nazis werden können.

Auch diese Geschichte erzählen die beiden Autoren, eine Geschichte mit Hintersinn. Denn weder das Geschlecht wurde damals richtig bestimmt, noch der Status, den die an dieser prominenten Stelle auf einem Plateau begrabene Person in ihrer Gemeinschaft hatte. Für die Ausgräber war die hier bestattete Person ein weißer, mächtiger Mann und damit quasi der Beweis für ihren pseudowissenschaftlichen Rassismus.

Doch die hier mit erstaunlich reichen Grabbeigaben Bestattete war eindeutig eine Frau. Und mittlerweile ist ja auch die Archäogenetik so weit entwickelt, dass die Forscher aus Halle nur ins benachbarte Leipzig ins Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthopologie fahren müssen, um aus dem möglicherweise erhaltenen genetischen Material in den 1934 und bei der Nachgrabung 2019 gefundenen Knochen noch weitere Informationen über die begrabene Person herausfinden zu können.

Und was zu erwarten war, wurde bestätigt: Die junge Frau war nicht weiß. Was vor der Ankunft der Ackerbauern aus Anatolien mit ihrer stärkehaltigen Ernährung auch ein Unding gewesen wäre. Sie hatte ganz gewiss eine dunkle Hautfarbe und wahrscheinlich blaue Augen.

Und sie lebte in einer Jägerkultur. Ihr waren Jagdwaffen mit ins Grab gegeben worden – eine Grabbeigabe, die schon etliche Wissenschaftler mit unhinterfragten Vorurteilen in die Irre geführt hat. Alte Geschichtsbücher sind voller stolzer Fürstengräber, die sich längst als die reichen Begräbnisse mächtiger Frauen erwiesen haben.

Das tiefe Bedürfnis nach sozialer Geborgenheit

Denn das Patriarchat mit seinen von Männern definierten Macht- und Besitzverhältnissen ist aufs Engste mit einem Merkmal der neolithischen Revolution verbunden: dem Umzäunen, Abteilen und damit Inbesitznehmen von Land. Etwas, was die alten Jägerkulturen nicht kannten und auch nicht brauchten.

Kein Wunder, wenn Harald Meller und Kai Michel sehr dezidiert darauf eingehen, wie die Inbesitznahme von Land erst all die Prägungen der modernen Kultur hervorbrachte, die oft so heillose Folgen haben. Denn Besitz definiert Macht und Hierarchien.

Auf einmal gibt es etwas zu vererben, ist die Macht des Mannes, der Acker und Weide bewirtschaftet, stärker gewichtet, entstehen komplexe Gemeinschaften mit Arbeitsteilungen und Machtverhältnissen.

Gab es also vorher das Matriarchat? In der heute oft propagierten Reinform, so Meller und Michel, ganz bestimmt nicht. Die Gruppen von Jägern und Sammlern, die durch die Wälder streiften, waren viel kleiner, nur wenige Dutzend Menschen, so klein, dass alle aufeinander angewiesen waren. Sich einem bärbeißigen Anführer unterzuordnen, wäre für sie wahrscheinlich tragisch ausgegangen.

Auch wenn wir den sozialen Verbindungen in diesen kleinen Gruppen im riesigen europäischen Urwald wohl nie ganz nah kommen können, steckt hier sehr wahrscheinlich eine Erklärung für unser immer mehr zunehmendes Missbehagen an der Zivilisation, die wir uns seit dem Sesshaftwerden aufgebaut haben. Alles hat seinen Preis.

Und der immer größer werdende Abstand zur ungestörten Natur macht unserer Psyche immer mehr zu schaffen. Viele Leiden an der Zivilisation gehen auf die verlorene Einheit mit der lebendigen Welt zurück, die für alle unsere Vorfahren bis vor 9.000 Jahren normal war.

Das ist unseren Genen genauso eingeschrieben wie unserer Psyche. Denn in evolutionären Zeiträumen betrachtet sind 7.000 oder 9.000 Jahre viel zu kurz, als dass sich unser Gefühlshaushalt als Mensch den völlig anderen und oft verstörenden Bedingungen der Zivilisation hätte anpassen können.

Was bedeutet eigentlich Schamanismus?

Darauf gehen Meller und Michel sehr ausführlich ein, denn sie wollten verstehen, welche Rolle diese so reich bestattete Frau aus dem Kurpark von Bad Dürrenberg damals für ihre Gemeinschaft spielte. Den Titel Schamanin hatte sie schon früher bekommen, denn viele ihrer Grabbeigaben deuteten darauf hin, dass sie für ihre Gemeinschaft so etwas wie eine Heilerin war, eine Deuterin, eine Beherrscherin der Trance und der geistigen Verbindung in die Anderwelt, die Welt der Tiergeister.

Denn für die Menschen dieser Vorzeit war die Welt noch beseelt. Welche Rolle Träume, Trance und diverse psychedelische Substanzen dann tatsächlich in den Praktiken der Schamanin spielten, lässt sich nur rekonstruieren.

Mit Vorsicht, wie die beiden Autoren betonen, denn auch der Begriff Schamane ist belastet, ist geprägt vom kolonialen Blick der Europäer auf die scheinbar wilden Völkerschaften – in diesem Fall die Indigenen Sibiriens, die längst schon der kolonialen Rücksichtslosigkeit der Zaren und der Sowjetzeit unterworfen wurden. Der Schamanismus, wie ihn die mit „christlicher“ Brille auf diese Völker blickenden Europäer sahen, wurde regelrecht ausgerottet.

Es brauchte lange, bis weniger von Vorurteilen besessene Europäer begannen, den Schamanismus zu rehabilitieren und die Funktion dieser heilenden und helfenden Personen in indigenen Kulturen als ein weltumspannendes Phänomen zu begreifen, das eben überall auch anders genannt wurde und oft auch völlig verschiedene Zutaten hatte.

Harald Meller und Kai Michel laden die Leser regelrecht ein, den möglicherweise irreführenden Begriff zu dekonstruieren und auch seinen vielfältigen Missbrauch durch die scheinbar „überlegenen“ Eroberer aufzuzeigen.

Am Ende bleiben sie bei dem Begriff, erklären auch, warum, und haben dabei auch gleichzeitig ein Bild davon gezeichnet, was die Schamanin von Bad Dürrenberg für ihre Gemeinschaft gewesen sein muss.

Letzteres ohne Fragezeichen, denn welche Achtung die Frau bei ihren Mitmenschen genoss, erzählen die Grabbeigaben, die nun einmal – wie die Autoren betonen – zuallererst von den Hinterbliebenen erzählen. Denn sie bestimmen, wie die Verstorbenen begraben werden und welche Beigaben sie mit ins Grab bekommen.

Im Einklang mit der lebendigen Welt

Wobei es schon eine Ausnahme gewesen sein muss, dass Menschen damals überhaupt begraben wurden. Denn so im Einklang mit der Natur lebende Menschen, die darauf angewiesen sind, dass das Wild auch morgen noch da ist und das Überleben quasi durch einen immerwährenden Tausch mit der Natur erhalten bleibt, dürften ihre Toten wohl eher der Natur zurückgegeben haben – etwa in Baumkronen aufgebahrt.

Und wie nah diese Menschen der Natur noch waren, erzählen ja die Rehmaske, die der Schamanin mitgegeben wurde, genauso wie viele Knochen und Tierzähne, die sich in ihrem Grab fanden.

Und auch das Rätsel des nur wenige Monate alten Kindes, das der Schamanin mit ins Grab gegeben wurde, konnte zum Teil gelöst werden. Die beiden Autoren machen es wirklich spannend und lassen ihre Leser regelrecht teilhaben an jeder neuen Entdeckung, die mit den Nachgrabungen von 2019 und der Anwendung moderner Technik gemacht werden konnte.

Und trotzdem ist es nicht die Technik, die triumphiert. Denn mit der Beschäftigung mit den modernen Schamanismen und all den anderen spirituellen Bewegungen unserer Zeit wird letztlich klar, dass diese 9.000 Jahre alte Frau auch für etwas anderes steht – nämlich das tiefe menschliche Bedürfnis des Menschen nach einer gefühlten und erlebten Einheit mit der Welt, in der er lebt.

Eine Einheit, die immer mehr Menschen vermissen und auch nicht wissen, wie sie sie wiederfinden können.

Und auf einmal geht es um die Frage, wie wir als Menschen glücklich sein können in dieser Welt. Einer Welt, deren Reichtum vor unseren Augen verschwindet. Und noch etwas anderes ging verloren:

„Auch was die realen menschlichen Netzwerke angeht, sind wir tief in die roten Zahlen gerutscht. Parallel zu den geschilderten Ereignissen der letzten Jahrtausende sind unsere sozialen Beziehungen zu Menschen erodiert“, schreiben Meller und Michel im letzten Kapitel, das den sehr aussagekräftigen Titel trägt „Von allen guten Geistern verlassen“.

„Erst lösten sich die Gruppen der Jäger und Sammler auf; dann trat eine Welt an ihre Stelle, die immer stärker von Konkurrenz und Hierarchien bestimmt wurde und die Menschen voneinander entfremdete.“

Falsche Werte

Und als dann gar der „homo oeconomicus“ als Konstrukt in die Welt gestellt wurde, wurden endgültig die falschen Werte zum Ideal erhoben – Eigentum, materieller Wohlstand, Geld. Aber Eigentum, so stellen die Autoren fest, „spendet schlicht kein Gefühl der Geborgenheit“.

Das Immermehr macht weder glücklich noch zufrieden, denn es führt zu nichts. Schon gar nicht zu dem Gefühl, geliebt und geborgen zu sein in der Welt. „Wir verfügen in materiellen Dingen über kein Sensorium, das uns signalisiert: Es reicht.“

Aber gerade der Blick auf diese besondere Frau, die da vor 9.000 Jahren in einem unübersehbar reichen Grab bestattet wurde, erzählt deshalb von dem, was heute fehlt und wofür „der Markt“ immer mehr Surrogate anbietet: „Gerade jene Plattformen boomen, denen es am besten gelingt, uns eine Welt der Freundschaften und des spontanen Miteinanders vorzugaukeln.“

Das heißt: Ein riesiger Markt macht seine Geschäfte damit, uns jene soziale Geborgenheit vorzugaukeln, die wir alle suchen. Nur dass wir immer noch glauben, dass wir uns nur die nötigen Dinge kaufen müssten, um das zu realisieren, statt lieber unsere Energie in echte soziale Kontakte zu stecken. So haben wir immer mehr „friends“ und „follower” und werden trotzdem immer isolierter und einsamer.

Die Schamanin von Bad Dürrenberg erzählt im Grunde von diesem tiefen Bedürfnis und gleichzeitig von der tiefen Verehrung ihrer Mitmenschen für die Rolle, die sie in dieser Gemeinschaft spielte.

Und Gemeinschaft meint eben nicht nur die Menschen aus ihrer kleinen Gruppe und den benachbarten Jägergruppen, zu denen enge Kontakte bestanden. Es meint auch die belebte Natur, die wir heute zur „Ressource“ gemacht haben und uns wundern, dass diese „Ressource“ von denen, die sie besitzen, immer weiter verbraucht, missbraucht und zerstört wird.

Die Welt vor unseren Augen

Gerade die Geschichte der Schamanin lässt einen völlig anderen Blick zu und macht sichtbar, wie tief unser Bedürfnis als Menschen nach einer lebendigen Mitwelt ist und wie elementar unser Bedürfnis nach sozialer Geborgenheit ist. Nach echten sozialen Netzwerken.

Jedenfalls öffnet das Buch nicht nur den Blick auf eine ganz außergewöhnliche Person, die vor 9.000 Jahren für die Menschen in dieser Region eine ganz besondere Rolle gespielt haben muss.

Es stellt auch allerlei Fragen an unsere Gegenwart, in der auch diverse Schamanenkulte blühen, weil immer mehr Menschen irgendwie auf der Suche sind nach einem Einklang mit der Welt, den Wurzeln und dem Sinn ihres Daseins. Dass es im materiellen Immermehr nicht zu finden ist, ahnen die meisten. Aber wo suchen, wenn die lebendige Welt vor unseren Augen in die Binsen geht?

„Die stumm gewordene Welt, die aus einem Verlust der menschlichen wie animistischen Netzwerke resultierte, hat einen Phantomschmerz zur Folge, der uns quält, ohne dass wir recht wissen, warum. Uns plagt eine kaum bewusste, unbestimmbare Sehnsucht, hinter der sich ein Verlangen nach sozialer Resonanz verbirgt, wie der Soziologe Hartmut Rosa gezeigt hat. Wir haben alle gelernt, damit zu leben“, schreiben Harald Meller und Kai Michel. „Trotzdem befindet sich etwas in uns in einem Alarmzustand.“

Nur werden wir heutige Wege finden müssen, um wieder Geborgenheit und ein wirklich belastbares Gefühl der Sicherheit in unser Leben zu bringen. Die Vernunft trauen uns die beiden Autoren durchaus zu.

Kai Michel; Harald Meller Das Rätsel der Schamanin Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 28 Euro.

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Warum muss immer alles von Kulturpessimismus triefen? Ist „Walden“ als Asyl für z. B. alle Leipziger tauglich? Ist es wirklich der Gegensatz Natur und Gesellschaft oder steckt der Gegensatz vielleicht eher in der Gesellschaft selbst? Waren die Tasmanien glücklich, als sie in der Isolation sogar den Bootsbau „vergaßen“, der sie einst auf die Insel gebracht hatte? Zum Entstehen von Herrschaft – nein, das ist nicht deckungsgleich mit Patriarchat! – ist im 20. Jhd. viele geforscht und geschrieben worden – damit eventuell Mellers verdienstvolle Belletristik ergänzen.
Ich möchte nicht einmal 50 Jahre zurück, wenn ich an die Zahnarztstühle der Zeit denke. Und die Leipziger Internetzeitung hätte es vor 9.000 Jahren nicht einfach gehabt – Schamanin hin oder her. 😉

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