Eine Frage bewegt die Eltern in Sachsen schon seit Jahren: Wie kommt es, dass so viele Kinder auf Förderschulen landen, obwohl sie da gar nicht hingehören? Ein paar genauere Fragen wollte dazu die bildungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion im Sächsischen Landtag, Annekathrin Giegengack, gern beantwortet haben von Kultusminister Roland Wöller. Am 16. März schickte sie ihre Fragen. Am 20. März trat er zurück.

Hat zwar auf den ersten Blick beides nichts miteinander zu tun. Zurückgetreten ist Wöller ja, weil er mit den alten Methoden des Aussitzens und Wegduckens das Lehrerproblem im Freistaat nicht mehr austarieren konnte. Das 32-Seiten-Bedarfspapier, das er hatte erstellen lassen zum Lehrerbedarf, spricht eine deutliche Sprache und seine Nachfolgerin, die parteilose Brunhild Kurth, müsste eigentlich genauso wie er nach schnellen, unbürokratischen Wegen suchen, neue Lehrer in Dienst zu nehmen.

Vielleicht tut sie es auch. Vielleicht ist sie aber auch noch mit dem Abarbeiten der Papierberge auf Wöllers Schreibtisch beschäftigt. Dazu gehört auch das Beantworten der Abgeordneten-Anfragen. Und – hoppla – die Kleine Anfrage (Drs. 5/8627) hat justament mit ihrem bisherigen Wirkungskreis zu tun. Denn bis zu ihrer Berufung als Kultusministerin war Brunhild Kurth Leiterin der
Bildungsagentur Chemnitz, über Jahre also auch zuständig für die dortigen Schulfeststellungsbescheide, mit denen Kinder zum Besuch der Förderschule verpflichtet wurden. Und das – obwohl sie größtenteils den Voraussetzung der Förderschule gar nicht entsprachen.

Da staunte Annekathrin Giegengack selbst. Nach den Chemnitzer Verhältnissen hatte sie ja nur gefragt, weil das zufällig auch der Wahlkreis ist, in dem sie aktiv ist.

“Anlass zu der Kleinen Anfrage war die Tatsache, dass die Stadt Chemnitz vielen Eltern von Kindern der Sprachheilschule Chemnitz nach Prüfung der Voraussetzungen seit Februar keine Eingliederungshilfe mehr zahlt”, erklärt sie zum Grund ihrer Nachfrage. “Nach den Vorschriften der Eingliederungshilfeverordnung stehen diese Leistungen nur Personen zu, die als wesentlich behindert gelten.”

Aber die Antwort, die jetzt entweder die Ministerialbeamten selbst oder die Ministerin oder beide im Zusammenwirken erstellten, enthüllt einen Mechanismus, der zumindest in Chemnitz jahrelang dafür sorgte, dass auch Kinder an der Förderschule landeten, denen mit einer Integration in die Regelschule besser gedient gewesen wäre. Und das Erschreckende: Sie stellten an der Förderschule sogar die Mehrheit.”Allerdings war in den letzten Jahren festzustellen, dass nicht mehr nur körperlich behinderte bzw. sinnesbehinderte Kinder den entsprechenden Förderschulen zugewiesen wurden, sondern in immer größerem Umfang Kinder aufgenommen wurden, deren individuellem sonderpädagogischen Förderbedarf eine Förderschule, bspw. aufgrund kleinerer Klassenstrukturen und intensiver Betreuung, besser entsprechen konnte als eine Regelschule”, heißt es in der Antwort der Ministerin. Sie spricht sogar von einem Automatismus, der sich eingeschlichen hatte.

Das wäre auch munter so weiter gegangen, hätte die Stadt Chemnitz, die für die Finanzierung auch der Ganztagshortbetreuung in den Förderschulen als Sozialhilfeträger verantwortlich ist, nicht auf eine Überprüfung der Praxis gedrungen.

“In der Stadt Chemnitz erfolgte dies im ersten Schulhalbjahr 2011/12”, heißt es in der Antwort der Ministerin. “Im Ergebnis der Prüfungen wurde festgestellt, dass vergleichsweise wenige Schüler der o. g. Förderschulen dem anspruchsberechtigten Personenkreis des SGB XII zuzuordnen sind. Vielmehr handelt es sich im Wesentlichen um Kinder mit einer Beeinträchtigung einer oder mehrerer physischer oder psychischer Funktionen, für die der Schulträger gemäß § 16 Abs. 3 SchulG i.V.m. SächsFöSchulBetrVO bedarfsgerechte Betreuungsangebote vorhält.”

Warum diese Kinder trotzdem an eine Förderschule verpflichtet wurden, begründet die Ministerin damit, dass die dort herrschenden Voraussetzungen besser dem individuellen Förderbedarf der Kinder gerecht werden. Dabei sind die Förderschulen die einzige Schulart in Sachsen, für die sogar offiziell Lehrermangel eingeräumt wird. Im Gegensatz zu allen anderen Schularten ist der Grundbereich an den Förderschulen seit Jahren nicht mehr gesichert und der Unterrichtsausfall ist von vornherein eingeplant. Sollten die Regelschulen am Ende einfach nur von den “schwierigen” Kindern entlastet werden?

Allein in diesem Schuljahr sind 62 Lehrerstellen an Förderschulen offiziell unbesetzt.

“Hat hier die Ministerialbürokratie die neue Ministerin vorgeführt und sich selbst Fehlverhalten als Bildungsagenturchefin attestieren lassen? Oder sind das die Wetterleuchten einer neuen Strategie der Ministerin im Umgang mit behinderten Kindern?”, will die grüne Bildungspolitikerin wissen. Bei dem Entzug des Status “wesentlich behindert” gewinnen Land und Kommune gleichermaßen. Das Land muss die Kinder nun nicht mehr offiziell nach UN-Behindertenrechtskonvention integrieren, da sie ja gar nicht behindert sind, und die Kommune spart das Geld für die Eingliederungshilfe.

Und weil das augenscheinlich nicht nur in Chemnitz so gewesen ist, soll eine Nachfrage jetzt diesbezüglich Klarheit bringen.

“Warum wurden in den letzten Jahren so viele Kinder von der Bildungsagentur an Förderschulen verwiesen, wenn die Voraussetzungen gar nicht gegeben waren?”, will Giegengack jetzt wissen. “Wie wurde dem Förderbedarf der Kinder entsprochen, bei der schwierigen Lehrersituation an den Förderschulen? Gab es vor der Entscheidung, keine Eingliederungshilfe mehr zu zahlen, Absprachen zwischen der Stadt Chemnitz und der Bildungsagentur und wird dies noch mehr Kinder an Förderschulen treffen?”

Die Kleine Anfrage “Ganztagsbetreuung an der Sprachheilschule Chemnitz” (Drs. 5/8627): http://edas.landtag.sachsen.de

Die Kleine Anfrage Nachfrage zu Drs. 5/8627 (Drs. 5/8860): http://edas.landtag.sachsen.de

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