Nicht nur der "Spiegel" ist völlig aus dem Häuschen, seit der Springer Verlag den Verkauf dreier seiner wichtigsten Print-Titel an die Essener Funke-Gruppe bekannt gegeben hat: "Berliner Morgenpost", "Hamburger Abendblatt", "Hörzu". Auch in anderen Redaktionen ist man seitdem etwas erschrocken. Christian Schlüter analysierte in der "Frankfurter Rundschau": "Papier ist ein Risikofaktor". Beim Spiegel startet man nun etwas, was man sich so bislang noch nicht getraut hat.

Man will die Leser mit einbinden in die Entwicklung eines neuen “Spiegel 2020”. Man nennt es nur nicht “Spiegel 2.0”. Denn der aktuelle “Spiegel”-Auftritt im Netz mit all seinen Applikationen ist ja so etwas wie ein “Spiegel 2.0”. Er zeigt, wie man Nachrichten online aufbereiten kann. Nicht immer gut, nicht immer auch verträglich mit dem eigenen Print-Titel. Gerade dieser Zoff, der auch die Chefetage nicht verschonte, zeigte ja, dass man sich im Hause “Spiegel” sehr wohl bewusst ist, wo der Konflikt brennt. Mal auf den simpelsten Nenner gebracht: Qualität versus Reichweite.

Im neuen “Spiegel”-Magazin geht “Spiegel”-Reporter Cordt Schnibben auf das Thema ein, erzählt den Lesern auch, wie er selbst in letzter Zeit Medien konsumiert und welche Rolle solche Portale wie Twitter, Facebook, Flipboard, “Perlentaucher”, taptu für ihn mittlerweile spielen. Am Frühstückstisch liest er nicht mehr die schönen dicken Blätterberge von “Süddeutsche”, “taz” und “FAZ”, sondern “schmökert” auf seinem iPad durch das, was ihm seine Netzfreunde so empfehlen und aus-lesen. (Was ihm auch gleich mal den Leserkommentar einbrachte: Was ist ein iPad?)

Natürlich ist Fakt, dass Printprodukte seit Jahren an Lesern verlieren. Bei den Regionalzeitungen (und nicht nur bei den kostenlosen Wochenzeitungen) ist das große Aussieben längst im Gang. Manche haben noch ihre alten, über Jahrzehnte aufgebauten Marktmonopole. Aber ihr Meinungsmonopol schmilzt mit jedem Abonnenten, der die Zeitung abbestellt. Übrigens auch nichts Neues: Wenn Medien ihre Erzählmuster nicht ändern und auch immer wieder junge Lesergruppen mit deren Themen erreichen, verlieren sie alle über die Jahre das jüngere Publikum.

Beim Fernsehen, insbesondere den öffentlich-rechtlichen Sendern, ist es längst so weit. Was übrigens eine Tatsache ist, die in den Debatten um die neue Rundfunkgebühr immer wieder ausgeblendet wird. Nicht nur das ZDF, auch Regionalsender wie Leipzig Fernsehen (das sich im Oktober von Leipzig verabschiedet), erreichen nur noch die Zuschauergruppe 60 plus. Die erreichen sie gut und wohl sogar flächendeckend, denn auf diese Zuschauer ist das Programm zugeschnitten. Wenn “Wetten dass …” jetzt (wieder) für älteres Publikum definiert werden soll, ist das nur folgerichtig.

Aber auch die Altersstruktur der Leser von Regionalzeitungen verschiebt sich immer weiter in die höheren Jahrgänge. Was bislang noch nicht wirklich das Problem war. Die Anzeigenkunden blieben in der Regel treu. Das hat sich auch nicht wirklich geändert, als sich wichtige Medien auch im Internet professionell positionierten – der “Spiegel” gehört ja zu den Erfolgreichen im Netz. Aber schon mehrfach ließen auch “Spiegel”-Redakteure in ihren Medienkommentaren anklingen, dass die Sache selbst auf diesem Level nicht wirklich stabil läuft.

Denn am Markt nagen ganz andere Mitspieler, die sich diesen großen Stamm von Reportern erst gar nicht zulegen, sondern gleich nehmen, was da durch das Netz strömt, und das Ganze als “News” aufbereiten. Oder davon profitieren, wenn die Internet-Gemeinde beginnt, darüber zu debattieren. Die Debatten finden nicht wirklich auf spiegel.de statt, auch wenn die Kommentare zuweilen arg an ein missglücktes Fußballspiel erinnern. Debattiert wird da, wo auch Cordt Schnibben sich beim Frühstück einloggt: auf Twitter und Facebook, die mit dieser Zweitverwertung und dem ungeheuren Debattenfleiß der Nutzer noch einmal die zehn- bis hundertfache Reichweite von spiegel.de erreichen.

Und wer die Meldungen des Bundesverbandes Digitale Wirtschaft (BVDW) verfolgt, sieht, dass Reichweite dort die einzige Maßeinheit zu sein scheint, die man zu kaufen gewillt ist. Egal, was für eine. Die großen “Social Media” bieten ja so etwas wie eine personifizierte Werbeeinblendung. Man greift die Nutzerdaten ab, verknüpft sie und spielt den Besuchern die Werbung ein, die nach Algorithmus zum Nutzer passt. Da freuen sich doch die Werber?

Zumindest freuen sich die großen IT-Player, die damit dem deutschen Werbemarkt Milliarden entziehen. Milliarden, die natürlich auch den digitalen journalistischen Angeboten nicht zugute kommen.
Das ist die Grundfrage, die natürlich auch Spiegel Online mit seinen 184 Millionen Visits/Besuchen im Monat beschäftigt.

Cordt Schnibben fasst es so zusammen: “Zu begreifen, dass man dasselbe Thema im Heft, auf der Online-Seite, auf Tablets und Smartphones und im Fernsehen anders erzählen muss, das gehört zu diesem Selbstverständnis, und darum präsentieren wir in der kommenden Woche das Zeitungsdrama im Heft und auf Tablets, beginnen auf SPIEGEL ONLINE eine Debatte darüber, wie sich Tageszeitungen verändern müssen, um neue Leser zu gewinnen und wollen das in drei Wochen abschließen, indem wir alle Vorschläge in das Konzept einer Tageszeitung einfließen lassen, die auf ganz neue Art informiert.”

Und nicht nur den normalen Leser, sondern auch die Kollegen. “Deshalb möchten wir Sie als Leser, Journalisten, Fotografen, Grafiker bitten, sich an diesem Projekt ‘2020’ zu beteiligen mit Kritik und Ideen, mit Texten und Konzepten.”

Es klingt wie eine Diskussion, die mehr als überfällig ist. Ist der Leser so, wie Schnibben sich selbst schildert? Verlagert sich die Mediennutzung nicht nur ins Netz, sondern noch viel konsequenter auf mobile Endgeräte? Müssen gar die mobilen Endgeräte noch ganz anders werden, wenn sie für eine qualifizierte Mediennutzung tatsächlich bequem und praktisch sein sollen? Und was macht man dort mit der Werbung? Denn am Ende geht es darum: Ist anständiger Journalismus im Internet weiter (oder wieder) attraktiv für Werbekunden? Oder sind eben doch Bezahlmodelle sinnvoller? Und das wird möglicherweise die spannendere Frage.

Denn auch wenn Journalismus sich mit den digitalen Verbreitungsformen ändern sollte, braucht man Leute, die irgendwo am Anfang Geschichten recherchieren und Nachrichten “machen”. Wenn es diese ursprünglichen Nachrichten-Macher nicht mehr gibt, haben auch die anderen nichts mehr zu vermelden.

Es geht also doch um so altertümliche Werte wie Qualität und Seriosität und Fleiß. Und um Unabhängigkeit. Lauter schöne Fragen, die sich da auftun. Ob das am Ende etwas an Cordt Schnibbens Medienverhalten verändert? – Gute Frage. Denn: Was bekommt er alles nicht mehr mit, wenn er sich auf sein iPad verlässt und auf seine Freunde, die ihm da die Nachrichten vorsortieren?

Auch das eine schöne Frage. Manche überzeugten Nutzer von “Social Media” stutzen ja mittlerweile schon, wenn sie merken, was sie alles nicht mitbekommen haben. Die Untersuchungen dazu, wie umfassend tatsächlich die Informationsströme in diesen Netzen sind, hat ja noch niemand angestellt.

Da das aber auch auf Papierleser zutrifft, könnte die eigentliche Lösung mal wieder in einer spannenden Mitte liegen.

Auf Spiegel Online: www.spiegel.de/spiegel/2020-die-zeitungsdebatte-brauchen-wir-noch-tageszeitungen-a-914509.html

Die “Frankfurter Rundschau” zum Risiko Print: www.fr-online.de/medien/springer-verlag-papier-ist-ein-risikofaktor,1473342,23891308.html

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