Professor Michael Haller hat ein Buch geschrieben, das augenblicklich eine Menge Leute in der Medienbranche beschäftigt: "Brauchen wir Zeitungen? Zehn Gründe, warum die Zeitungen untergehen. Und zehn Vorschläge, wie dies verhindert werden kann". Ein Plädoyer für die Zeitung gerade in dem Moment, in dem die ganze Branche tief in der Krise steckt.

Aber Haller, der ab 1993 den Diplomstudiengang Journalistik an der Universität Leipzig aufgebaut hat und den Lehrstuhl für Allgemeine und Spezielle Journalistik bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2010 inne hatte, gehört zu den Diskutanten auf diesem Feld, die die Praxis kennen und sich intensiv mit den eigentlichen Grundparametern des Journalismus auseinander setzen. Das tut er auch ganz wissenschaftlich als wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Praktische Journalismus- und Kommunikationsforschung (IPJ) in Leipzig sowie als Leiter der Journalismusforschung an der Hamburg Media School.

Falls sein Buch auch in den höheren Etagen der deutschen Verlagshäuser gelesen werden sollte, wird es von den meisten Akteuren dort wahrscheinlich längst nicht mehr verstanden. Auch wenn sie sich mit Bezahlmodellen, Apps und Werbeerlösen beschäftigen. Die meisten regionalen Medienhäuser gehören heute alle zu großen, zentral gesteuerten Konglomeraten, wichtige Redaktionen sind zentralisiert, regionale Kompetenz wurde ausgedünnt. Während überregionale Titel wie “Zeit” und “Süddeutsche” ihre Auflagen teilweise halten oder sogar steigern konnten, verlieren die Regionaltitel jedes Jahr um die 2 bis 5 Prozent ihrer Abonnenten. Das liegt an der Altersstruktur der Leser, die oft schon im Bereich 60 plus zu verorten ist. Es liegt aber auch daran, dass man junge Leute zwar ab und zu zum Kauf einzelner Titel bewegen kann – aber nicht zum Abschluss eines Abos.

Ein Grund dafür ist natürlich die Verfügbarkeit der Grundnachrichten allerorten – auch auf mobilen Endgeräten, die für die Mediennutzung eine zunehmende Rolle spielen. Und auch wenn Zeitungshäuser schon Apps anbieten und einen Online-Auftritt, der auch bezahlbare Zusatzangebote bietet, hilft das den Verlagen nicht aus der Finanzierungsklemme. Die Werbeerlöse gehen auch online dramatisch zurück, seit Global Player wie Google und Facebook Preise für Online-Wahrnehmung in den Cent-Bereich gedrückt haben.

Warum braucht man da also noch eine Zeitung, wenn das ganze Internet sowieso schon voller News ist, die die Nutzer überfluten?Haller stellt dabei eine These auf, die etwas zugespitzt lautet: Man macht Zeitungen für Leser. Nicht für Werbekunden, nicht für “die Politik”, nicht für “die Wirtschaft” oder für die Big Bosse in der Verlagsspitze. Auch wenn dort die Weichen gestellt wurden und werden. Bis hin zum selbstgemachten Dilemma, wie es Haller in der Einleitung beschreibt: “Der fatale Zeitungspessimismus, der dem Gesetz der selbsterfüllenden Prophezeiung folgt, und das große Kaffeesatzlese-Palaver des Sommers 2013 motivierten mich, dieses Buch zu schreiben. Sein Thema sind nicht ‘die’ Tageszeitungen, sondern die Regionalzeitungen. Und sein Ausgangspunkt ist nicht die Blickstarre auf das Internet, sondern die Überzeugung, dass die Krise der Regionalzeitungen nicht naturnotwendig, sondern überwiegend handgemacht ist. Polemisch zugespitzt: Wenn die Gattung Regionalzeitung untergehen sollte, dann hätten dies die Eigentümer – die Zeitungsverlage – selbst verschuldet.”

Und das hat damit zu tun, dass sie die ganze Zeit immer nur sich selbst gesehen haben. Und nicht die Leser. Die Vielfalt der möglichen Leser. Haller: “Damit ist auch schon die Kernbotschaft dieses Buchs verraten: Die Zukunft der Regionalzeitungen hängt wesentlich davon ab, ob die Redaktionen in ihrem Rollen- und Funktionsverständnis den Sprung von den 1980er-Jahren in unsere nachmoderne Ära schaffen. Ob sie, mit anderen Worten, den Perspektivenwechsel – weg von der Sicht der Machtträger und der Institutionen, hin zur Alltags- und Erfahrungswelt (vor allem) der jüngeren Erwachsenen – vollziehen können. Die damit verbundene Umorientierung auch der journalistischen Berufsrolle bedeutet eine große Herausforderung, die zu bewältigen dieses Buch helfen soll.”

Dazu hat er 10 Thesen formuliert, die in ihrem Grundanspruch eigentlich für “Zeitung” schon immer galten. Nur die Möglichkeit der digitalen Verbreitung zwingt geradezu dazu, sich wieder auf diese Essenzen zu besinnen.

Haller schreibt zwar, es seien keine Thesen, “sondern aus empirischen Erhebungen, Studien und Analysen gewonnene Folgerungen.” Er grenzt sich damit auch gegen die in den letzten Jahren so heftig geführten Diskussionen um die Zukunft der Zeitung, in denen tatsächlich allerlei wilde – durch keinerlei Forschung oder Praxis untermauerte Thesen immer wieder gewälzt wurden. Aber natürlich sind auch das wieder 10 Thesen. Fundierter zwar und auf jeden Fall des Ausprobierens wert. Aber am Ende entscheidet wirklich auch das finanzielle Ergebnis, ob die Ansätze stimmen – oder wieder an der Realität scheitern.

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Die 10 Folgerungen beginnen gleich mit der durchaus berechtigten Frage: “Der Journalismus, warum missachtet er sein Handwerk?” – Da geht es natürlich um das Wörtchen Qualität, das auch in deutschen Tageszeitungen in den vergangenen Jahren gern missachtet wurde. Man hat den zahlenden Kunden (Leser) immer wieder gern mit Texten konfrontiert, die fast 1:1 aus Agenturtickern, Pressemitteilungen oder gar PR-Versendungen stammten. Und tut es auch weiter, weil es nichts “kostet”. Außer die Aufmerksamkeit der Leser, die sich irgendwann zu Recht fragen: Warum bezahle ich so viel Geld für 36 Seiten Zeitung, wenn nur eine einzige Seite journalistisch was zu bieten hat?

Was Haller zu Folgerung 2 führt, nämlich zu der berechtigten Frage: “Wer macht die Regionalzeitung kaputt? – Wie man sich selbst entbehrlich macht.”

Was Folgerung Nr. 3 ergibt: “Wer oder was ist schuld am Reichweitenschwund?”

Denn wenn man das gedruckte Blatt mit lauter Füllmasse füllt, steht nicht nur die Frage nach der Qualität. Sondern auch diese: Wen interessiert das noch? – Eine Frage, mit der man sich durchaus beschäftigt in Regionalredaktionen. Nur gibt es dort ein paar Bilder vom “Leser”, die sind geradezu obskur. Was dann manchen seltsamen Ton und die seltsame Auswahl vieler Geschichten erklärt. Übrigens ein Phänomen, das die Regionalzeitungen mit Fernseh- und Radiosendern teilen: Sie alle sind der Narretei der statistisch erfassbaren “Zielgruppe” auf den Leim gegangen. Eine Definition, die ursprünglich aus dem reinen Marketing stammt: Man muss eine Werbekampagne möglichst zielgruppengenau gestalten, damit ein Produkt Erfolg hat.

Aber genau darin liegt die Krux: Medien sind (auch wenn sie immer mehr mit Werbung zugeklatscht sind) keine Werbeplattformen. Die älteren Abonnenten lassen sich das noch gefallen, die jungen schreckt das ab. Also steht Frage 4: “Junge Erwachsene: Wofür brauchen sie Zeitungen?”Und das ist der Punkt, an dem man sich Gedanken darüber machen kann, darf, sollte, was “Zeitung” eigentlich ist – im klassischen und im modernen Sinn. Und worin sie sich von den andern News-Verbreitern eigentlich so unterscheidet, dass sie auch für junge Leute wieder fesselnd wird?

Fast nur rhetorisch zu verstehen, Frage Nr. 5: “Wer will das Publikum verstehen?” – Eins jedenfalls steht fest: Wer die Antwort von der Marketingabteilung erwartet, hat den Bock zum Gärtner gemacht.

Aber natürlich hängt an der richtigen Antwort der finanzielle Erfolg. Denn die Zukunft heißt – nach Norwegen und den USA – auch in Deutschland: bezahlter Inhalt. – Hallers sechste Folgerung: “Wer soll das bezahlen?” – Der Leser. Wer denn sonst? Wer sonst kann darüber entscheiden, ob ein Angebot so gut ist, dass man dafür regelmäßig ein paar Euro bezahlen möchte? Wie man sieht, dreht sich wirklich alles um den Leser. Er ist das, was man in heutigen Medienhäusern so gern negiert: Eine höchst qualifizierte, wählerische und anspruchsvolle Persönlichkeit. Der Zeitungsleser übrigens noch weit mehr als der Konsument von TV und Radio. Denn Lesen ist ein aktiver Akt. Manchmal fordert er auch ein bisschen Konzentration, Wissen, Fähigkeit zum verstehenden Lesen. Aber Leser wissen auch: Wenn die Texte gut sind, macht das Spaß.

Und so kommt Haller zum logischen Punkt 7: “Warum sind viele Regionalzeitungskonzepte falsch? Lädt das Layout zum Lesen ein? Warum Großstädter ihre Lokalzeitung nicht mehr lesen.”

Das hat viel mit dem falschen Bild vom Leser zu tun. Und der eigenen Positionsbestimmung der Verlage und Redaktionen. Gerade im Regionaljournalismus ist das, was Journalisten schreiben und behaupten, leicht nachprüfbar. Da kann man keinen Königs-Journalismus machen.

Hallers berechtigte Frage Nr. 8: “Wann vollzieht der Lokalteil den Perspektivenwechsel?”

Kann er das überhaupt, wenn man das eigene alte Welt-Bild nicht stürzt? Oder wenn die wirklichen Entscheidungen 200 Kilometer entfernt in der Chefetage getroffen werden?

Dass man Online-Angebote nicht mehr ignorieren kann, das hat man zwar bundesweit begriffen und beglückt die Leser auch mit diversen Apps. Aber wie geht eigentlich – Frage Nr. 9 – “Storytelling transmedial?” Wie kann man on- und offline gleichermaßen kompetent erzählen? Und zwar so, dass sich der Rentner zu Hause genauso angesprochen fühlt wie die jungen Leute mit ihrem Smartphone unterwegs?

Was Haller dann in Punkt 10 auf die nächste Generation bringt, die – wie Umfragen zeigen – dem Medium Tageszeitung durchaus vertraut. Was auch daran liegt, dass nicht alle alles falsch machen.

Hallers These: Anders als etwa in der etwas diffusen “Spiegel”-Debatte im vergangenen Jahr noch prophezeit, werde die Tageszeitung wohl nicht verschwinden, sondern sich neu erfinden müssen. Sie kommt weder an den jungen Lesern noch an den neuen Medien vorbei. Und möglicherweise gibt es viele Zeitungen dann eben nicht mehr am Kiosk, sondern als App.

Dazu hat er auch was gesagt in einem Interview der Leipziger School of Media.

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