Leipzig will 1000 werden - 2015 ist es soweit. In einer Vortragsreihe wollen Stadtverwaltung, Sparkasse und Universität neue Trends der stadtgeschichtlichen Forschung darstellen. Zu "Stadt im Systemwandel" spricht am 12. April der Historiker Detlev Brunner am Beispiel Stralsund und Leipzig. Teil II des L-IZ-Interviews.

Wie reagierten die ostdeutschen Stadtgesellschaften 1945 auf zentrale Kriegsfolgen wie die deutsche Teilung und die Zuwanderung vieler Vertriebener aus dem untergegangenen deutschen Osten?

Die Städte wiesen häufig die einzigen noch einigermaßen funktionsfähigen Verwaltungen auf, die die ersten Maßnahmen in den chaotischen ersten Nachkriegswochen und -monaten steuerten. Die Zuwanderung von Vertriebenen war dabei eine enorme Herausforderung angesichts der äußerst angespannten Versorgungslage bei Lebensmitteln und Wohnraum.

Über ein Viertel der Stralsunder Einwohnerschaft setzte sich in den ersten Nachkriegsjahren aus Vertriebenen, den so genannten “Umsiedlern” zusammen. Allein diese in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR übliche Begrifflichkeit zeigt: Das Thema der Vertreibung wurde tabuisiert, vor allem sollten Hoffnungen auf Rückkehr zerstört werden.

Die Reaktion auf die deutsche Teilung lässt sich nicht einfach beantworten. In der Wahrnehmung war zunächst das Bild von einem Gesamtdeutschland präsent, auch war bis 1952 die innerdeutsche Grenze noch verhältnismäßig “offen” – eine deutliche Reaktion war zudem der Weg in den Westen, bald als “Republikflucht” kriminalisiert.Wie wurde gerade in Stralsund der Verlust des hinterpommerschen Hinterlandes wahrgenommen?

Die polnische Westgrenze – die so genannte Oder-Neiße-Grenze – als “Friedensgrenze” stilisiert, wurde bis in Kreise der SED hinein abgelehnt. Auch antipolnische Ressentiments hielten sich entgegen der SED-Propaganda vom sozialistischen “Bruderstaat” – sie erhielten übrigens im Zusammenhang mit den polnischen Reformbestrebungen der frühen 1980er Jahre auch zusätzliche Nahrung durch die Haltung der SED-Führung.

Nun ist die europäische Stadt, wenn man so will, ein bürgerliches Projekt. Wie sehr rieb sich daran aus Ihrer Sicht der “Arbeiter- und Bauern-Staat” DDR mit seinen dezidiert antibürgerlichen Prämissen?

Die SED versuchte, die Stadtgeschichte in ihrem Sinne zu vereinnahmen – diese wurde nämlich auch noch zu Zeiten der 1950/60er Jahre von Kreisen erzählt und geschrieben, die entweder “bürgerliche” Sichtweisen übernahmen oder selbst im Rufe standen, “bürgerliche” Elemente zu sein.Dies korrespondiert mit der Tatsache, die nicht nur für Stralsund oder für Leipzig gilt, dass nämlich Reste bürgerlicher “Nischen” sich auch in der DDR hielten. Bei der Vereinnahmung von Geschichte kam es zu grotesken Konstruktionen – so etwa wenn mittelalterliche Akteure in der SED-Agitationssprache in “Reformisten” und “Fortschrittliche Revolutionäre” geschieden wurden. Für Stralsund kann man festhalten, dass derartige Aneignungs- und Verformungsversuche wenig erfolgreich blieben.

Zugleich fragen Sie nach lokalen Freiräumen auch unter Diktaturbedingungen. Wie groß waren diese denn aus Ihrer Sicht in den Städten?

Die eben genannte gewisse Resistenz in der Geschichtsschreibung ist ein derartiger Freiraum – dies gilt mindestens ebenso deutlich für die NS-Diktatur. Für Stralsund wie für andere Städte ist belegt, dass sich die örtliche und regionale NSDAP relativ wenig in die Gestaltung städtischer Jubiläumsfeiern und ähnlichen Repräsentationen einmischte und dies vorwiegend bisherigen bürgerlichen Honoratioren überließ.

Ein weiteres Thema, in der sich städtische Akteure gegen Anmaßungen der SED durchsetzten, ist die Gestaltung und Planung des Stadtraumes. Dies gilt jedenfalls für Stralsund, nicht oder weniger für Leipzig. In Stralsund wurden “sozialistische” Umgestaltungspläne in den 1950/60er Jahren zugunsten des Erhalts des mittelalterlichen Stadtbildes abgewendet.

Inwiefern hat sich in Leipzig und Stralsund nach 1990 die “bürgerliche Stadt” rekonstruiert?

Gegenfrage wäre, was denn unter “bürgerlicher Stadt” zu verstehen sei. Wenn wir darunter eine stadtbürgerliche Zivilgesellschaft verstehen wollen, dann hat sich derartiges in Leipzig mit Sicherheit, jedenfalls in einem Kern der Stadtgesellschaft herausgebildet.

Ein wesentlicher Motor ist hier nicht zuletzt Leipzigs prominente Rolle im Jahre 1989, aber vermutlich haben sich im Zusammenhang mit der Eigenschaft als Messestadt und Wissenschaftsstandort solcherart verstandene “bürgerliche” Fundamente auch über die Diktaturzeiträume hinweg erhalten.

In Stralsund überdauerte die einstmals stark konservativ geprägte Bürgerlichkeit die DDR nicht – aber auch hier hielten sich offenkundig unterschwellig Identitäten, die 1989 sofort wieder abrufbar waren. Dies ist ein weiteres Indiz für die Wirkungsmacht städtischer Geschichte in ihrer identitätsstiftenden Bedeutung.

Terminhinweis: Donnerstag, 12. April, 19.30 Uhr, Öffentlicher Vortrag im Rahmen der Leipziger Vorträge zur Stadtgeschichte mit PD Dr. Detlev Brunner “Stadt im Systemwandel – die Beispiele Stralsund und Leipzig” in der Kunsthalle der Sparkasse Leipzig, Otto-Schill-Straße 4a

www.leipzig.de/stadtgeschichte

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