Demokratische Politik sollte sich ihren Gestaltungsspielraum nicht nehmen lassen, sagt Dr. Mike Schmeitzner. Der Dresdner Historiker ist einer der Autoren des aktuellen Buches "Sozialdemokratie in Bewegung. 1848 - 1863 - 2013". Ein L-IZ-Interview zu Geschichte und Gegenwart der SPD und den Weg der Linken in die Mitte der sozialdemokratischen Tradition.

Herr Dr. Schmeitzner, Sie sind einer der Autoren des Buches “Sozialdemokratie in Bewegung. 1848 – 1863 – 2013”, das anlässlich des diesjährigen 150jährigen Parteijubiläums der SPD erschienen ist. Wie bewegt empfinden Sie denn die Sozialdemokratie in diesen Tagen?

Mit Blick auf die Bundesebene vielleicht ein bisschen zu bewegt: Die Sozialdemokratie hat ihr historisches Tief von 2009 – einen Stimmenanteil von 23 Prozent bei der Bundestagswahl – bislang nur teilweise überwinden können. Trotz einiger inhaltlicher Bemühungen, die von Seiten der SPD-Führung kamen. Auch das “Theater” um die Kanzlerkandidatenkür hat ebenso wenig dazu beitragen können, die eigenen Reihen zu schließen und neue Zuversicht zu verbreiten.

Doch liegen manche Probleme noch stärker im Grundsätzlichen: Seit Jahren ist ein Mitgliederschwund zu verzeichnen, der die SPD wohl härter trifft als andere Volksparteien. Wenn eine Partei von knapp einer Million Mitglieder auf unter die Hälfte fällt – und das in nur 20 Jahren – sollte man sich schon Gedanken machen, wie man einen solchen Trend zumindest stoppen kann.

Es ist da nur ein schwacher Trost, dass es die Konkurrenz gleichfalls trifft, und die Wirkungen dieses Aderlasses in manchen Hochburgen – wie in Nordrhein-Westfalen – sich nur langsam bemerkbar machen. Hier im Osten gibt es allerdings Regionen, wo Sozialdemokratie gar nicht mehr vorkommt. Da sollte angesetzt werden, und zwar im Interesse der gesamten Demokratie.

Leipzig und Sachsen waren über viele Jahrzehnte das, was man heute die “Herzkammer der Sozialdemokratie” nennt. Worauf führen Sie das zurück?

Dass einmal in Sachsen 60 Prozent der Menschen SPD gewählt haben, hat sicherlich mit vielen Faktoren zu tun: Das Land gilt als eine der industriellen Schrittmacherregionen in Deutschland mit einer enormen Städtedichte und einer exzellenten Infrastruktur. Hier lag bereits im 19. Jahrhundert der Anteil der arbeitenden Bevölkerung bei über 60 Prozent.

Anders als in katholisch geprägten Regionen gelang es dem in Sachsen vorherrschenden Protestantismus nicht, die Arbeiterfrage auf seine Weise zu lösen beziehungsweise die Arbeiter zu integrieren. So konnte eine neue politische Bewegung mit ihrem Angebot einer sozialistischen Diesseitserlösung schneller punkten. Förderlich war auch die in Sachsen existierende radikaldemokratische Tradition mit antipreußischen Affekten.

Und was Leipzig betrifft, so kommt dem hier zu Anfang der 1860er Jahre entstandenen Arbeiterbildungsverein eine besondere Rolle zu: Dieser Verein hat über bestimmte Protagonisten und Netzwerke sowohl die Gründung des ADAV als auch die Gründung der “Eisenacher” Partei befruchtet.Der Höhepunkt der landespolitischen Gestaltungsmacht der SPD in Sachsen lag zwischen 1918 und 1923/24. Womit verbinden Sie die Reformpolitik der SPD am Beginn des ersten sächsischen Freistaats?

Im Gegensatz zu anderen deutschen Ländern sah sich die – gespaltene – sozialdemokratische Bewegung in Sachsen 1918/19 einer komfortablen Situation gegenüber: Nachdem das alte undemokratische Wahlrecht abgeschafft worden war, konnte die Sozialdemokratie bei Landeswahlen eigene Stärke – nämlich knappe 60 Prozent der Wählerstimmen – endlich auch in politische Gestaltungsmacht ummünzen.

Einen Schwerpunkt setzte die Sozialdemokratie im Bildungsbereich: Schule wurde jetzt nach dem Prinzip der Selbstverwaltung organisiert, der Einfluss der Kirche zurückgedrängt, die Unentgeltlichkeit des Unterrichts garantiert, eine angemessene Pflichtstundenzahl für Lehrer eingeführt und die sorbische Sprache in gemischtsprachigen Gebieten zugelassen. Volksschullehrer erhielten – statt der bisherigen Seminarausbildung – nunmehr eine Universitätsausbildung.

Reformen gab es auch im Polizei- und Justizbereich: Einerseits wurde hier versucht, mit obrigkeitsstaatlichen Traditionen zu brechen und andererseits – wie im Gefängniswesen – eine grundlegende Humanisierung vorangetrieben. Im wirtschaftlichen Bereich konnte die Sozialdemokratie dagegen nur Teilerfolge erzielen: Eine von ihr geforderte Sozialisierung von bestimmten Schlüsselindustrien kam nicht voran. Was dagegen Gestalt annahm, war ein staatlich organisierter Mischkonzern, die “Aktiengesellschaft Sächsische Werke” (ASW).

In diesen Tagen jährt sich der Beginn der NS-Herrschaft zum 80. Mal. Der 30. Januar 1933 bleibt eine zentrale Zäsur der deutschen Geschichte. Warum reichten die Bemühungen der Sozialdemokratie um die Grundlegung einer demokratischen Ordnung in Deutschland damals letztlich nicht aus?

Der entscheidende Punkt ist der: Weil es neben den Sozialdemokraten unmittelbar vor 1933 zu wenige weitere Demokraten gab. Der Zulauf zu den Nationalsozialisten – und in Grenzen: zu den Kommunisten – kam ja infolge der Auswirkungen des verlorenen Weltkrieges und der Weltwirtschaftskrise zustande. Viele Menschen, die jetzt für eine autoritäre oder totalitäre Lösung dieser Krise plädierten, trauten dem demokratischen System nichts oder jedenfalls kaum noch etwas zu.

Und die Demokratie ihrerseits machte damals auch nicht gerade den besten Eindruck – seit 1930 schaffte sie sich beständig weiter ab: Der Reichspräsident – ein Vertreter der alten Eliten – gab die Linie vor, er und “seine” Kanzler erließen immer neue Notverordnungen und der Reichstag schaltete sich infolge der zunehmenden Stärke von NSDAP und KPD als entscheidende Regulierungsinstanz selbst aus.

Aber auch die Sozialdemokratie fand nicht in jedem Fall die überzeugenden Antworten: Sie blieb in der Krise viel zu immobil und reanimierte 1932/33 Sozialisierungskonzepte, die sie bereits 1918/19, als sie selbst die Macht hatte, nicht umsetzen konnte.

In dem Sammelband beschäftigen Sie sich mit “Erneuerung und Wandel im Exil” zwischen 1933 und 1945. Aus den bei Kriegsende vorliegenden Konzepten für ein Deutschland “jenseits des Kapitalismus” lesen Sie eine “Anglisierung” und “Skandinavisierung” der Akteure heraus. Was meinen Sie damit?

Das betraf bei Weitem nicht alle emigrierten Sozialdemokraten. Entscheidend sind hier die jüngeren von ihnen, die als Linkssozialisten zur Sozialdemokratie (zurück-)gekommen waren. Denken Sie etwa an Willy Brandt, an Willi Eichler oder eben an Richard Löwenthal.

Diese Gruppe machte in Großbritannien und Schweden bemerkenswerte Wandlungen durch: Waren sie vor 1933 in Deutschland durch das Versagen der Demokratie sehr stark nach links radikalisiert worden, sahen sie nun in diesen Ländern, dass gesellschaftliche Veränderungen – vor allem ein demokratischer Sozialismus – gerade auf der Grundlage einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie und eines funktionierenden Rechtsstaats verwirklicht werden konnten.

In seinem Bestseller “Jenseits des Kapitalismus” von 1946 reflektierte Löwenthal die eigenen britischen Exil-Erfahrungen und warb für einen demokratischen Sozialismus als Alternative zum totalitären Stalinschen Modell und zum liberal-kapitalistischen Modell der USA. Dass er dabei die Schaffung einer demokratisch kontrollierten Planwirtschaft so stark in den Vordergrund rückte, hatte auch etwas mit den Erfahrungen der Weltwirtschaftskrise und den enormen Weltkriegszerstörungen zu tun. Was das Buch aber heute noch so aktuell erscheinen lässt, ist dies: Demokratische Politik sollte sich mit Blick auf die – marktradikalen Tendenzen der – Wirtschaft ihren Gestaltungsspielraum nicht einfach nehmen lassen. Hier sind Konzepte gefragt.

Auf über 40 Jahre Nachkriegsjahre mit deutscher Teilung und dem erneuten Ausschalten einer eigenständigen Sozialdemokratie in der SBZ/ DDR sind mittlerweile mehr als 20 Jahre freies Agieren der SPD in ganz Deutschland gefolgt. Wie ist denn, um Willy Brandt zu bemühen, parteigeschichtlich inzwischen zusammengewachsen, was zusammen gehört?Die SPD ist tatsächlich in 22 Jahren zusammengewachsen, aber nicht in dem Maße, wie man es ihr gewünscht hätte. Die Ost-Partei ist nach wie vor eine schwache Organisation, die wenigstens teilweise von den West-Bezirken alimentiert werden muss. Im Norden – also Brandenburg, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern – sieht es etwas besser aus, im Süden – vor allem Sachsen – eher nicht. Hier liegt die Partei bei Landtagswahlen regelmäßig bei 10 Prozent; die Mitgliederzahl, die 1946 über 220.000 umfasste, dümpelt heute hier bei 4.600 herum.

Dieses Dilemma für die Gesamtpartei hat selbstverständlich sehr viel mit der verordneten 40-jährigen Zwangspause in der SBZ/DDR zu tun. Es ist aber auch auf die Umstände der Neugründung von 1989/90 zurückzuführen: Die Partei der “Physiker und Metaphysiker”, wie sie im Scherz ein SDP-Volkskammerabgeordneter einmal nannte, ist bei ihrer klassischen Klientel, den Arbeitern und Angestellten, nie richtig “angekommen”. Auch davon profitiert noch immer eine recht kräftige zweite linke Partei, die in Sachsen und Thüringen konstant vor der SPD liegt. Dadurch ergibt sich zwischen Ost- und West-SPD eine gewisse Asymmetrie.

Im Leipziger Stadtrat setzt sich nun die Linke für einen städtischen Gedenkstein zur Erinnerung an die ADAV-/SPD-Gründung am 23. Mai 1863 in Leipzig ein. Was halten Sie von diesem geschichtspolitischen Vorstoß?

Ich halte dies für eine geschickte Aktion: Denn so versucht die Linke, der SPD die Deutungshoheit über die eigene Geschichte zu entziehen. Wobei in diesem Bereich etwas Grundsätzlicheres zu beobachten ist.

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Deutsche Sozialdemokratie
in Bewegung

Anja Kruke; Meik Woyke, Verlag Dietz, J H 2013, 29,90 Euro

Schon seit mehreren Jahren beruft sich die Linke nicht mehr nur allein auf den linken Rand der linken Tradition, quasi auf die reine Luxemburg-Pflege. Sie zielt immer mehr auf die Mitte der sozialdemokratischen Tradition und damit auch auf den Ursprung der linken Bewegung.

Die Linke versucht also auch symbolisch den Platz zu besetzen, den sie aufgrund ihrer gesellschaftlichen Verankerung und ihrer Wahlergebnisse schon besetzt hält. Die Frage lautet hier, wie sich die Sozialdemokratie zu dieser eigenen, spezifisch mitteldeutschen Geschichte stellt. Lässt sie sich auf diese kritisch ein oder tritt sie diese einfach ab?

Vielen Dank für das Gespräch.

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