„Eine sächsische Karriere“ hat der Historiker Mike Schmeitzner sein Buch über den Volkslehrer und SPD-Landtagsabgeordneten Erwin Hartsch untertitelt, der am Ende seines Lebens auch noch Volksbildungsminister mit SED-Parteibuch war. Das Wort „Karriere“ kann man dabei durchaus extra im Gänsefüße setzen. Denn von einer geradlinigen Laufbahn dieses „Lehrers aus Berufung“ kann keine Rede sein.

Das war in diesem „Jahrhundert der Extreme“ gar nicht möglich. Schon gar nicht für Menschen wie diesen Lehrersohn aus dem Vogtland, der so typisch war für die vielen Volkslehrer seiner Generation, die damals Mitglied der SPD waren und schon lange vor der Revolution von 1918 und der Gründung der Weimarer Republik für ein anderes, gerechteres Bildungssystem kämpften.

Ein Thema, das 2022 noch genauso brisant ist wie 1919, als die SPD in Sachsen mit ihren Bildungsreformen begann.

Da war auch der junge Hilfslehrer Erwin Hartsch gerade erst aus dem Krieg zurückgekehrt und zu einem überzeugten Pazifisten geworden. Und natürlich überzeugt davon, dass der irre Marsch in den Krieg mit dem alten deutschen Nationalismus, dem Militarismus und der eklatanten Staatsnähe der Kirche zu tun hatte.

Mit Pfarrern, die Kriegsgerät und Militäreinheiten segneten, religiöser Indoktrination in der Schule und einem ebendort vermittelten falschen Bild von Nation und Heldentum.

Er wusste, dass Bildung dabei ein ganz zentraler Hebel war. Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob junge Menschen in der Schule schon im Geist von Unterordnung und falscher Kriegsbegeisterung erzogen werden oder als aufrechte Demokraten. Und das hatte mit einer anderen Art von Autorität zu tun, die Hartsch auch lebte als Lehrer.

Eine Schule ohne Rohrstock

Da kann Mike Schmeitzner natürlich versuchen herauszubekommen, inwieweit Hartschs Vater Vorbild für den Sohn war. Aber das ist natürlich aus dem Abstand von 100 Jahren schwer noch zu rekonstruieren. Ein paar persönliche Zeugnisse gibt es noch und Aufzeichnungen von einigen Wegbegleitern des Mannes, der nach diesen Zeugnissen problemlos in der Lage war, seine Schulklassen zu bändigen.

Oder einfach zu begeistern – ohne autoritäres Gehabe, Drohungen oder gar den traditionellen Rohrstock, den die bürgerlichen Parteien sofort wieder eingeführt haben wollten, als die SPD auch in Sachsen zunehmend unter Druck kann.

Gerade am Ende des Buches und am Ende von Hartschs Leben versucht Schmeitzner einzugrenzen, was für eine Persönlichkeit Hartsch war oder ob er nicht doch – wie so viele in dieser Zeit – Kompromisse geschlossen hatte, sich selbst untreu geworden war.

Aber wer will das beurteilen? Schon gar aus einer Generation, die weder die Weimarer Republik mit ihrem aufgeheizten Klima, noch die zwölf Jahre NS-Diktatur und auch nicht den Beginn der neuen Diktatur der SED erlebt hat?

Es klingt ein wenig an, wenn Schmeitzner die westdeutsche Sicht auf Hartsch versucht zu umreißen. Denn auch diese Sicht war niemals eine unparteiische. Und schon gar nicht immer die fortschrittliche oder gar mustergültige. Gerade in Bildungsfragen und Bildungsgerechtigkeit nicht.

Denn das ostdeutsche Bildungssystem mit seinem achtjährigen gemeinsamen Lernen aller Kinder in polytechnischen Schulen, bevor die Leistungsstärkeren auf die weiterführende EOS „delegiert“ wurden, war im Kern jenes Bildungssystem, das die linken Parteien seit 1919 versuchten, in Deutschland endlich umzusetzen.

Um damit das alte, elitäre Bildungssystem endlich abzulösen, das Kindern aus armen Familien den Zugang zu höhere Bildung fast unmöglich machte und schon im mehrgliedrigen Schulsystem dafür sorgte, dass Standes- und Klassenunterschiede zementiert blieben.

In der Politik

Und wer glaubt, davon seien wir heute weit entfernt, der irrt. Das alte Denken steckt noch immer in der viel zu frühen Auslese der Kinder. Es ist ein Klassenbildungssystem. Und – wie Hartsch 1947 in einer Rede sehr fulminant darlegte, ein Politikum.

Eine Rede, die er aus dem Stehgreif hielt, denn ein begnadeter Redner war er auch. Was ihn schon früh zu einer politischen Karriere prädestinierte. Gerade in der Weimarer Republik war das gesprochene Wort noch wirksam, waren wirkungsvolle Redner gefragt.

Erst recht, wenn sie wie Hartsch auch noch streitbar waren und für die Dinge, die ihnen am Herzen lagen, bereit waren zu kämpfen. Erst auf Ortsebene in Mylau, wo Hartsch Stadtverordneter wurde, dann auf Bezirks- und ab 1926 auch als SPD-Abgeordneter auf Landesebene.

Was ihn dann freilich ins Fadenkreuz der aufkommenden Faschisten brachte, die er in Landtagsreden genauso geißelte wie die zunehmend radikalisierte KPD, die Ende der 1920er Jahre – anders als 1923 – längst kein möglicher Koalitionspartner mehr für die SPD war.

Die Nationalsozialisten sollten sich bitter rächen und ihn – nach seiner Verhaftung durch Reichswehrsoldaten während der Reichsexekution von 1923 – ein weiteres Mal inhaftieren. Diesmal in den frisch aus dem Boden gestampften Konzentrationslagern, in denen die verhafteten Kommunisten genauso gepeinigt wurden wie die verhaften SPD-Politiker.

Bei Hartsch kam noch hinzu, dass er – zuletzt sogar in den Reichstag gewählt – mit den verbliebenen SPD-Abgeordneten – gegen das Ermächtigungsgesetz gestimmt hatte. Das verziehen die Nationalsozialisten keinem dieser SPD-Abgeordneten.

Erst nach mehrmonatiger Haft wurde Hartsch – gesundheitlich für den Rest seines Lebens angeschlagen – entlassen. Lehrer konnte er nicht mehr sein, hätte er wohl im gleichgeschalteten Bildungssystem der Nazis wohl auch nicht mehr sein wollen.

Und in Mylau, wo ihn die siegreichen Nationalsozialisten bedrohten, wollte er auch nicht bleiben. Es begannen die Jahre seines Leipziger Exils, wie er es nannte, in denen er freilich nach einem Sturz von der Straßenbahn weitere körperliche Beeinträchtigungen erlebte.

Nach zwölf Jahren Finsternis

Das Leipziger Adressbuch gibt seine Wohnadresse als Lehrer im Ruhestand in der Delitzscher Straße 5 an, gleich hinterm Chausseehaus und gegenüber vom Eutritzscher Freiladebahnhof.

Aber die Zeit in Leipzig nannte er nicht ohne Grund sein Exil. Hier konnte er zwar Kontakt mit einstigen SPD-Genossen halten, aber an irgendeine pädagogische Betätigung war nicht zu denken. Regelmäßig musste er sich auf dem Polizeirevier melden.

In gewisser Weise gab ihm sogar die Bibel Trost, die er genauso souverän zitieren konnte wie seinen Schiller. Da können Nazis so viele Bücher verbrennen, wie sie wollen – sie schaffen es nie, den Humanismus wirklich aus der Welt zu schaffen.

Und das Erste, was Hartsch nach der Befreiung durch die Amerikaner tat, war natürlich die Bewerbung um eine Anstellung als Lehrer in seiner Heimat Mylau. Jetzt auch noch mit dem Wissen, dass zwölf Jahre Finsternis aus den Köpfen zu vertreiben waren und es eine riesige Herausforderung war, aus den Kindern, die in der NS-Zeit groß geworden waren, aufrechte Demokraten zu machen.

Hartschs letzte Lebensjahre fallen ja genau in die drei Nachkriegsjahre, als auch im Osten Deutschlands in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) Aufbruchstimmung herrschte und Menschen wie Hartsch sich engagierten, zerstörte Schulen wieder in Gang zu bringen und die alten Pläne für ein wirklich humanes und gerechtes Bildungssystem Wirklichkeit werden zu lassen.

Und das gelang genau in dieser Zeit tatsächlich, als die moskautreue KPD noch nicht fest im Sattel saß und die SPD als Mehrheitsbeschaffer dringend brauchte. Auch das ist ja ein fast vergessenes Kapitel, dass die ersten Jahre im Osten auch Jahre mit mehr oder weniger freien Wahlen waren und mit Landesregierungen, in denen die neu gegründeten demokratischen Parteien alle vertreten waren.

Und in der sächsischen SPD wurde nachweislich stark darüber debattiert, ob man das Angebot der KPD annehmen sollte und sich zu einer Einheitspartei zusammenschließen sollte.

Und während Hartsch in der Legendenbildung der DDR regelrecht zum Befürworter des Zusammenschlusses und zum großen Vorbild für die Bildungspolitik der SED gemacht wurde, zeigt Schmeitzners akribische Untersuchung im Detail, dass wohl eher das Gegenteil der Fall war und auch Hartsch letztlich Opfer der Legendenbildung geworden ist.

Eine vertane Chance

Aber es macht eben auch deutlich, wie Leute wie Hartsch sich auch unter dem zunehmenden Druck der neuen Machthaber zu behaupten versuchten und wohl auch zu retten versuchten, was zu retten war.

Obwohl selbst seine Berufung zum sächsischen Volksbildungsminister schon gezeichnet war vom Ostberliner Machtspiel, bei dem die einstigen SPD-Genossen in der SED zunehmend kaltgestellt wurden, wenn sie sich nicht schleunigst selbst zu knallharten Funktionären mauserten.

Und wahrscheinlich hat sich Hartsch auch in der kurzen Zeit als Minister gesundheitlich völlig übernommen, war monatelang sogar schwer krank. Die Fotos im Buch zeigen ihn mit Krücken. Und manche Dokumente lassen ahnen, wie der Machtkampf selbst in seinem Ministerium tobte.

Oder vielleicht wohl eher knallhart zelebriert wurde, denn selbst während seiner Ministerzeit scheinen seine aus der KPD gekommenen Abteilungsleiter die eigentliche Macht in Händen gehalten zu haben. Und so wirklich freiwillig war dann auch seine Demission nach zwei Jahren nicht.

Da war er den auftrumpfenden Genossen längst nicht mehr tragbar und sie brauchten so langsam auch kein Feigenblatt mehr, um ihren radikalen Griff nach der absoluten Macht zu bemänteln.

Im Grunde ist es der Moment, in dem die Sache im Osten aufs falsche Gleis kam. Auch wenn es noch 41 Jahre dauern sollte, bis das Volk endgültig die Nase voll hatte von der Herrschsucht der Funktionäre und ihrer Unfähigkeit zum Gespräch. Welches in diesen frühen Jahren, als Hartsch in der SBZ tatsächlich die Chance sah, echte Demokraten mit Rückgrat zu erziehen, durchaus möglich war.

Die großen Säuberungen, Massenverhaftungen und Schauprozesse kamen erst noch. Hartsch erlebte sie nicht mehr. Die Leiden aus seiner Haftzeit forderten ihren Tribut und er starb schon kurz nach seinem Rücktritt als Minister.

Sodass völlig offen ist, wie er auf die Zuspitzung der Zustände im Osten reagiert hätte, ob er nicht gar – wie so manche andere einstige SPD-Genossen – in den Westen gegangen wäre. In den Landesteil, wo ausgerechnet das, was er so lange bekämpft hatte, wieder eingeführt wurde – ein elitäres dreigliedriges Schulsystem mit Religionsunterricht und Prügelstrafe.

Nachträglich zur Ikone gemacht

Man ahnt den Zwiespalt, in dem Menschen wie Erwin Hartsch damals gewesen sein müssen. Vielleicht hätte er tatsächlich auch einfach den ihm gegönnten Bibliotheksposten ausgefüllt und wäre verstummt.

Sein früher Tod freilich gab der SED-Führung die Gelegenheit, ihn quasi postum als Vorkämpfer für den Sozialismus in der DDR-Variante zu glorifizieren und damit auch die Erinnerung an den überzeugten Pädagogen zu besetzen.

Über das Jahr 1989 hinaus, denn so manche Schulbenennung nach dem unerschütterlichen Reformer wurde nach 1989 in Sachsen stillschweigend kassiert – ohne großen Aufschrei in der Öffentlichkeit.

Aber vergessen ist er nicht. Und Schmeitzners kleine Tiefenrecherche macht Erwin Hartsch nun wieder in all seinen durchaus kantigen Aspekten sichtbar – im Großen und Ganzen wahrscheinlich genau so, wie er tatsächlich war. Auch mit all den politischen Konflikten, mit denen er konfrontiert war und die ihn nie zum Wegducken gebracht haben.

Aber auch nicht zum Seitenwechsel. Denn das kann man hier auch nicht übersehen, dass hier einer fest in den alten sozialdemokratischen Traditionen lebte und stritt und neben der Bibel (mit deren Zitaten er vor allem humanes Verhalten anmahnte) auch seinen Karl Marx gelesen hatte und zitieren konnte. Was ja den Gralswärtern des Marxismus schon immer ein Graus war, wenn jemand ausgerechnet Karl Marx gegen sie ins Feld führte.

Aber Hartsch war, wie es Schmeitzner herausarbeitet, überzeugt davon, dass der Sozialismus zwingend nur mit Demokratie und aufrechten Demokraten funktionierte. Das kommt selbst in der oben erwähnten Rede zu Ausdruck, die im Anhang des Buches in ihrer gesamten Länge abgedruckt ist.

Gleiche Chancen für alle

Eigentlich hat ein Erwin Hartsch eine Rehabilitation nicht nötig. Aber die Zeit nach 1990 war auch nicht wirklich eine Zeit, in der die offizielle Geschichtsbetrachtung Wert darauf legte, die Komplexität und Widersprüchlichkeit der ostdeutschen Geschichte nach 1945 herauszuarbeiten.

Da wurde nur zu oft mit Rasenmäher und Heckenschere gearbeitet und eine schmalspurige Sicht auf die Vergangenheit gepflegt, die an Einseitigkeit durchaus mit der zuvor gepflegten vergleichbar war.

Das bricht erst so langsam auf und Historiker wie Mike Schmeitzner widmen sich zunehmend den ganz und gar unpassenden Persönlichkeiten, die es trotz aller Gleichmacherei auch in diesem Stück Land und seiner Geschichte gab.

Und Erwin Hartsch gehört ganz bestimmt zu den Persönlichkeiten, an die man sich erinnern darf. Auch und gerade an seinen unermüdlichen Kampf für eine bessere Schule, die gleiche Bildungschancen für alle Kinder ermöglicht. Ein Thema, das auch und gerade in Sachsen bis heute nicht abgearbeitet ist.

Und Schmeitzner betont zu Recht, dass das achtjährige gemeinsame Lernen aller Kinder in einer Schule keine Erfindung der SED war, sondern seit über 100 Jahren ein Kernanliegen der SPD. Eher hat man das Gefühl, dass die heutige SPD mehr Leute wie Erwin Hartsch brauchte, um ihrem Kernanliegen wieder Geltung und Gehör zu verschaffen.

Auch in Bildungsfragen. Denn daran hat sich seit Hartschs Rede von 1947 nichts geändert: Schule ist ein Politikum. Aber vielleicht muss man ein richtiger Volksschullehrer sein wie Hartsch, um dafür auch mit seiner ganzen Persönlichkeit einzustehen und zu kämpfen.

Denn es sind die Schulen, in denen die Untertanen erzogen werden. Oder die Demokraten. Das ist die eigentliche Wahl, um die es bei Schulreformen geht.

Mike Schmeitzner Erwin Hartsch Sax Verlag, Beucha und Markkleeberg 2022, 14,80 Euro.

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