Es lohnt sich, den elterlichen Bücherschrank zu durchforsten. Sofern sie denn einen hinterlassen. Das ist ja nicht in allen Familien so. Doch bei den Eltern von Joachim Krause schon. Dass sein Ur-Ur-Großvater kein ganz unbedeutender Mensch war, wusste Krause längst. Am Fuß des Auersbergs in Wildenthal erinnert sogar eine Gedenkstele an Otto Delitsch.

Auch in der dreibändigen „Geschichte der Universität Leipzig“ wird er an einer Stelle in Band 2 (2010) erwähnt. Man überliest sie geradezu, ohne ihre Bedeutung zu ahnen: „Im Sommersemester 1870 löste eine Bewerbung des Privatdozenten Otto Delitsch um eine außerordentliche Professur der Geographie die Errichtung einer ordentlichen Professur aus.“ Nämlich eine der Geographie. Nur bekam nicht Delitsch diese Professur, sondern Oscar Peschel. Auf den der Beitrag in der Universitätsgeschichte geradezu ein Loblied singt: „In den vier Jahren, die Peschel bis zu seinem Tod 1875 blieben, hat er seine berühmte ‚Völkerkunde‘ vollenden können.“

Die Privatdozentur hatte Delitsch erst kurz zuvor an der Uni Leipzig bekommen. Im Hauptberuf war er zu dieser Zeit – und bis zu seinem Lebensende â€“ Oberlehrer an der Ersten Bürgerschule. Die stand damals auf der Moritzbastei, und gelandet war der Pfarrersohn Delitsch, der in Leipzig Theologie studiert hatte, dort auch nur, weil er über Jahre partout keine freie Pfarrerstelle finden konnte.

Jahrelang schlug er sich so als Hauslehrer durch, bis er sich kurz entschlossen als Lehrer an der Ersten Bürgerschule bewarb, wo man ihn mit Kusshand nahm. Denn als Autodidakt hatte er sich auf mehreren Feldern einen respektablen Wissensstand angeeignet – auch auf dem der Geographie.

Der Traum von einer akademischen Laufbahn

Und so träumte er davon, der Leidenschaft für die Geographie auch an der Leipziger Universität nachgehen zu können, erwarb den Doktortitel und legte seine Habilitationsschrift vor. 1870 war er in der deutschen Geographie längst kein unbeschriebenes Blatt mehr. Er war unter anderem seit 1861 Mitglied der „Geografischen Gesellschaft zu Leipzig“. Mit „Aus allen Welttheilen“ gab er eine eigene geographische Zeitschrift heraus.

Für mindestens zwei Verlage zeichnete er Globen, die heute noch begehrte Sammlerstücke sind. 1862 hatte er einen umfangreichen Kommentar für die in Leipzig erschienene „Payne’s Illustrierte Prachtbibel“ geschrieben und Illustrationen und mehrere Karten gezeichnet, mit denen er den Bibeltext mit dem Kenntnisstand der Naturwissenschaften seiner Zeit konfrontierte. Ein dreibändiges Werk, das Joachim Krause schon kannte, bevor ihm der Schatz aus dem Buchregal seiner Eltern in die Hände fiel.

Dieser Schatz waren vier Skizzenbücher von ursprünglich wahrscheinlich acht ihrer Art. Auch das Zeichnen hatte sich Delitsch autodidaktisch beigebracht. Seine Wanderungen und Reisen – u.a. nach Italien, Frankreich und in die Alpen – nutzte er, um das Gesehene mit Bleistift festzuhalten und dabei auch seinen Blick für die Geographie der besuchten Regionen zu schulen. Denn die Fotografie stand dafür anfangs gar nicht zur Verfügung.

Wer das Gesehene unterwegs festhalten wollte, musste es schon selbst zeichnen und illuminieren. Was ja nicht jeder konnte. Aber die ausgewählten Motive in diesem Band zeigen, dass sich Delitsch da vor den ausgewiesenen Künstlern seiner Zeit nicht verstecken musste. Nur dass er seine Zeichnungen nicht als Kunst anbot, sondern als geografische Studien bei sich behielt oder sie in seinen geografischen Aufsätzen verwendete.

Aber Joachim Krause staunte trotzdem. Denn diese Skizzenbücher erschlossen ihm tatsächlich erstmals die vielseitigen Begabungen seines Ur-Ur-Großvaters. Und sie animierten ihn dazu, alle Spuren zusammenzutragen, die Otto Delitsch hinterlassen hatte. Und das sind auch biografische. Denn als Otto Delitsch 1882 dann doch schon relativ früh mit 61 Jahren starb, veröffentlichten praktisch alle maßgeblichen geografischen Zeitschriften in Deutschland einen Nachruf auf den geschätzten Kollegen, den das Kultusministerium in Dresden nicht auf eine ordentliche Professur in Leipzig berufen wollte.

Möglich, dass da das abwertende Urteil einiger Kollegen eine Rolle spielte, die Delitsch jegliche Originalität absprachen und ihn eher zu einem bloßen Kompilator abwerteten. Einem, der eben nur zusammentrug und zugänglich machte, was die Wissenschaft seiner Zeit herausgefunden hatte. Eine Rolle, die von ihrer Genialität überzeugte Wissenschaftler gern unterschätzen. Sie wissen oft gar nicht, dass ihr ganzes Bemühen für die Katz ist, wenn keiner aus ihrem Expertenwissen einen Stoff macht, der auch in den Schulen vermittelt werden kann.

Wie bringt man Schülern erdkundliches Wissen bei?

Und wahrscheinlich geht man gar nicht fehl, wenn man Otto Delitsch gerade für die Popularisierung geografischen Wissens eine ganz zentrale Rolle zuschreibt. Bis hin zur Entwicklung von Landkarten, die auch im Schulunterricht verwendet werden konnten. Für genaue Karten begeisterte sich Delitsch schon als Kind. Darüber schrieb er selbst in seiner Bewerbung auf eine Professorenstelle an der Uni Leipzig. Genauso, wie er sich für Statistik begeistern konnte. Auch so etwas, dem sich manche Forscher, die Vulkane erforschen und Erdschichten studieren, nicht immer hingeben. Etwa die Demografie Westdeutschlands, mit der sich Delitsch 1866 in seiner Habilitationsschrift beschäftigte. Oder genaue Höhenangaben für eigentlich bekannte Landschaften. Die musste er sich für seine Landkarten auch erst mühsam zusammensuchen.

Aber in gewisser Weise war er auch ein unermüdlicher Mensch, der neben seiner Arbeit als Oberlehrer in verschiedenen Schulfächern, seiner Zeitschrift und der Mitarbeit in der Geographischen Gesellschaft viel Zeit darauf verwendete, doch noch irgendwie zu einer Professur an der Universität zu kommen. Wenigstens eine außerordentliche Professur war drin, 1874, als ihm sogar eine ordentliche Professur in Innsbruck angeboten worden war. Aber er wollte wohl in Leipzig bleiben und wurde mit seinen Vorlesungen wohl das Vorbild für mehrere Jahrgänge künftiger Erdkundelehrer.

Natürlich kann so ein Buch nur eine Annäherung sein. Aber die Nachrufe auf den dann früh Verstorbenen sprechen eigentlich Bände. Und sie erzählen von der Hochachtung, die namhafte Kollegen ihm gegenüber hatten. Die seinerzeit berühmten „Petermanns Mitteilungen“ brachten es sogar fertig, seinen Nachruf gemeinsam mit dem auf einen ebenfalls 1882 Verstorbenen zu veröffentlichen: Charles Darwin, den man ja nun einmal als Vater der Evolutionstheorie kennt.

„Petermanns Mitteilungen“ aber würdigten den Geografen Darwin und seine Veröffentlichungen zur Reise mit der „Beagle“. Eine nicht zufällige Begegnung, denn beide Verstorbene hatten mit demselben wissenschaftlich aufmerksamen Blick die Länder und Landschaften aufgenommen, die sie durchreisten. Auch wenn Delitschs weiteste Reise ihn nur nach England und Schottland brachte. Aber seine Zeichnungen vermitteln eben auch, dass es sich sogar im scheinbar nahe Liegenden lohnt, genauer hinzuschauen und die Gestalt von Bergen, Tälern, Vulkanen (er hat auf seiner Italienreise auch Vesuv und Neapel besucht), Flusstälern, Klüften und Gletscherformationen zu studieren.

Zwischen Ritterstraße und Moritzbastei

Womit Otto Delitsch eben auch Landschaften und Städte im Bild festhielt, die es heute so nicht mehr gibt. Und mit seiner Leidenschaft für das Wandern hat er dann am Auersberg wohl tatsächlich auch den Tourismus mit entzündet. Auch wenn das für ihn eigentlich Kindheitslandschaft war, in die er immer wieder gern zurückkehrte. Aber das muss dann wohl auch ansteckend für andere Leute gewesen sein, wenn sie sahen, wie der Professor mit seinem Skizzenblock loszog bergauf, um die Berge so zu genießen, wie es nur einer kann, der sich für alle ihre Details interessiert. Selbst die Botanik. Der Bürgerschule vermachte er ein Herbarium mit über 10.000 Pflanzen aus der Leipziger Umgebung, die er sich auch erst spät erwanderte, weil er diese Landschaft anfangs schlicht für zu langweilig hielt.

Es sind ja nun einmal erst Berge, die einer Landschaft erst diesen gewissen Reiz geben, der Leute dazu animiert, sich den Tornister umzuschnallen und loszulaufen. Gipfel erstürmen, wie das so schön heißt. Nur stürmen die Meisten heute ja immer mit dem wilden Spruch „Keine Zeit!“ im Nacken. Währen Otto Delitsch die meisten seiner Touren geruhsam zu Fuß zurücklegte. Genau in dem Tempo, in dem man sehen kann, was es unterwegs tatsächlich zu entdecken gibt.

Dass er dabei ein Lebenswerk geschaffen hat, dem auch heutige Geografen ihre Achtung zollen, macht Heinz Peter Brogiato, Leiter des Archivs für Geographie im Leibniz-Institut für Länderkunde, in seinem Vorwort deutlich.

Joachim Krause selbst versucht die Annäherung in einem Brief an seinen Ur-Ur-Großvater, den er nur zu gern auch einmal persönlich kennengelernt hätte. Aber mit dessen Skizzenbüchern und Veröffentlichungen kommt er ihm wohl so nah, wie sonst kaum jemand seinem Ur-Ur-Großvater kommt. Ganz zu schweigen davon, dass die Meisten ihre Ur-Ur-Großväter gar nicht kennen. Bestenfalls als bärtigen Alten in einem uralten Fotoalbum.

Wenn Joachim Krause einmal nach Leipzig kommt, kann er sogar auf den Spuren seines Ur-Ur-Großvaters laufen, denn der wohnte in der Ritterstraße 6 -7 im Großen Fürstencollegium: „D. phil. u. Professor an der Univers., Oberlehrer u. Stellvertreter des Directors an der Realschule“. Er musste also nur Ritterstraße, Grimmaische Straße und Universitätsstraße laufen, um zu seiner Arbeitsstelle auf der Moritzbastei zu kommen. Und an seinem Weg lag auch gleich noch die Universität, an der er so gern ordentlicher Professor geworden wäre.

Joachim Krause „Otto Delitsch in Leipzig. Geograph und Künstler“, Sax-Verlag, Beucha und Markkleberg 2022, 24,80 Euro.

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