Wie bringt man die Alten zum Reden? Und zwar nicht nur die Kammerzofen, Leibdiener und persönlichen Fahrer, wie sie meist ganz zuletzt noch für Dokumentationen vor die Kameras geholt werden? Sondern die historisch Handelnden selbst? - In der Regel verpassen es Historiker, weil die zeitgenössischen Historiker ihre Scheuklappen pflegen. Und die späteren ärgern sich. So wird das in Teilen auch mit der DDR sein. Und mit Walter Ulbricht. Ein ganz spezieller Termin in der Alten Börse.

Dort stellt nämlich am Freitag, 28. Juni, Egon Krenz sein Buch “Walter Ulbricht” vor. Die Veranstaltung beginnt um 19.00 Uhr.

Das Buch erscheint aus Anlass des 120. Geburtstages von Ulbricht und erinnert zugleich auch an seinen Tod vor 40 Jahren. Egon Krenz – ja immerhin der zweite Nachfolger von Walter Ulbricht hat etwas getan, was viele Historiker in dieser Art eben noch nicht gemacht haben: Er hat an die siebzig Personen der Zeitgeschichte befragt, die in dieser oder jener Form mit Walter Ulbricht zu tun hatten. Natürlich war er dazu auch prädestiniert. Er kennt sie ja alle noch, hatte mit ihnen in seiner Zeit als FDJ-Chef und als letzter Staatsratsvorsitzender zu tun.Unter den Gesprächspartnern sind ehemalige Politbüromitglieder wie Heinz Keßler, Inge Lange und Margarete Müller, Minister wie Herbert Weiz, Margot Honecker, Hans Reichelt und Horst Sölle, Kulturschaffende wie Manfred Wekwerth, Erik Neutsch und Hermann Kant, Sportler, Wissenschaftler, Wirtschaftsleute, Militärs, Personenschützer und Historiker, Parteifunktionäre wie Herbert Mies und Jewgenij Tjashelnikow, Diplomaten wie Valentin Falin und Hans Voss. Eine erstaunliche Palette von Zeitzeugen, die Egon Krenz gefunden und – vor allem – aufgeschlossen hat.

Herausgekommen ist gleichsam eine ganze Versammlung von Zeitzeugen, die vor allem auch lauter Dinge beleuchten können, die so auch in der DDR-Geschichtsschreibung nicht benannt werden durften – all die Machtkämpfe und zuweilen flotten Richtungswechsel, die Walter Ulbricht durchaus pragmatisch zu handhaben wusste. Und spätere Historiker werden auf jeden Fall fragen, ob die Staatsmänner auch in diesem Stück Deutschland das Format hatten, das sie gebraucht hätten. Oder waren sie tatsächlich nur die Erfüllungsgehilfen Moskaus?

Wenn man das Alter der von Egon Krenz Befragten bedenkt, weiß man, dass dies vermutlich bei sehr vielen die letzte Möglichkeit zur öffentlichen Mitteilung war. Mancher – etwa Kurt Blecha, der jene denkwürdige Pressekonferenz im Juni 1961 leitete, auf der Ulbricht davon sprach, dass niemand die Absicht habe, eine Mauer zu errichten – verstarb wenige Tage nach dem Interview.

“Sie alle tragen Unbekanntes, nie Publiziertes bei, wodurch ein außerordentlich differenziertes, facettenreiches Bild von Ulbricht entsteht, wie es eines vermutlich noch nie gab”, meint Ralf Fiebelkorn von “Leipzigs Neue”, die zu der Buchvorstellung einlädt. “Es berührt sehr, wenn die 102-jährige Elfriede Brüning darüber berichtet, wie im Hinterzimmer ihrer Ladenwohnung in Moabit 1933 Ulbricht und die illegale KPD-Führung heimlich tagten. Oder wenn Rainer Fuckel, Ulbrichts Leibarzt, wenige Tage vor dessen Tod diesen fragt, ob er nach nunmehr erfolgter Renovierung der Kurklinik in Bad Liebenstein wieder dorthin zurückkehren oder bei ihm bleiben solle, und Ulbricht ihm rät, unbedingt jetzt nach Thüringen zu gehen: Er mache nicht mehr lang, und dann würde auch Fuckel vom Hof gejagt werden …”

Das muss dann schon nach Honeckers Putsch gewesen sein, mit dem sich der Stellvertreter in die höchsten Ämter der SED hievte und dem Volke kurzzeitig das Gefühl vermittelte, jetzt würde wieder ein frischer Wind durchs Land wehen.

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Walter Ulbricht
Egon Krenz, Das Neue Berlin 2013, 24,99 Euro

“Nahezu alle Felder seines Wirkens werden durch die Gespräche und Texte erfasst, kaum ein Gebiet, was vergessen wird. Die Sammlung ist nicht nur eine Fundgrube für Historiker, sondern auch eine sehr informative, unterhaltsame, und dennoch höchst politische Lektüre über einen Mann, der vermutlich der einzige Staatsmann von Format war, den die DDR hervorgebracht hatte, wie nicht wenige der Befragten erklärten”, so Fiebelkorn. “Sein Nachfolger (und Herausgeber) trug diese Aussage mit souveräner Gelassenheit und zeigte sich zumindest in diesem Punkte seinem Vorgänger annähernd ähnlich.” Immerhin ist Egon Krenz auch schon 75 Jahre alt.

Der 120. Geburtstag von Walter Ulbricht jährt sich am 30. Juni. 1919 hat er in Leipzig die KPD mitgegründet. Aber spätestens mit der Sprengung der Leipziger Universitätskirche St. Pauli machte er sich bei den Leipzigern gründlich unbeliebt. Der mächtigste Mann der DDR war er bis 1971. Zwei Jahre später, 1973, starb er während der Weltfestspiele der Jugend in Berlin. 1990 erkannte ihm der Leipziger Stadtrat auch wegen der Kirchsprengung die 1958 verliehene Ehrenbürgerschaft ab.

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