Heute vor genau 120 Jahren, am 11. Mai 1903, wurde das Städtische Waisenhaus in der Elisenstraße 152 feierlich eröffnet. Bis das Gebäude 1990 zum Haus der Demokratie Leipzig wurde, passierte jedoch viel. Mehrere Umbauten und Nutzerwechsel, mehrere historisch
gravierende Ereignisse prägen das Gebäude in der heutigen Bernhard-Göring-Straße 152.

Die Geschichte des Hauses steht exemplarisch für viele Entwicklungen seit 1903 in Leipzig: die kaiserliche Erziehung, die das Strafen in den Fokus stellte, die Ausgelassenheit und gleichzeitige Ungewissheit der Weimarer Republik. Schließlich folgten dann die Menschenverachtung des Nationalsozialismus, Wiederaufbau und Repression in der DDR und die Transformationszeit mit allen Chancen der politischen Partizipation und der Suche nach neuen Strukturen.

Waisenhaus, Lehrlings- und Burschenheim

Nach der Eröffnung wurde das Gebäude 25 Jahre lang als Waisenhaus genutzt; mehr als 11.000 Kinder bezeichneten es in dieser Zeit – oft nur kurzzeitig – als Zuhause. Der Bedarf an Betten für Waisen war zu dieser Zeit hoch, sank jedoch in den 1920er Jahren. Eine andere Einwohnergruppe rückte dafür jedoch in den Fokus: junge Männer, die aus den Dörfern nach Leipzig kamen, um in der Stadt eine Lehre zu machen.

Ab 1928 wurde das Gebäude deshalb als Lehrlings- und Burschenheim genutzt, außerdem wurden Schulungsräume und eine Jugendherberge geschaffen. Fotos aus dieser Zeit zeigen ausgelassene Männer auf Feiern, die Dokumente legen aber auch die Probleme offen: Die Lehrlinge, gerade von Zuhause ausgezogen, den Geruch der Freiheit atmend, verschmähten das Essen im Haus und warfen es weg.

Die Oberin des Heimes beschwerte sich sogar bei der Stadt über dieses Benehmen, den Bewohnern war das egal – sie machten sich über die Leitungskraft auf verschiedene Arten lustig.

Ein dunkles Kapitel

1935 wurde das Gebäude dann wieder eine Wohnstätte für Kinder. Im Kinderheim wurden Waisen untergebracht, aber auch die Kinder, deren Eltern politisch verfolgt wurden. Das Ziel: Aus den Kindern Bürger machen, die den Nationalsozialismus unterstützten und ihn nicht
bekämpften oder ihn gar „schwächten“, wie unzählige Dokumente aus dieser Zeit es nennen.

Die vor dem Haus liegenden Stolpersteine erzählen die Geschichte von sechs Kindern aus dem Haus, von denen fünf das menschenverachtende Bild der Gesellschaft des Dritten Reichs nicht überlebten.

Als das Kinderheim im Dezember 1943 zu mehr als 70 Prozent zerstört wurde, waren die Kinder zu großen Teilen bereits evakuiert worden; zurück blieb eine Ruine, die mehr als 15 Jahre lang brachlag und von den Kindern der Nachbarschaft als Spielplatz genutzt wurde. Was aus dem Haus noch genutzt werden konnte, hatte man sich bereits herausgeholt: Holz als Brennstoff, noch funktionierende Möbel für die eigene Wohnung, Baustoffe zum notwendigen Abdichten und Reparieren.

Wiederaufbau, VEB und SED

Erst ab 1957 wurde das Gebäude wieder mit Leben erfüllt. Der Volkseigene Betrieb Konstruktions- und Ingenieurbüro Chemie (VEB KIB Chemie) setzte das Haus instand, baute den zerstörten Nordflügel wieder auf und errichtete in den 1960ern eine eigene Konsumfiliale für die Angestellten, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern.

1982 musste der VEB dann jedoch ausziehen. Die SED-Stadtleitung, die bis dahin in der Karl-Liebknecht-Straße 143 im heutigen HTWK-Gebäude untergebracht war, beanspruchte mehr Platz.

Für 6 Millionen Mark der DDR renovierte sie bis Ende 1983 das Haus in der Bernhard-Göring-Straße. Es wurden Gitter an den Fenstern angebracht, ein eigenes Notstromaggregat eingebaut, eine eigene abhörsichere und hochmoderne Telefonanlage eingerichtet und ein
Partykeller nebst Sauna und Erholungsraum eingebaut (blickdicht und schallisoliert, natürlich).

Ein Ort der Demokratie

Daher ist es auch sicherlich nicht verwunderlich, dass die Stadtleitung 1990 nicht so richtig von dem Gebäude lassen wollte. Auf Beschluss der Stadt Leipzig aus dem Dezember 1989 musste die SED das Haus jedoch an die Bürgerinitiativen abgeben; zum 2. Januar zogen politische und gesellschaftliche Akteur/-innen ein und waren im ersten Moment von den Möglichkeiten, die dieser Ort bot, beinahe erschlagen: ein Haus für Meinungsbildung und demokratische Diskussionen, ein Platz für Ideen und Teilhabe – das war etwas, das man sich lange gewünscht
und was doch noch ein halbes Jahr vorher so fern geschienen hatte.

Rund fünf Jahre dauerte es, bis sich im Haus Strukturen gebildet hatten und weitere vier Jahre, bis feststand, wem das Gebäude denn überhaupt gehören sollte: Die Stadt Leipzig übergab das Haus der Demokratie dem Verein Haus der Demokratie Leipzig e. V. in Erbpacht für 66 Jahre, mit der Auflage, das Haus als Ort der gesellschaftlichen Teilhabe und Bildung zu erhalten.

Der Rückblick zeigt: Es gibt genügend Gründe, das Haus zu feiern, der Ereignisse zu gedenken und zu mahnen, und auch einen Blick in die Zukunft zu werfen. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, was passieren kann, wenn Debatten nicht geführt, sondern von kleinen, aber lauten Gruppen niedergeschrien werden.

Sie haben uns aber auch gezeigt, wie wichtig es ist, sichere Orte der Meinungsbildung, Teilhabe und Diskussion zu haben, was es braucht, um auf Augenhöhe miteinander zu reden und wie stark eine solidarische Gesellschaft sein kann, wenn sie es denn will.

Frühlingsfest: Das Haus der Demokratie feiert am Freitag, dem 12. Mai, von 15 Uhr bis 18 Uhr seinen Geburtstag mit einem großen Frühlingsfest im Hof der Bernhard-Göring-Straße 152. Im Haus ansässige Vereine und Akteure aus dem Stadtteil beteiligen sich an dem Fest, präsentieren ihre Arbeit und laden die Gäste zum Mitmachen und Diskutieren ein.

Führungen zur Historie des Hauses finden um 16 Uhr und um 17.30 Uhr statt.

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