Für den einen wäre es eine Rumpelkammer. Für Falco Jäger, den 35-jährigen Künstler, ist dieser Raum der Quell seiner Kreativität. Wenn sich Pfingsten zum 32. Mal die Gothic-Szene zum Leipziger Wave Gotik Treffen versammelt, ist eine ihrer Subkulturen nicht mehr wegzudenken: die Steampunks. Gestalten, wie aus einer Zeitmaschine entstiegen. Falco ist einer von ihnen. Und er trägt nicht nur diese mystischen Klamotten mit dem dazugehörigen Schmuck – er stellt sie in seiner eigenen Werkstatt her und gibt sie an Freunde dieser Leidenschaft weiter.

Steampunks – die Erben von Jules Verne

Mit seinen sagenhaften technischen Ideen, wie dem U-Boot Nautilus unter dem Kommando von Kapitän Nemo, gilt der französische Autor Jules Verne (1828–1905) als einer der Wegbereiter einer Kultur, die sich aber doch erst 80 Jahre nach seinem Tod zu etablieren begann. Hergeleitet aus der Rebellion des Punk und dem Bezug auf das Zeitalter, in dem Dampfmaschinen Träume von Geschwindigkeit und damit bis dahin ungeahnter Freiheit eröffneten, wirkt die Bewegung als Gegenentwurf zu moderner, computerbezogener Science-Fiction.

Der amerikanische Autor Kevin Wayne Jeter („Infernal Devices“) verwendet den Begriff „Steampunk“ erstmals als Beschreibung von futuristischer Literatur im viktorianischen Stil. Doch es bleibt nicht beim geschriebenen Wort. Eine Szene entsteht, die mit Zahnrädern, skurrilen Hüten, Leder, Messing und Dampfmaschinen die textile Mode ebenso beeinflusst, wie Schmuckgegenstände oder Musik.

Für viele wird dieser Stil zur Lebenseinstellung, Steampunk als eine Haltung, die technische Faszination und Kreativität verbindet. Nostalgie, Individualität und Ästhetik sind die Zutaten für eine eigene, alternative Welt aus Abenteuer, Schönheit und Freundlichkeit. Sich prügelnde Steampunks wird man vermutlich eher selten finden.

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Jules Verne (1828–1905): Vordenker, Fantast und Wegbereiter. Natürlich füllen seine Werke das Buchregal von Falco Jäger. Foto: Benjamin Weinkauf

Der Junge aus dem Kohlenstall

Doch für den Leipziger Steampunker Falco, der sich als FALCO ORVUS AVES längst einen Namen in der Szene gemacht hat, begann die Liebe zu dieser fantastischen Welt eher unromantisch: in einem zum Kohlelager umgebauten Stall auf dem Hof der Großeltern. Mit vier Jahren hämmert er begeistert Nägel in alles, was ihm an Holz für diese schwungvolle Tätigkeit gereicht wird.

Sich selbst bezeichnet er als „Lego-Kind“. Nichts durfte schon fertig sein, alles musste gebaut, konstruiert, zusammengesetzt werden. Bausätze erobern sein Leben als Teenager. Schiffe, Fahrzeuge, Landschaften. Dioramen entstehen. Der Grundstein für die Liebe zum Detail ist gelegt.

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Die frühe Lego-Liebe zahlt sich aus. „Coppelianisches Aufgussgetränkservierbehältnisrennvehikel“ – Falco hat die Band COPPELIUS in dieser Konstruktion verewigt. Natürlich fahrtüchtig. Die Jungs waren begeistert und haben ihm das Objekt signiert. Foto: Benjamin Weinkauf

Von der Bar zur Bahn

Falco ist jemand, der nicht aufgibt. Während unseres Gesprächs in der Werkstatt passiert es! Epoxidharz muss „entgast“ werden, damit es später glasklar ist. Allein die Apparatur erinnert an Vernes „Erfindung des Verderbens“. Ein Kunstharz, das ein bisschen wie Bernstein funktioniert, nur eben nicht in Millionen Jahren, sondern nach wenigen Minuten. Vorausgesetzt, man verquatscht sich nicht. Ich habe ihn abgelenkt, das Ergebnis ist Murks. Mir ist das peinlich.

„Ach“, sagt Falco, „das könnte man jetzt wegwerfen, aber vielleicht wird die Missbildung von heute eine spannende Landschaft von morgen?“ Und so war er schon immer. Chronisch positiv. Er lernt in der Gastronomie, zapft, serviert, ist immer da. Aber das Haus schließt. Falco gibt nicht auf und erweitert seine Fähigkeiten. Betriebswirt Hotelgewerbe, die Susanna-Eger-Schule in Leipzig gilt als eine der am besten aufgestellten Einrichtungen ihres Fachgebiets in Sachsen.

Er schafft in einem angesehenen Haus, arbeitet sich hoch ins Management. Doch das Leben im Schichtdienst fordert Tribut. Für Hobbys ist keine Zeit. Bei dem Experten für Wirtschaft und Zahlen klingelt das Handy durchgehend, auch nachts. Der einstige Bastler findet sich selbst nicht mehr wieder. Ein Zufall öffnet vor fünf Jahren eine neue Tür.

Heute ist er Kundenbetreuer bei der Bahn. Er hat Freude an seinem Job, reist. Aber er schätzt auch den konkreten Feierabend. „Beides liegt in einem guten Gleichgewicht“, analysiert er. Beides habe seine Zeit. Diese Verlässlichkeit eröffnete ihm die Möglichkeit, eine Werkstatt einzurichten.

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Wenn der Reporter den Künstler nicht ablenkt, ist Epoxidharz eine glasklare Sache. Ein Gecko, gebaut aus Fundstücken. Foto: Benjamin Weinkauf

Nicht verschworen, aber eine Gemeinschaft

Am 7. Juni treffen sich zum elften Mal die Steampunks zu einem „Picknick“ im Leipziger Clara-Zetkin-Park. Neben dem offiziellen Programm des Wave-Gotik-Treffens gibt es viele eigenständige Veranstaltungen, für die kein Eintritt erforderlich ist. Falco und seinen Leuten reicht das nicht. Auf Dauer wird auch die eigene Bude zu klein.

Deshalb gibt es monatliche Treffen von Menschen, die ihre Leidenschaft für Feinmechanik und Fantasie teilen möchten. Sie treffen sich in einer deutlich größeren Werkstatt, tauschen ihre Erfahrungen aus, experimentieren.

Und sie bereiten den, ja er heißt wirklich so, Æthersalon in den vormaligen Pittlerwerken vor. Die einstige Maschinenfabrik, und Motor der Leipziger Gründerzeit, lädt vom 10. bis 12. Oktober 2025 zu einem „Zeitreisefest“. Eine wetterfeste Ergänzung zu den gemeinsamen Stunden an den Pfingsttagen.

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Teile ausgemusterter E-Zigaretten, Schirmstreben und allerlei Kleinkram warten auf ihre Reinkarnation als Grille. Foto: Benjamin Weinkauf

Nichts ist für die Tonne

In Falcos Werkstatt finden sich hunderte Schrauben, Drähte, Muttern. Eine Fahrradfelge steht an einen der Arbeitstische gelehnt. Eine einstige Wanduhr wird zu Pfingsten als Zeitreiserucksack uraufgeführt. Mit sich rückwärts drehender, mechanischer Uhr. Schrott, Zahnräder, alte Wecker. Doch in allem Chaos herrscht Ordnung.

„Ich weiß ungefähr, was wo liegt. Wenn ich nicht mit einer konkreten Vorstellung in die Werkstatt gehe, dann inspirieren mich einzelne Teile zu einem Ganzen.“ Einst durchstöberte er Flohmärkte. Irgendwann wurde ihm klar, dass die dort angebotenen Teile auch nur aus Containern, Kellern und Nachlässen stammen.

Diesen Zwischenhandel umgeht er nun. Beim Besuch finde ich einen alten Wecker. Er befasst sich nicht mit Utopien. Mit viel Feingefühl wurde eine der berühmtesten Filmszenen nachgebaut, die der Jetztzeit entstammt …

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„Ich bin der Lötling der Welt!“ In einem alten Wecker stehen Jack Dawson und Rose DeWitt Bukater vorn am Bug der Titanic und ahnen nicht, welche Stunde geschlagen hat. Foto: Benjamin Weinkauf

Von der Pleiße in die Highlands

Wovon träumt jemand, der mit seinem handwerklichen Geschick nach Feierabend Illusionen greifbar macht? Für Falco ist die Frage beantwortet. Im Zimmer neben der Werkstatt stehen Rucksäcke. Der Raum ist dekoriert mit Fahnen und Karten Schottlands. Und dorthin geht nicht nur die Reise nach dem Wave-Gotik-Treffen, sondern auch die Sehnsucht, die er mit seiner Frau teilt. Natürlich frage ich nach dem Wetter.

„Alles, was du über das Wetter in Schottland weist, ist eine Erfindung der Schotten, um ihr Land nicht zu sehr von Touristen überlaufen zu lassen“, flunkert Steampunk Falco. Dass das raue Land irgendwann im Alter Zufluchtsort, gar Heimat sein könnte, nehme ich ihm in der Umgebung, in der er darüber spricht, sofort ab.

Zwischen all den Bildern der Sehnsucht zeigt mir der Künstler seinen Dudelsack. Eine wirkliche Rarität. Denn dieser Balg gibt Falco die Möglichkeit, beim Dudeln auch zu sprechen.

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Was aussieht wie eine Bombenentschärfung im Blockbuster „THE ROCK“ ist nicht weniger als höchstes Feingefühl für das Innenleben eines selbstspielenden Dudelsacks (links). Sein Inneres besteht unter anderem aus einer ausrangierten Aquariumpumpe und einer abgelegten E-Zigarette. Foto/Montage: Weinkauf, Thumser, Privat

Sonne, Mond und Sterne

Die Himmelsscheibe von Nebra gilt gemein hin als authentischer archäologischer Fund aus der frühen Bronzezeit, etwa 1600 vor Christus. Definitiv belegbar aber ist auch diese kleine Welt fürs Knopfloch. Entstanden im Heute!

Denn nicht nur Hüte und Gewänder warten im Steampunk-Stil auf, sondern auch feinste Miniaturen. Ein Fischlein schwebt zwischen Sonne und Mond. Dass beide aus den Zahnrädern der Zeit bestehen – dem kleinen Flossenwesen ist es egal. Unter den Fingern von Falco Jäger verliert das alles seine irdische Bedeutung. Am 7. Juni 2025 steht er mit seinen faszinierenden Konstrukten ab 13 Uhr im Clara-Zetkin-Park.

Zum Wave-Gotik-Treffen werden mehr als 20.000 Besucher aus aller Welt erwartet. Das Steampunk-Picknick ist nur ein Teil davon, neben dem offiziellen Programm. Das Festival findet vom 6. bis 9. Juni 2025 statt und bietet Unterhaltung durch rund 200 internationale Künstler an über 50 Orten in der Stadt. Wer sich einlässt, kann ganz unabhängig von den Konzerten auf Reisen gehen. In seiner eigenen, oder einer ihm anvertrauten Fantasie.

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„Und ein Fischlein springt voller Lust und singt: War die ganze Zeit ohne Silberkleid … Und dem Mond tat das Fischlein so leid“. Die Faszination von Lakomys Traumzauberbaum zusammengefasst in einem Anstecker fürs Knopfloch. Foto: Benjamin Weinkauf

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