Wie würde eine Hymne für Connewitz klingen? Und wie eine für Reudnitz? Was ist überhaupt eine Hymne? Das, was die deutschen Fußballer nicht mehr singen wollen? Nicht nur die Deutschen tragen schwer am Text ihrer Nationalhymne, auch andere Länder zeigen in ihren Hymnen nichts von der Idee eines gemeinsamen und friedlichen Europas, stellte Ulrike Bernard, Geschäftsführerin des Haus Steinstraße fest - und stiftete ein Hymnenprojekt an.

Ein wenig davon können die Leipziger schon auf der Website “Leipzig macht Musik” mitbekommen. Aber die eigentliche Website zum Projekt geht natürlich erst am 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, online: neue-hymnen.de. Programmiert von André Freyer, gestaltet von Paul Altmann.

Hymnen fangen in der Regel einen schweren historischen Moment im Leben einer Nation ein. Sozusagen die Geburtswehen, als ein paar Leute laut schreiend durch Schlösser, Alleen oder Vorgärten rannten, weil sie jetzt unbedingt gleich sofort eine präsentable, flaggengeschmückte eigene Nation haben wollten. Ein bisschen rotgetüncht oder blau oder senf und durchaus auch mit erhebenden Gefühlen, die auch die Übergewichtigen von den Sitzen reißen und zum Mitschmettern bringen: “Freude, schöner Götterfunken …”

Hätte die deutsche Hymne werden können, wenn man gewollt hätte 1990. Hat man nicht. Stattdessen wurde die alte Hymne der DDR, die schon seit 20 Jahren nicht mehr gesungen werden durfte, wieder durch das Deutschlandlied ersetzt, von dem eine ganze Strophe auch nicht mehr gesungen werden darf. Eine amputierte Hymne wurde durch die andere ersetzt, obwohl die DDR-Hymne (“Deutschland, einig Vaterland”) nun auf einmal wieder gepasst hätte.

Aber den Nachbarn geht es mit ihrem staatlich gepflegten Musikgut ja nicht besser. Auszug aus der Französischen Nationalhymne: “…Hört Ihr auf den Feldern das Brüllen der grausamen Krieger? Sie kommen bis in Eure Arme, Eure Söhne, Eure Frauen zu köpfen. An die Waffen, Bürger! Schließt die Reihen, vorwärts, marschieren wir! Damit ein unreines Blut unsere Äcker tränkt!”

Auszug aus der Schweizer Nationalhymne: “…Und wie Lawinenlast vorstürzt mit Blitzeshast-Grab allumher-werf in den Alpenpfad, wenn der Zerstörer naht, rings sich Kartätschensaat todtragend schwer.
Wo, wenn nicht in Leipzig, dem Ausgangspunkt der demokratischen Wende 1989, und wann, wenn nicht zum Jubiläum des Tages der Deutschen Einheit, könnte eine Diskussion über Wertvorstellungen eines geeinten Deutschlands und Europas ihre Fortsetzung finden, fragte sich Ulrike Bernard.

Und Florian Schetelig, Leiter des Projektes “Leipzig macht Musik” in der AG Soziokultur: “Welche Bedeutung haben Nationalhymnen überhaupt noch, außer bei internationalen Sportwettkämpfen und Staatsempfängen? Wie viele Menschen beherrschen überhaupt Text und Melodie der jeweiligen Nationalhymne? Brauchen wir neue Hymnen?”

Das Projekt “Neue Hymnen” stelle diese Fragen und erforsche zugleich die Frage nach kultureller Identität in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft. “Denn auch heute findet Identitätsbildung über Hymnen statt – jede Jugendkultur hat ihre Hymnen – Songs, die oft über mehrere Generationen als stilbildend anerkannt werden”, so Schetelig. “Es gibt Fangesänge und Clubhymnen im Sport – und überall, wo Menschen gemeinsam singen, bilden sich schnell Lieblingslieder heraus, die eine gemeinschaftsbildende Kraft entwickeln. In diesem Sinn wird das Projekt ‘Neue Hymnen’ auf verschiedene Weise Gruppen von Menschen zusammenbringen, die sich mit dem identitätsstiftenden Element von Musik – auch kritisch – auseinandersetzen.”

Einige Projektbausteine haben schon begonnen: ein Workshop im Frauenkultur e.V., oder im Mühlstraße 14 e. V. “Kiez-Rap – eine Hymne für meinen Stadtteil”, ein Kiez-Rap-Projekt gibt’s auch im Geyserhaus (Eutritzsch), ein weiteres Chorprojekt in der nato, ein Band-Projekt im Anker … Da wird sich die ganze bunte Szenerien aus den Stadtteilkulturen wiederfinden. Die junge, kreative zumindest. Und eines ist sicher: Was da entsteht, wird mit dem staatstragend aufgeblasenen Weihegesang wenig bis nichts zu tun haben.

Es wird wohl eher die Konflikte der Gegenwart abbilden: Auseinandersetzungen finden nicht mehr auf Schlachtfeldern, wie in verschiedenen Hymnen beschrieben, statt, sondern haben sich mittlerweile in Banken und Börsen verlagert. Dafür wächst die Kluft zwischen Arm und Reich in allen Ländern wie nie zuvor. In welchem Deutschland und in welchem Europa wollen wir leben? Deutschland und die Deutschen werden im Ausland respektiert, doch nicht geliebt. Liegt dies vielleicht auch daran, welche Atmosphäre in Deutschland herrscht und wie dominant Deutschland international auftritt?

In den mehr als 20 Jahren nach dem Mauerfall wurden immer wieder Diskussionen über eine neue Hymne geführt. Doch geändert wurde nichts. Wäre dies überhaupt notwendig? Hymnen werden in der Regel bei Staatsempfängen und sportlichen Siegen, Staatstrauer oder bei der Vereidigung von Staatspersonal oder Soldaten gespielt.

1990 wurde auch kurz diskutiert, Brechts “Kinderhymne” zur neuen Nationalhymne zu machen.

“Unser Ansatz ist eine breite Diskussion, ausgehend von allen Menschen die hier leben, über Werte und Selbstverständnis”, sagt Ulrike Bernard. “Wir möchten eine Website für die Diskussion einrichten sowie einen interaktiven Wettbewerb im Internet ausrufen, in dem Texte und/oder Melodien öffentlich gemacht und von anderen Nutzern der Seite bewertet werden können.”

Heißt: Jeder Leipziger kann sich einbringen. Die Vorstellungen des Haus Steinstraße in Leipzig sind, eine Graswurzelbewegung, also eine von “unten”, den Bürgern getragenen Initiative, entstehen zu lassen.

“Bei dieser ‘Bewegung von unten’ kommt den Medien eine Sonderrolle zu. Die Projektpartner verzichten bewusst auf den Einsatz von PR-Agenturen und Prominenten. Der Wettbewerb und die Diskussion soll nur durch Mund-zu-Mund-Propaganda und die Medien-Berichterstattung ins Rollen gebracht werden”, so Bernhard.

Der Hymnenwettbewerb ist ein Experiment einer Demokratie-, Kultur- und Wertediskussion via Internet. Wir wollen Bürgern ein Forum bieten, um über Deutschlands Rolle im eigenen Land und außerhalb seiner Grenzen nachzudenken und sich mit sozialen und humanitären Werten zu beschäftigen. Ob dadurch wirklich eine neue Hymne gefunden wird? Wir werden es erfahren …

Ein Hauch von Anarchie soll Denkverkrustungen lösen helfen und Wertediskussionen auslösen, so jedenfalls die Wunschvorstellung der Organisatoren, die am Freitag, 28. September, das Hymnenprojekt vorstellten. Und nun können schon mal alle, die wirklich gern über das, was wichtig ist, nachdenken, Notizzettel füllen und Material sammeln. Bevor am 3. Oktober die Seite aufploppt.

Das Ganze ist Teil des Gemeinschaftsprojekts “Leipzig macht Musik”, das in diesem Jahr zum vierten Mal stattfindet. Höhepunkt wird die Abschlussveranstaltung mit Live-Musik und Projektpräsentation am Mittwoch, 28. November, 17 bis 20 Uhr Uhr im Werk 2/Halle D (Kochstraße 132).

Der Eintritt ist für alle unter 18 Jahren frei. Und die über 18 dürfen natürlich auch mitsingen.

Am 6. September in der Moritzbastei: Ein faszinierend fiktives Buch zu Hanns Eislers 50. Todestag.

www.haus-steinstrasse.de
www.leipzig-macht-musik.de

Und mit Start Tag der Deutschen Einheit, 3. Oktober 2012:
www.neue-hymnen.de

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar