Nächste Premiere auf der großen Bühne des Leipziger Schauspielhauses: Lübbes Aufführung von Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti erhielt am Samstagabend sechs Minuten Applaus, keine standing ovations. Verständlich: Lübbe wagte nicht zu viel, aber das gefiel trotzdem. Theater an Leipzigs Hauptbühne muss wohl erst das verlorengegangene Vertrauen zurückgewinnen, bevor es beachtenswerte Akzente setzt.

Nach 85 Minuten war Emilia Galotti tot. Anders als im Original. Erschossen. Von sich selbst. Kein Messer, kein Mord des Vaters. Eine letzte Knutscherei mit dem Prinzen von Guastalla, einmal Losreißen, ein Schrei. Dann der Vorhang und sechs Minuten Applaus, “Bravo”-Rufe und freudiges Pfeifen inklusive, für den Intendanten Enrico Lübbe, sein Leipziger Erstlingswerk und sein Team hinter und auf der Bühne.

Auch von Oberbürgermeister Jung, der sich ebenso in das ausverkaufte Haus begeben hat, wie zahlreiche ältere Theatergänger und ein paar der jüngeren Generation. Die Neugier auf Lübbes Interpretation von Lessings Emilia Galotti, gepackt in 85 Minuten, war groß. Logisch ist: Lübbe konnte nicht alles abbilden, was Lessing in sein Trauerspiel, was er übrigens selbst nie auf der Bühne gesehen hat, gepackt hat. Und dabei spielt sich das Werk des gebürtigen Kamenzers nur an einem einzigen Tag ab.

Der erwähnte Prinz von Guastalla hat mal wieder keine Lust aufs Regieren, ist zudem verzweifelt, dass die, die er nicht mehr liebt, keine Ruhe gibt und die, an der er Interesse hegt, heute heiraten wird. Nur wie soll er es, den Lübbe barfuß in Pyjamahose und Schlabber-T-Shirt als einen “Ich-leb-in-den-Tag-hinein-und-kann-es-mir-leisten” gekleidet hat, an sie rankommen? Der Prinz ist nur einer von zahlreichen Charakteren, die in ihrem Denken labil sind, sich fast schon willenlos führen lassen. Sein steifer, schmieriger, zackiger Diener Marinelli, in auffälligem Rot gekleidet, übernimmt beizeiten die Führung über den Prinzen und das Stück und lässt die Puppen tanzen. Emilias Versprochener Graf Appiani durchschaut das Spiel von Marinelli, lehnt sich gegen den Prinzen auf (“Ich kam an seinen Hof als ein Freiwilliger: Ich wollte die Ehre haben, ihm zu dienen. Aber nicht sein Sklave werden.”) und bezahlt das mit seinem Leben.

Emilias Eltern, in Erwartung der Hochzeit ihrer Tochter noch voller Drive auf der Stelle tanzend, drehen nach der Ermordung ihres Beinahe-Schwiegersohns am Rad, weil auch sie nicht recht begreifen, was da vorgegangen ist. Tot, warum?
Die einzige, die das Spiel Marinellis durchschaut, ist die Ex-Geliebte des Prinzen, Orsina, die Lübbe mit streng gekämmten Haaren selbstbewusst in das Ränkespiel schicken. Sie zwingt Marinelli eindrucksvoll zum Rückwärtsgang, kann aber den Lauf der Dinge nicht entscheidend ändern. Auch, weil sich Emilias Vater trotz genauer Information über den Lauf der Dinge durch Orsina vom Prinzen und seinem Diener davon abhalten lässt, Emilia aus Rache ins Kloster zu schicken. Der Bürger glaubt eben immer noch dem Adel.

Emilia, gespielt von Anna Keil, zeigt sich gewollt bieder und naiv. Lübbe verändert ihr Schicksal allerdings entscheidend. Am Ende zielt sie mit einer Pistole zuerst auf den Prinzen. Ein stummer Akt der Auflehnung des wie Marionetten behandelten Bürgertums gegen den Adel?

Lübbe lässt in seiner ersten Premiere als Intendant des Leipziger Schauspielhauses Figuren und Dialoge wirken, verzichtet auf ein aufwendiges Bühnenbild. Die Akteure spielen auf der drehenden Bühne mit einem sechssäuligen Tor und Scheinwerfern, die immer wieder Schatten erzeugen. Eine schlichte, aber variantenreiche Bühne. Schlicht sind allerdings auch manche Charakterzeichnungen. Lübbe hat Emilia Galotti gerafft, es in nicht mal anderthalb Stunden gepresst, da bleibt nicht viel Zeit, die Charaktere genau auszuprägen.

Bei Marinelli und dem Prinzen gelingt das hervorragend, aber Emilias Vater ist blasser und steht mit seinem glänzenden Anzug zwischen Baum und Borke. Unterm Strich steht jedoch die gelungene Aufführung eines Klassikers ohne allzu exzentrische Schnörkel, von einem wilden Kuss zwischen Marinelli und dem Grafen Appiani einmal abgesehen, und das Fazit eines Zuschauers: “Hierher kann man wieder gehen!” Theatralische Extravaganzen hat man vielleicht auch erstmal satt.

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