War es ein gezielter Angriff auf die Website www.wir-bleiben-hier.de? - Henny Kellner ist sich sicher: Es war einer. Kaum dass die City Card "Waren Sie dabei?" am 6. Oktober in Leipzig in den Kartenhaltern steckte, wurde die Internetseite des Dokumentationsprojekts zur Friedlichen Revolution angegriffen.

Bisher Unbekannte drangen in den Account ein und löschten die Seiten vollständig, so Henny Kellner. “Mit großem Einsatz konnte www.wir-bleiben-hier.de bis zum Mittag des 9. Oktober wieder komplett hergestellt werden. Es wurde Anzeige erstattet, da der Start des Projektes an diesem wichtigen Wochenende erheblich beeinträchtigt war.”

In der ersten Woche des Erscheinens nahmen Leipziger 8.500 Kontaktkarten der Zeitzeugenbefragung aus den culturtraegern der Stadt. Weitere 1.000 Karten verteilte die Initiatorin direkt auf Veranstaltungen und dem Straßenfest am 9. Oktober und fand dabei viel Interesse und positive Resonanz.

Denn es geht um ein großes Projekt: Ein “Geschichtsbuch des 9. Oktober” soll entstehen und der namenlosen Menge, die an jenem durchaus gefährlichen 9. Oktober 1989 zum Demonstrieren in die Leipziger Innenstadt kam, Gesicht und Individualität geben. Die offiziellen Statistiken sprechen von 70.000 Mutigen, eine Auswertung der Fotos weist sogar 120.000 aus. Doch nicht sie spielen eine Rolle bei allen heutigen Festivitäten zu diesem Tag und zur Friedlichen Revolutionen.Aus dem damaligen Ruf “Wir sind das Volk”, mit dem vor allem den anwesenden bewaffneten Truppen entgegen gerufen wurde, dass nicht sie es waren, die für das Volk der DDR standen, wurde der Einheitsruf “Wir sind ein Volk” und heute immer mehr das unausgesprochene “Ich bin das Volk”, mit dem diverse Politiker agieren. Auch in Leipzig sind viele Diskussionen um Bürgerbeteiligung und Transparenz im Boden versickert. Nicht erst “Stuttgart 21” hat gezeigt, wie sehr längst wieder (oder immer noch) über die Köpfe der Betroffenen hinweg entschieden und regiert wird.

Henny Kellner: “Aber letztendlich bestimmen wenige, immer wieder aufgenommene Versatzstücke der Zeitbetrachtung die öffentliche Erinnerung. Diese Art des Umgangs mit Geschichte bringt Ungereimtheiten hervor, wie in der Festrede des Bundespräsidenten zum 20. Jubiläum der Friedlichen Revolution 2009. Nicht zufällig ist die an gleicher Stelle gehaltene Rede von Werner Schulz, die bis heute meistzitierte. Nicht zufällig gründete sich im gleichen Jahr die Stiftung Friedliche Revolution mit dem Leitgedanken: Wir gehen weiter! Nicht zufällig gibt es in Leipzig keine breite Zustimmung zu einem über die Stadt hinausweisenden Denkmal der Friedlichen Revolution und zur Teilumbenennung des Leuschnerplatzes. Woher sollen Stolz und Bewusstsein der eigenen Wirksamkeit kommen, wenn Wiederholungen statt Bestandsaufnahme von Zeitzeugenschaft Platz greifen?””Wir wundern und ärgern uns über Verklärung”, sagt sie. “Aber wie steht es um eine offene, den Beteiligten gerecht werdende Aufarbeitung? Demokratie ist anstrengend!”

Der Anspruch des Herbstes 1989 ist noch längst nicht ganz eingelöst. Und es ist durchaus keine zu frühe Idee, den Menschen, die damals demonstrierten, eine Stimme und eine Plattform zu geben. Zwei Dutzend haben sich schon bei der Projektinitiatorin gemeldet. “Es können durchaus noch einmal so viel werden”, sagt Henny Kellner.

Jeder, der dabei war, ist eingeladen, diesem Projekt Leben zu geben. Kellner: “Wenn Sie zu den Bewegten gehörten, die die Geschichte einen entscheidenden Schritt voran gebracht haben, dann melden Sie sich bitte. Geben Sie einer Seite im Geschichtsbuch Leben!”Nun erscheinen die Karten ein zweites Mal in der Stadt. Doch auch wer keine mehr findet, kann sich über den Kontakt der Internetseite, per E-Mail: Henny.Kellner@wir-bleiben-hier.de oder per Telefon (0341) 99 54 449 für die Aufnahme in das Projekt melden. Auch Hinweise, Beiträge auf der Homepage oder Mitarbeit in dieser basisdemokratischen Geschichtsbetrachtung sind willkommen.

Auf der 2. Leipziger Demokratiekonferenz konnte die Initiatorin das Interesse Jugendlicher an ihrem Projekt testen. In einer Arbeitsgruppe mit jungen Leuten aus sieben europäischen Ländern erregte es starkes Interesse und setzte eine lebhafte Diskussion auch zu aktuellen Demokratiebewegungen in Gang. Die Jugendlichen empfanden nicht nur die “geschichtlichen Vorgänge des Herbstes 89 in realen Schilderungen viel spannender und verständlicher” sondern waren deutlich beeindruckt vom “krassen” Kontrast zu ihren heutigen Gestaltungsmöglichkeiten.

Womit der zweite Aspekt des Projektes deutlich wird: Wenn diejenigen, die tatsächlich 1989 dabei waren, nicht erzählen, wie es war, werden es andere tun – und teilweise tun sie es längst.

“Bitte heften Sie die Karten nicht zu Hause an die Wand, sondern senden sie ein”, wünscht sich Henny Kellner. “Zivilgesellschaftliches Engagement kann gerade heute wieder wichtige Impulse aus der Friedlichen Revolution aufnehmen. Zeitzeugen sind wertvoll. Erinnern wir uns!”

Wer sich die Ergebnisse der Arbeit aus erster Hand sichern möchte, kann sie sich gegen einen Obolus auf www.visionbakery.de/vision/110 bestellen, wo das Geld für das Buchprojekt durch Spendenbeiträge vieler Interessierter gesammelt wird.

www.wir-bleiben-hier.de

www.visionbakery.de/vision/110

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