Der Leipziger Süden ist nicht nur ein Hort der familiären Glückseligkeit, deren Produkt zahlreiche Kinder sind. Hier leben auch 60 alkoholkranke Menschen im Maximilianstift in der Brandvorwerkstraße. Sozialarbeiterin Ramona Kolitsch arbeitet täglich dafür, dass sie ihr restliches Leben leben können - und manche vielleicht auch wieder gesund werden.

Jeder, der den 90er-Jahre-Bau in der Brandvorwerkstraße betritt, kommt unweigerlich am Büro von Ramona Kolitsch vorbei. Es liegt direkt neben der Eingangstür. Hier ist tagsüber immer wieder Begängnis. Sind die Fenster angekippt, kann die Diplom-Sozialpädagogin und stellvertretende Heimleiterin hören, worüber sich die Bewohner vor dem Haus unterhalten – wenn sie sich unterhalten, denn eine Unterhaltung zu führen ist im Maximilianstift in der Brandvorwerkstraße gar nicht so einfach. Hier leben 50 alkoholkranke Männer und zehn alkoholkranke Frauen.

“Alle haben mindestens Pflegestufe 1 und einen chronischen Alkoholabusus”, so Kolitsch. Ab einem gewissen Status kann eine Alkoholabhängigkeit zur Ataxie führen. Ataxie ist eine Folgeerkrankung von Alkoholabhängigkeit, diese tritt aber nicht zwangsläufig bei jedem Menschen auf. Ein Krankheitsbild, was Wissenschaftler der Universität Lübeck mit “taumeliger Gang, verwaschene Sprache” zusammenfassen. Auf mindestens einen Hausbewohner trifft beides zu. Anwohner im Süden kennen ihn bestens, tagsüber stolziert er durch die Straßen, was nicht nur körperlich möglich, sondern auch normal ist, denn “auch wenn wir ein Pflegeheim sind, ist es den Bewohnern erlaubt, ihren Tag selbst zu bestimmen”, stellt Kolitsch klar. Nur die Essenstermine sind fest, die jeden Tag angebotenen Termine für Ergotherapie und Sport müssen die “Maximilianer” nicht annehmen, sondern können das Haus auch verlassen.
“Die Bewohner können kommen und gehen, wann sie wollen, wir haben keinen geschlossenen Bereich”, so Kolitsch, die auch gesteht: “das ist nicht immer einfach, aber in der Hausordnung auch nicht einfach umzusetzen.” Denn nicht alle Patienten sind abstinent. Im Moment ist es immerhin mehr als die Hälfte, doch die meisten von ihnen haben in der Vergangenheit so viel getrunken, dass ihr Gehirn so stark beeinträchtigt ist, dass auch ihr Suchtgedächtnis verloren ist. Sie wissen gar nicht, dass sie einmal Alkoholiker waren. Eine von einem Krankenhaus festgestellte Pflegebedürftigkeit ist das Eingangsticket für die Patienten. Nicht selten liegen sie zuvor wegen eines Schlaganfalls oder Herzinfarkts im Krankenhausbett, nachdem sie zumeist allein gewohnt haben oder obdachlos waren.

Ihr neues Domizil ist in vier Pflegegruppen à 15 Personen aufgeteilt, pro Etage eine Gruppe. Hier teilen sich die Bewohner den Aufenthaltsraum und nicht selten ein Zimmer. “Jede Etage verfügt über fünf Einzel- und fünf Doppelzimmer”, erklärt Kolitsch, die sich zusammen mit ca. 30 Kollegen um die Belange und Bedürfnisse der Bewohner kümmert. Die meisten Bewohner sind Sozialhilfeempfänger, und diese erhalten 100,98 Euro Taschengeld., was Kolitsch jeweils verwahrt. “Die meisten geben ihr Geld für Drogerieartikel, Friseur, Zigaretten oder die Zuzahlungen bei der Apotheke aus”, weiß sie.
Darüber hinaus erfahren die Bewohner meist keine weitere finanzielle Unterstützung, viele haben keine Familie oder keinen Kontakt mehr zu ihrer Familie, oftmals eine Folge der andauernden Alkoholerkrankung. Auch deshalb hat fast jeder “Maximilianer” einen Betreuer, der per Gesetz bestimmt und nicht in der Familie gefunden wurde. Sie sind Ansprechpartner für Kolitsch, wenn es Schwierigkeiten oder Veränderungen im Haus gibt. “Doch das Engagement der verschiedenen Betreuer ist auch sehr unterschiedlich”, berichtet Kolitsch.

Ihre Kollegen kümmern sich derweil unter anderem um die Ergotherapie, und das, was man gemeinhin soziale Betreuung nennt, führen Bewohner zum Spaziergang aus, spielen oder unterhalten sich mit ihnen. Gearbeitet wird im Dreischichtsystem für die es keinen Zapfenstreich gibt. “Bei einigen ist der Tag-Nacht-Rhythmus vollkommen durcheinander geraten, weswegen sich manche nachts noch vor den Fernseher setzen.” Solange niemand gestört wird, ist das in Ordnung.

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Sind die Patienten einmal eingeliefert, werden sie das Pflegeheim so schnell nicht wieder verlassen. “Im letzten Jahr gab es drei Patienten, bei denen die Pflegestufe wieder aberkannt wurde, weil sich ihr Gesundheitszustand gebessert hat und sie ihre Pflegestufe verloren haben.” Doch Kolitsch weiß auch, dass nicht allen der Sprung zurück ins alte Leben geglückt ist. Die meisten Bewohner werden allerdings das Pflegeheim bis zu ihrem Lebensende nicht mehr verlassen. Aber trotz der langen Zeit miteinander bilden sich unter den Bewohnern selten Freundschaften. Kolitsch glaubt zu wissen, warum: “Das ist auch aufgrund der Krankheit nicht möglich, Freunde hatten die Bewohner lang nicht mehr. Es gibt ein paar seltene Freundschaften, aber viele kennen nicht mal den Namen des anderen.” Und so stehen auch die Bewohner vor Kolitschs Fenster meist allein da, unterhalten sich aus verschiedenen Gründen nicht mit ihren Mitbewohnern.

Trotz der deprimierenden Lebensläufe und der ebenso wenig vielversprechenden Lebensaussichten ihrer Bewohner hat die 36-Jährige Freude an der Arbeit. “Es ist enorm abwechslungsreich. Ich habe zwar täglich einen Plan, aber dann passieren so viele Dinge, dass man nur einen geringen Teil schafft und die Bewohner sind auch lieb und nett.” Das sagen auch die Anwohner, zumindest die, die sich beim Maximilianstift melden. “Sie kennen ja unsere Bewohner meist schon und wissen, wo sie hingehören.” Sie sind auch “der” Süden.

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