Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Sachsens Politik ist in weiten Teilen von schlichter Ignoranz gekennzeichnet. Man nimmt nur noch wahr, was in die Schönwetterbeobachtung passt. Daten und Fakten, die eine gegenteilige Entwicklung zeigen, werden schlicht nicht mehr erfasst. Thema Obdachlosigkeit. Seit 2008 erhebt der Freistaat keine Daten mehr zur Anzahl wohnungsloser Menschen in Sachsen.

Damals wurde die Zahl von 1.182 Betroffenen publik gemacht. Heute berät allein die Diakonie sachsenweit 2.268 Menschen, von denen mehr als die Hälfte ohne eigene Wohnung sind. Auch die Einrichtungen von AWO, DRK, Parität und Caritas berichten von steigenden Fallzahlen. Eine entsprechende Statistik stellte die Wohnungslosenhilfe des Diakonischen Werkes der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens e.V. am Donnerstag bei einer Fachtagung der Trägerverbände in Radebeul vor. Dabei ging es eigentlich eher um Jugendliche. Aber auch die sind zunehmend von Obdachlosigkeit bedroht.

514 konkrete Hilfefälle hat eine Studie der Berliner Alice-Salomon-Hochschule in Berlin analysiert. Deren Autorin Prof. Dr. Susanne Gerull referierte zur Liga-Tagung wesentliche Ergebnisse: “Hilfen für Wohnungslose müssen individueller und passgenauer sein. Ein zu starres Hilfesystem verursacht, dass an den Schnittstellen: beispielsweise zur Jugendhilfe oder zur Suchthilfe Menschen geradezu verloren gehen.”

Wer unter 25 Jahren alt und wohnungslos sei, werde solange zwischen Jugend- und Sozialamt hin- und hergeschoben, bis eine Seite aufgebe. Meist sei das der Hilfesuchende. Das gleiche gelte für Suchtkranke oder psychisch Kranke ohne eine eigene Bleibe. “Dabei müssen die Zuständigkeiten im Sinne der Menschen geklärt werden”, forderte Gerull auf der Tagung, die auf das positive Beispiel der badischen Großstadt Karlsruhe verweist. Hier arbeiten Träger und Ämter über Kooperationsvereinbarung eng zusammen und verhindern, dass Hilfefälle durch bürokratische Lücken rutschen.

Diese Schnittstellenproblematik diskutierten die knapp 100 Teilnehmenden der Fachtagung im Diakonischen Werk in Radebeul ebenso wie die besonders für Sachsen steigenden Fallzahlen älterer Wohnungsloser und Fragen eines niedrigschwelligen Zugangs zu medizinischer Versorgung und Arbeitsmöglichkeiten. Um der zentralen Bedeutung einer sinnvollen Tätigkeit für Menschen in besonderen sozialen Schwierigkeiten willen, forderten die Teilnehmer der Tagung die Einrichtung eines sozialen Arbeitsmarkts in Sachsen.Die Diakonie geht sogar davon aus, dass die Fallzahlen noch höher sind. “Unter Berücksichtigung der mit betroffenen Partner und Kinder erhöht sich die Zahl auf mindestens 2.806 Personen (Vorjahr: 2.798)”, heißt es in ihrer Auswertung. “Als Belege einer schleichenden Verschärfung der Problemlage können der wachsende Anteil von Betroffenen dienen, die bereits wohnungslos sind (er stieg gegenüber dem Vorjahr von 48 % auf 54 %), der Anteil der betroffenen Frauen (von 30 % auf 31 %) die Zahl der Kinder (33,4 % auf 37,3 %) und der Anteil derjenigen, die aus einer Institution entlassen, direkt auf der Straße landen (von 8 % auf 12%). Damit ist mittlerweile jede zweite ratsuchende Person wohnungslos.”

Auch im Sozialreport der Stadt Leipzig taucht das Problem der Obdachlosigkeit regelmäßig auf. Nur auf den ersten Blick scheinen hier die Zahlen von in Notunterkünften untergebrachten Männern, Frauen und Kindern recht stabil bei 250. Doch wie prekär die Lage von vielen Leipzigern ist, zeigt die Statistik der Räumungsklagen und Räumungstermine, die es überhaupt nicht geben dürfte, wenn das ausgefeilte Peter-Hartz-Reformpaket wirklich funktionieren würde. Die Räumungsklagen laufen dann an, wenn die betroffenen Haushalte ihre Rechnungen und Mieten nicht mehr bezahlen können, weil die Schuldenlast den Etat frisst.

Und während es in Leipzig gelang, die Zahl der Räumungsklagen von 1.273 im Jahr 2004 auf 943 im Jahr zu senken, stieg diese Zahl seit 2008 wieder rapide an. Nicht jede Klage führt auch zur Räumung. Aber seit 2008 steigt auch die Zahl der Räumungstermine wieder, lag 2010 mit 810 wieder fast so hoch wie 2005 (828). Hier wird dann das Sozialamt tätig, das versucht, Übergangslösungen zu finden. Aber hier ist dann auch von 583 Personen die Rede, die 2010 die Beratung in Wohnungsnotfällen in Anspruch nahmen, 79 mehr als 2009. Was zumindest ein Fingerzeig darauf ist, dass die Hartz-Reformen gerade da nicht helfen, wo sie ursprünglich als erstes helfen sollten: die sozial Bedürftigsten wieder besser in Gesellschaft und Arbeitsmarkt zu integrieren.

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Helfen muss dann die Stadt. Und sie wird auch in jenem Problemfeld aktiv, das zwangsläufig hier dazugehört: der Schulderberatung und der Schuldnerhilfe. Denn nicht alle Obdachlosen haben ihr Schicksal so gewollt oder es gar verschuldet. Die meisten kommen in Wohnungsnot, nachdem eine ganze Schuldenspirale dafür gesorgt hat, dass ihnen gar keine Handlungsoptionen mehr bleiben.

Und hier wird erst sichtbar, wie sich das Problem in den letzten Jahren verschärft hat: Die Fallzahlen in der Schuldnerberatung stiegen von 1.116 im Jahr 2007 auf 2.198 im Jahr 2010. Die Ausgaben der Stadt für diese Hilfsfälle stiegen von 280.000 auf 709.000 Euro. Und die meisten Betroffenen kommen direkt aus “Hartz IV”, dem Betreuungsbereich SGB II. Hier stiegen die Aufwendungen der Stadt von 210.000 auf 554.000 Euro.

Und ein ähnlicher Hinweis ist auch in der Auswertung der Diakonie zu finden: “Die Mehrheit aller Hilfesuchenden bezog Arbeitslosengeld II (53 %)”.

Nicht in der Statistik enthalten sind natürlich all jene, die ihren Mut im Umgang mit den Behörden und Ämtern längst verloren haben.

Die Auswertung der Diakonie findet man hier: www.diakonie-sachsen.de/viomatrix/imgs/download/wohnungslosenhilfe_bericht_und_statistik_2011.pdf

Die Sozialreporte der Stadt Leipzig findet man hier: www.leipzig.de/de/buerger/aemterhome/jugendamt/publik/Sozialreport-der-Stadt-Leipzig-19926.shtml

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