Es war stellenweise beklemmend. Und es war grandios, das Leipziger Lichtfest 2012. "Ungarn - Grenzen überwinden" war diesmal das Thema. Und man hätte ein Ausrufezeichen dahinter setzen können. Denn Grenzen fangen nicht mit einem nuschelnden Parteibonzen an, der in die Mikrofone schwadroniert, niemand habe vor, eine Mauer zu bauen. Mauern beginnen mit Vorurteilen - und mit der Arroganz der Macht. Wer drunter leidet, sind immer die Völker.

Und zum ersten Mal passierte am 9. Oktober 20 Uhr das, was zuvor noch bei keinem Lichtfest in Leipzig passierte: Der gastgebende Oberbürgermeister war im Dissenz mit dem Gast aus Ungarn. Und beide wussten es. Und während manche Kritiker Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) noch am Vortag vorgeworfen hatten, er würde die Kritik an den aktuellen politischen Entwicklungen in Ungarn nur im Vier-Augen-Gespräch mit Zoltan Balog, Minister für Nationale Ressourcen der Republik Ungarn äußern, der sah sich eines Besseren belehrt. Auch wenn Jung zurückhaltend blieb, seinen Gast auf dem Podium auf dem Augustusplatz zuvorkommend behandelte. Er sprach nicht nur an, dass man aus Leipzig, der Stadt der Friedlichen Revolution, die politischen Vorgänge in Ungarn derzeit sehr besorgt betrachte.

Er sagte auch vor den 20.000, 30.000 Leipzigern, die an diesem Abend auf den Augustusplatz gekommen waren, dass die Stadt Leipzig die “Leipziger Petition für Pressefreiheit in Ungarn” unterstützen werde. Die Unterschriftenaktion wurde anlässlich des Jahrestages des 9. Oktober 1989 von den beiden ungarischen Journalisten Balázs Nagy Navarro und Aranka Szávuly ins Leben gerufen. Die Journalisten gehören zu den diesjährigen Preisträgern des “Preises für die Freiheit und Zukunft der Medien” der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig, die den Preis am Montag, 8. Oktober, entgegen nehmen durften. Oberbürgermeister Burkhard Jung gehörte zu den ersten Unterzeichnern der Petition, die an Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Ministerpräsidenten der Republik Ungarn, Viktor Orban, gerichtet ist. Merkel und Orban treffen sich am Donnerstag, 11. Oktober, zum Gipfelgespräch.

Und die kurze Grußansprache von Zoltan Balog klang dann auch teilweise wie eine Antwort auf die Kritik von verschiedensten Seiten, die er in Leipzig zu hören bekommen hatte. Neben der Petition zur Pressefreiheit gab es ein Memorandum der BürgerInneninitiative “Leipziger Korrektiv”, Kritik von Politikern der Grünen und Linken. Und im Publikum waren Plakate zu sehen, die Demokratie ganz groß schrieben.

Balogs Rede wirkte dann auch wie der Versuch, die ganz spezielle Interpretation der aktuell in Ungarn regierenden Fidesz von Demokratie zu erklären. Er ging gar nicht erst auf die Vorwürfe zur eingeschränkten Pressefreiheit ein, er erwähnte auch nicht das Erstarken der rechtsradikalen Jobbik-Bewegung. Er versuchte die Proteste der ungarischen Opposition als Folge der kommunistischen und der lähmenden post-kommunistischen Ära zu interpretieren und sprach ziemlich schnell von den “Verlierern der Wende”, die nun enttäuscht seien von der Demokratie. Er sprach den 1,5 Millionen Ungarn, die unterm Existenzminimum leben, von den Rentnern, die im Durchschnitt mit 200 Euro Rente auskommen müssen und von den Roma, die sich nicht an die neuen Entwicklungen anpassen wollten.
“Freiheit bedeutet nicht automatisch Gerechtigkeit”, sagte er. Und sprach da durchaus eine diskutable Frage an. Freiheit sollte Gerechtigkeit eigentlich einschließen. Auch dann, wenn nicht alle dieselben erfolgreichen Lebensgeschichten haben.

Da klang es schon fast zynisch, als er sagte: “Wer für sich sozial keine Verantwortung tragen kann, kann auch für andere keine Verantwortung tragen.” Das klang dann so, als würden die ewig benachteiligten Unterschichten in Ungarn versuchen, den Sachwaltern der Demokratie das Leben schwer zu machen, lauter Leute, “für die Demokratie kein positives Wort mehr ist”. Als wäre die Fidesz der letzte Hort der demokratischen Verteidiger.

Und wer hat 1988/1989 in Ungarn die Grenzöffnung vorangetrieben? – “Wir Ungarn”, sagt Balog. “Wir Ungarn” sagt er auch zum Abschluss seiner Rede, sagt, man würde die Deutschen doch lieben und die Ostdeutschen erst recht. Und er sprach von Europa, das mehr Kommunikation brauche. “Wenn es einen ehemaligen Osten gab, muss es auch bald einen ehemaligen Westen geben”, sagte er. Europa brauche die Erfahrungen Osteuropas.

Es war zumindest der Versuch, den großen Bogen zu schlagen. Aber er wirkte nicht wirklich souverän. Von Ministern darf man eigentlich auch mehr Respekt vor den eigenen Landsleuten erwarten – gerade auch dann, wenn sie andere politische Ansichten haben oder eine andere Einstellung zum Leben haben. Die scharfen Töne gegen die, die “sozial für sich keine Verantwortung übernehmen”, kennt man auch aus Deutschland. Und es waren keine guten Töne. Regierungen sind nicht die Sachwalter ihrer speziellen Vorurteile – sie tragen Verantwortung für alle.

Aber wer sind alle?
Faszinierende Bilder dafür fand Mario Schröder mit dem Leipziger Ballett, das nach diesen beiden Reden die Bühne füllte und im Grunde das ganze rasende und von Angst, Repression, Freiheitswillen und Aufbruch geprägte Zeitalter der osteuropäischen Revolutionen tanzte. Angefangen mit dem Ungarn-Aufstand 1956 und einem heftigen Rückschlag ins Jahr 1953 über Mauerbau, Prag 1968, die 1970er Jahre mit ihrem Rock, den Weltraumflügen und der zunehmenden Erstarrung, Verzweiflung, Flucht – da brauchte es keine Fahnen, keine Losungen. Denn immer waren es Menschen, die sich dem Knirschen der Geschichte und dem Agieren der Machtapparate ausgesetzt, die hinter Mauern eingeschlossen waren, manchmal mutig, manchmal am Boden zerstört, hungrig nach Freiheit und Stolz.

Und das war auf der von Bänden überspannten Bühne eindringlich zu sehen. Mit Mario Schröder hat Leipzig einen Ballettchef, der die Meisterschaft eines Uwe Scholz adäquat fortsetzt. Und mit der szenischen Komposition auf der Lichtfest-Bühne, die eigentlich die großen historischen Einblendungen im Hintergrund gar nicht brauchte, ist ihm wohl die beste Tanz-Version eines exzessiven Jahrhunderts gelungen, das in den amtlichen Berichten der Zeit oft so dröge aussieht. Doch die Stimmen aus dem Off, die noch einmal all die großen politischen Sprüche thematisierten, reichten eigentlich, um dieses Zeitalter zu zitieren. Und auch den Widerspruch aufzumachen, in dem Völker immer leben – zwischen der Arroganz der jeweils Mächtigen, die immer so gern glauben, sie müssten an Stelle der von ihnen Regierten denken und richten – und dem eigenen kleinen Leben, das erst wichtig scheint, wenn die vielen Kleinen auf einmal anfangen zu handeln.

Die getanzte Bildsprache war eindrucksvoll, klar und mitreißend. Hier stürzten wirklich Menschen, die den Mächtigen unterlagen, hier versuchten Gedemütigte, wieder aufzustehen und den aufrechten Gang zu proben. Hier wurde mit Lebenslust oder auch manchmal mit tiefem Ernst rebelliert.

Und man sah die Ungarn dabei genauso aufbegehren wie die Tschechen, die Polen sah man genauso leiden wie die auf einmal eingemauerten Ostdeutschen. Man sah sie in ihr kleines menschliche Schicksal zurückfallen, flüchten und wiederkommen. Und man sah sie nach dem gemeinsamen Niederreißen der Mauern am Ende auch gemeinsam feiern und verzagen. Denn Demokratie ist kein Geschenk. Demokratie kann auch Angst machen. Die Stimme aus dem Off konnte die so Wählenden natürlich beglückwünschen: “Sie haben sich für Freiheit und Verantwortung entschieden.” Herzlichen Glückwunsch.

Aber dafür entschieden haben sich am Ende alle. Auch die Bedrückten und Beladenen, die Feigen und die Zaudernden. Und viele sind auch danach auf der Strecke geblieben – entmutigt, erschöpft. So eindrucksvoll hat wohl noch niemand die schweren Wege der Freiheit in Szene gesetzt. Und weil er es so schwer nicht belassen wollte, ließ Schröder seine Tänzer am Ende noch begeistert von der Bühne in die Freiheit springen.

Am Ende werden es wieder die Künstler sein, die die richtige Sprache finden für das, was geschah, nicht die Politiker. Es geht nicht um die Selbstbewusstheit einer Partei. Es geht immer um alle Menschen. Und eigentlich zuallererst einmal für die, die sich nicht selbst helfen können.

Aber das fällt auch deutschen Politikern immer wieder schwer zu akzeptieren.

Die Petition zur Pressefreiheit in Ungarn findet man hier:
www.leipziger-medienstiftung.de
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