Auch wenn das Wintermärchen Heinrich Heines heute längst nicht mehr zur Pflichtlektüre deutscher Schüler gehört und die vom Dichter angeprangerte Kleinstaaterei einfach nur in Föderalismus umbenannt wurde, ist den Deutschen nach immerhin 170 Jahren seit der Entstehung dieses unterhaltsam-kritischen Versepos' immerhin eines gemein: Die vereinte Furcht der Nation vor der trüben Jahreszeit.

Gerechterweise muss gesagt werden: Natürlich hat die kalte Jahreszeit ein paar Schattenseiten. Da hilft alles Verdrängen nichts. Ein Freund, der sich im letzten Winter auf Reisen mit der Deutschen Bahn einer erheblichen, durch dichten Flockenwirbel verursachten Verspätung ausgesetzt sah, wusste mir von einer hübschen Begebenheit zu berichten. Als einige seiner Mitreisenden ihren Unmut über die Unpünktlichkeit freien Lauf ließen, entgegnete die derart gescholtene Zugbegleiterin verdrießlich, man sei eben “vom Winter überrascht” worden. Wann man ihn denn erwartet habe, wusste mein Freund freundlich fragend zu entgegnen und damit Salz in eine tiefe deutsche Wunde zu streuen.

Es ist doch so: Die Deutschen scheinen alle Jahre wieder vom Winter überrascht und überrumpelt werden, da hat sich seit Stalingrad nicht viel getan. Wintereinbrüche oder andere Launen der Natur lösen in Deutschland seit jeher eine Art Angstschleife aus Panik, Enttäuschung und gegenseitigen Schuldzuweisungen aus.

Es mag mancherorts in der Welt möglich sein, mit Schnee und Winterwetter zurechtzukommen oder sich zumindest vernünftig darauf vorzubereiten. Das aber scheint dem Deutschen zu unwürdig, zu wenig dramatisch zu sein. Kaum hat die Boulevardpresse ein paar Schlagzeilen veröffentlicht wie Tief Daisy lässt den Norden zittern oder Winter legt Teile der Wirtschaft lahm verlautbart, befindet sich der Deutsche bereits am Rande der Entspannungsfähigkeit und bläst zum Sturm auf die Supermärkte – zum Hamsterkauf.

Das sorgenvolle Wintereinbruchsverhalten kommt in Deutschland jedoch nicht nur zur Winterzeit zum Tragen. Die Deutschen sind nun einmal eine Sorgenmachernation, da ist das Glas immer halbleer, zu groß ist die alttestamentarische Kenntnis über das Schicksal Hiobs und Noahs. Auch im Ausland ist der teutonische Tourist der einzige, dem auffällt, dass das Cocktailschirmchen schief hängt oder das Azur des Sommerhimmels von zwei Wölkchen getrübt wird.

Es kann uns einfach nicht gut gehen, wenn es uns gut geht. Deshalb erfindet die deutsche Seele gerne Bedrohungen, vor allem wenn keine vorhanden sind. In diesem Punkte waren die Deutschen längst zusammengewachsen, als sie 40 Jahre lang mal nicht zusammengehörten: Waren es in DDR-Zeiten noch handfeste Gefahren wie der Dritte Weltkrieg, der jederzeit erwartbare Angriff des Klassenfeindes oder das ständig mögliche Ableben eines sowjetischen Staatschefs, mit denen man bereits Zweitklässlern Furcht einimpfte und verdeutlichte, dass nur ein stark bewaffneter Frieden auch diesen Namen verdient, mussten ab den Neunzigern eher Epidemien wie Rinderwahn, Scrapie und Kreutzfeld-Jakob, Vogel- und Schweinegrippe dran glauben, um das wiedervereinigte Bedürfnis nach Angst zu befriedigen.

Die meist ausbleibende Katastrophe löst jedoch nicht etwa Freudentaumel und Erleichterung in der Bevölkerung aus, sondern ein latentes Gefühl der Verärgerung oder Enttäuschung. Als Folge sind gegenseitige Schuldzuweisungen an den Wetterdienst, die Politik oder die Deutsche Bahn dann an der Tagesordnung, worauf vor allem die Bahn dann so verstört reagiert, dass sich aufgrund des ausbleibenden Schneetreibens noch mehr Züge verspäten. Ein Teufelskreis!

Die ungenügende Vorbereitung auf den Winter in seiner Eigenschaft als Hannibal Lector unter den Jahreszeiten versuchen wir hingegen durch eine ausgiebige Vorbereitung auf das Weihnachtfest wettzumachen. Deutsche Weihnacht ist nichts für Weicheier. Weihnachten ist eine ernste Sache und beherrscht die teutonische Kreatur deshalb weit über ein halbes Jahr zuvor.

Um den 24. August herum – wenn die Thermometerflüssigkeit endlich einmal für ein paar Tage über die 30 Grad-Grenze geklettert ist, geht es los. Da liegen sie herum in den Supermärkten der Republik: Stollen, Domino-Steine, Vanille-Kipferl und Co. Die Menschen schleppen sich schlapp von der Hitze an den Regalen vorbei und schütteln die Köpfe: Wer soll dies denn jetzt essen? Das ist aber alles Camouflage – im Grunde sind sie erleichtert, dass jemand vorsorgt.

Nun dauert es auch nicht mehr lange, bis in den Kaufhäusern zum ersten Mal “Last Christmas I gave you my heart” erklingt – die emotionale Aufarbeitungs-Hymne der schwer enttäuschten Fönfrisur George Michael. Darin berichtet dieser alle Jahre wieder über eine offenbar als überaus traumatisch erlebte Enttäuschung um die Weihnachtszeit – verursacht durch eine leichtlebige Dame und fordert auf diese Weise das Mitleid seiner Umwelt ein.

Wer jedoch nun George Michaels Herz besitzt, erfährt der Hörer nicht. Aber gehört werden sollte auch einmal der andere Teil! Hat man jemals die Gegendarstellung der besungenen Dame vernommen? Dann nämlich käme vermutlich heraus: Last Christmas I gave you my heart but the very next day you said you were gay!

Doch auch die Beliebtheit anderer poppiger Christmas-Songs offenbart die tiefe deutsche Unsicherheit und einen latenten Hang zur Besorgnis: Gern eingesetzt wird auch Liedgut, in welchem gebetsmühlenhaft immer wieder gefragt wird, ob denn auch wirklich alle wissen, dass Weihnachten ist: “Do they know it’s Christmas time”?

So richtig loslassen und entspannen kann die deutsche Seele offenbar nur, wenn irgendwo Bing Crosbys “I’m dreaming of a white Christmas” erklingt – dann summen die Bürger zwischen Flensburg und Unterföhring leise mit und träumen versonnen vor sich hin.

“I’m dreaming of a white Christmas” – an dieser Stelle wollen wir unseren Blick still und diskret zu Seite wenden und uns gar nicht vorstellen, was alles passieren würde, wenn es Weihnachten tatsächlich schneite …

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar