"Ich war noch niemals in New York" wehte es vor einigen Wochen straßenmusikalisch über die Buden des Leipziger Weihnachtsmarktes. Obwohl ich schon einmal in New York gewesen war, wollte ich dennoch wissen, wer dies noch nicht geschafft hatte und ging nachschauen. An einer Ecke eines Kaufhauses hatte sich ein Pulk von Menschen um ein paar aufgeweckt-charmante junge Männer der Band "The Mad Hatters" geschart, die dort schrammelten und intonierten, was das Zeug hielt. Sie flirteten fröhlich mit den kichernden hübschen Hühnern aus der ersten Reihe und scherzten ausgelassen mit dem Rest.

Alles geschah mit einer solchen Frische und Ungestelztheit und war im besten Sinne unterhaltsam, dass man mit Fug und Recht behaupten darf, dass es eindeutig nicht ausschließlich an Weihnachtsmarkt-Punsch und Feuerzangenbowle liegen mochte, dass die Menschenmenge lauthals mitsang und vor allem – richtig glücklich aussah. Das Publikum zeigte sich textsicher, schreckte auch nicht davor zurück, sich dazu animieren zu lassen, eine Strophe des Keimzeit-Titels “Kling Klang” im Heimatdialekt darzubieten. Die Stimmung war damit unverhofft auf dem Höhepunkt angelangt. Fremde lachten einander an, ältere Anorak-Ehepaare schoben Kinder, die nicht ihre Enkel waren, in die vorderen Reihen: “Komm her, mein Guder, da kannste besser sehen!”

Ich lehnte mich innerlich beruhigt zurück. Ließen sich doch mindestens zwei große deutsche Sorgen in Anbetracht des Geschehens gelassen beiseite legen. Einerseits die Angst, die Deutschen fänden seit dem Zusammenbruch von “Wetten dass” keinen gemeinsamen Nenner mehr. Andererseits die latente Beunruhigung, der Deutsche tauge einfach nicht zum Glücklichsein.

Wobei man sich natürlich berechtigterweise schon fragen muss, was das für ein Volk sein muss, das eine derart gestaltete Unterhaltungsshow für ihr konsensstiftendes Kulturgut hielt und nicht erkannte, dass die Sendung schlichtweg nur so gut oder so grottenschlecht war wie ihr jeweiliger Moderator. Frank Elsner als verbindlich-akkurater, keineswegs unangenehmer Schöpfer der Sendung – einverstanden, Gottschalk als großer Zampano mit fröhlicher Unerschrockenheit und Sinn für Wortwitz zur rechten Sekunde, das hatte alles Berechtigung und seine Zeit. Über Lippi und Lanz verliert man besser kein Wort, wenn man keines verlieren will.

Da können noch so viele noch so viele Stunden erzählen, man habe immer früher im Frotteeschlafanzug mit der Familie vorm Fernseher gesessen und mitgewettet. Ich wette, es gibt mehr als in Frottee gewickelte Deutsche für etwas Gemeinsinnstiftendes. Manchmal wirkt es fast so, als verleugne der Bundesbürger die hellen Seiten des Deutschseins bewusst, weil er sich irgendwie in seiner Rolle eingerichtet hat – als ein in der europäischen Landschaft herumhockendes, fleißiges, wohlhabendes Trauerklösschen, das höchstens mal zur Fußball-Weltmeisterschaft aus sich herauszugehen vermag.

 

Das ist im Grunde das eigentlich Traurige am Deutschsein.

Dabei sind wir schon bei der zweiten zu entkräftenden Sorge: Wir fühlen uns nicht gut genug, wir glauben, unzulänglich geboren zu sein, wir müssten uns ständig zielgerichtet optimieren, damit man den Anforderungen der Zeit gewachsen sei, was heißt, als – im wahrsten Sinne des Wortes – entfaltetes Individuum gleich als Globalisierungshai zu punkten. Dazu gehört natürlich auch: nicht rauchen, nicht saufen und mit der Pulsuhr am Golden Retriever zweimal täglich um den Block mit anschließender Entschlackung mit Fußsohlenmassage. Statt Hopfenkaltsschale nach dem Sport Klangschale und Yogitee. Prost.
Dabei sah man es doch gerade hier auf der Straße: Ein bisschen gemeinsames Musizieren macht den Menschen schon zu einem besseren.

Das kleine Glück liegt auf der Straße.

Verstehe man mich nicht falsch: Das hier ist kein Glücksratgeber. Glücksratgeber-Autoren gehören nicht in Verlage, sondern ins Gefängnis. Das Leben ist nämlich mit Hilfe des begnadete Science-Fiction-Autor Douglas Adams schnell erklärt: “Die Menschen werden geboren, die Menschen sterben, und die Zeit dazwischen verbringen sie mit dem Tragen der Digitaluhren.”

Mit dem Tragen der Digitaluhren gehen für gewöhnlich Dilemmata einher, die an jeder Ecke lauern – selbst oder gerade für den in der Postmoderne angekommenen Menschen. Seit Jahrhunderten mittlerweile fühlt er sich zwischen Ehebruch und Heimwerkelei, Midlife-Crisis und Mordgelüsten hin- und hergerissen, irgendeiner hat immer Krebs, irgendein Katzenfreund mit Hang zum Pfeifentabak gerät immer in einen tierfreien Nichtraucherhaushalt, irgendeiner kann sich immer nicht zwischen Augsburger Kreidekreis und Augsburger Puppenkiste entscheiden. Einer kriegt gerade Alzheimer im Anfangsstadium, obwohl er gerade neu verliebt ist, der andere hat Multiple Sklerose in Schüben und verarscht die Frau, die ihn trotzdem liebt, mit einer anderen. Das sind alles keine ausgedachten Szenarien. Sicher ist es rechtes, dann und wann den Glauben an die Welt zu verlieren – manchmal. In Wahrheit ist das Leben nämlich einen Verkettung von Dilemmata mit durchaus möglichen, aber keineswegs einklagbaren Glücksmomenten.

Eine Ahnung aber zu haben über die Möglichkeit, diese Glücksmomente zu potenzieren – die ist selbstverständlich zulässig, wenn nicht gar vonnöten: Wir besitzen nämlich einen Schatz. Etwas sehr, sehr Wertvolles. Wir haben neben “Wetten dass” nämlich gemeinsames Liedgut. Musik. Bilder. Worte. Bücher. Gedichte. Stücke. Nennen wir es ruhig beim Namen: Wir haben die Kunst. Neben allen Verflachungen der Unterhaltungsindustrie hat sich etwas bewahrt, was kostbarer ist als alles andere: Der Wille des Menschen, sich die Banalität des Lebens mit etwas Schönheit zu erhöhen. Dazu allein ist eine Fähigkeit imstande, die der viel strapazierte Begriff “Kreativität” beschreiben würde. Man kann aber auch Schöpfertum, Phantasie, Schaffung von anderen Welten dazu sagen.

All das gedeiht aber nicht gut, wenn ein Land zunehmend seine Künstler am ausgestreckten Arm verhungern lässt. Oder alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens in betriebswirtschaftliche Schablonen presst. Wenn talentierte Schauspieler am Hungertuch nagen, wenn Theater geschlossen werden, Mittel für die Kultur nur einem Trend folgen – dem der Kürzung. Wenn Buchmessen zu Verlagsschlachten werden, wenn Kreativität evaluiert werden soll. Wenn Sparzwang zum Schlagwort der Gesellschaft wird, obwohl Sparen der natürliche Feind jeglicher künstlerischer Visionen ist. Sparen ist das Gegenteil jeglicher Phantasie. Wer ständig spart, wird nicht reicher, sondern ärmer.

Weil nur durch die Kunst der Alltag nicht mehr so hässlich schmirgelt auf dem Herzen.

Der jüngst verstorbene Udo Jürgens hat das alles natürlich eleganter formuliert:

“Deine Stimme erheben und singen –

gegen die Schwerkraft der Melancholie,

alle Schatten der Angst überspringen

in einer Sprache der Philharmonie –

immer, immer wieder – immer, immer wieder:

Die Welt braucht Lieder!”

In diesem Sinne: Sing Hallelujah!

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