LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug aus der Ausgabe 64„Vernunftbegriffe dienen zum Begreifen, wie Verstandesbegriffe zum Verstehen (…)“, schreibt Immanuel Kant in seiner Kritik der Praktischen Vernunft. Während der Verstand laut Kant die bloße Fähigkeit darstellt, zu denken, betrachtet er die Vernunft als das Vermögen, die Erkenntnisse des Verstandes zu ordnen, zu reflektieren und danach auf der Basis von Entscheidungen (für die man sich verantwortlich zeigt), diese zu bewerten, ab- und aufzuwerten, zu kategorisieren. Die Vernunft ist demnach die Grundlage des Handelns. Wer Sachverhalte also begreift, entscheidet selbstbewusst und wird – in Kants Ideal – aktiv im Sinne des Kategorischen Imperativs: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Was heißt also Begreifen? Begreifen ist ein Begreifen-Wollen. Es zeigt die Bereitschaft, Dinge nicht nur abstrahierend aus der Distanz zu verstehen, als etwas, das mich im Eigentlichen nichts angeht, sondern Begreifen ist ein emphatisches Fassen als etwas, das mich durchaus angeht, das mich berührt und das ich deshalb fassen, es be-greifen möchte. Für die Initiative Leipzig Korrektiv ist der Unterschied von Verstehen und Begreifen von zentraler Bedeutung. Über ihr Filmprojekt, welches die Begegnung von Flüchtlingen mit dem Holocaust dokumentiert, habe ich mich mit Ricky Burzlaff und Richard Gauch unterhalten.

Leipzig Korrektiv

Die Bürgerinitiative Leipzig Korrektiv begleitet seit 4 Jahren Flüchtlinge u. a. aus Syrien, Marokko und dem Irak in allen Belangen des Alltags in Leipzig – angefangen von Behörden- und Amtswegen, der Anmeldung in Schulen, bis hin zur sprachlichen Verständigung, Wohnungssuche, Notfälle etc. Die Initiative bietet quasi eine Rundumbetreuung, sagt Gauch und betont dabei, dass sie rein durch privates Engagement, ohne staatliche Subventionen, existiert und lediglich über Spendengelder des Trägervereins „Menschen.Würdig e. V.“ finanziert wird.

In der Initiative arbeiten neben der deutsch-ungarischen Kulturwissenschaftlerin und Publizistin Magdalena Marsovszky, die Abgeordnete der Linken im Sächsischen Landtag sowie im Stadtrat Leipzig Juliane Nagel, der Träger des Bundesverdienstkreuzes 1. Klasse György Dalos, der Preisträger des Sächsischen Förderpreises für Demokratie 2012 und des Leipziger Friedenspreises 2009 Stephan Bosch auch Ricky Burzlaff und Richard Gauch.

Richard Gauch wurde mehrfach für sein Zivilengagement ausgezeichnet. 2013 war er Projektleiter der Initiativgruppe „Mahnwache und Stolpersteine putzen“, erhielt den Preis „Couragiert in Leipzig“ und ist zudem Preisträger des Bündnisses für Demokratie und Toleranz- gegen Extremismus und Gewalt bei der Bundeszentrale für politische Bildung. Sein Kollege Ricky Burzlaff war ehemals Vorsitzender des Vereins „Verantwortung für Flüchtlinge e. V.“ aus Leipzig, welcher insbesondere auf dem Westbalkan im Interesse der dort lebenden und aus Deutschland abgeschobenen Roma aktiv ist. Der Verein hat u. a. mit dem Ungarischen Roma-Parlament zusammengearbeitet, Fußballprojekte gemeinsam mit Roma und Nichtroma veranstaltet und ein Selbstversorgeprogramm für Roma aufgebaut.

Ricky Burzlaff vor dem „Schlauch“ der Gedenkstätte Belzec. Foto: Ricky Burzlaff

Antisemitismus unter Flüchtlingen

Als wir auf das neue Projekt der Initiative, ein Film über die Begegnung von Flüchtlingen mit dem Holocaust, zu sprechen kommen, sagt Richard Gauch: „Man kann nur über Dinge reden, die man gelernt hat, die einem bekannt sind.“ Und auf der Seite des Filmporträts heißt es zudem: „Da viele Geflüchtete in ihren Heimatländern unter tendenziell antisemitischer Erziehung und Schulbildung aufgewachsen sind, stellt die Begegnung mit dem Holocaust und dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte für sie eine neue Erfahrung dar.“

Trotz der alarmierenden Zunahme von Antisemitismus in ganz Europa gibt es die Tendenz, das Thema, gerade in Zusammenhang mit Flüchtlingen, zu verschweigen; dies wohl aus nicht unberechtigter Angst vor der Vereinnahmung von antidemokratischen Stimmen, wie das Beispiel JAfD zeigt. Aber in ihrer langjährigen Zusammenarbeit mit Geflüchteten stellten Gauch und Burzlaff fest, dass einigen Geflüchteten der Holocaust schlichtweg gar nicht bekannt sei; ein Unterschied übrigens zu Menschen gleich welcher Herkunft, die ihn leugnen: Denn man kann ja nur leugnen, was einem bekannt ist, was man, um an Kant zu erinnern, durchaus verstanden haben dürfte. Der Wunsch, sich dem Thema zu stellen, ging dabei von den Flüchtlingen aus, betonen die beiden. Ihre Neugierde und die Bereitschaft, die eigenen sozialen Prägungen zu hinterfragen, brachten Gauch und Burzlaff auf die Idee, den jungen Männern eine umfassende Geschichtsbildung zu vermitteln.

Erstes Bekanntmachen mit dem Holocaust

Am Beginn dieser Arbeit standen Reisen nach Berlin. Gemeinsam nahm man an Führungen durch den Bundestag teil, ließ sich das parlamentarische System der BRD erklären und kam somit schnell auch auf die jüngere deutsche Geschichte zu sprechen. Es folgten Besuche des jüdischen Museums, Fahrten nach Buchenwald und Dachau.

Im Sommer 2017 entschlossen sich Burzlaff und Gauch zu einer Fahrt zusammen mit einem Flüchtling aus dem Irak nach Auschwitz. Jenen hatte die Reise nach Auschwitz derart verändert und dazu motiviert, in seinem Umfeld aufzuklären und die vorhandenen Stereotype abzubauen, dass dies Leipzig Korrektiv dazu veranlasst hatte, diese Reise mit anderen Teilnehmern zu wiederholen und zu dokumentieren. Im Vorfeld stellte sich für die Initiative dabei natürlich die Frage: Ist traumatisierten Menschen, die aus ihrer Heimat vor Krieg, Terror, Folter und Misshandlungen geflohen sind, eine Fahrt nach Auschwitz überhaupt zuzutrauen?

Zwar ginge eine Gleichsetzung zwischen dem Holocaust und etwa einer Massenerschießungsszene in Syrien, die manche der Männer als Zeugen miterleben mussten, fehl. Dennoch aber liegt ja auf der Hand, dass jene in Auschwitz möglicherweise Schmerzen nachvollziehen zu haben, die die meisten aus den letzten Generationen hierzulande nicht kennen können. Der Entschluss, die Fahrt anzutreten, lag daher bei den drei geflüchteten Männern und diese zeigten sich hierfür sofort bereit.

Kranzniederlegung in Treblinka. Foto: Ricky Burzlaff

Der Film

Am 26. Januar dieses Jahres machte sich das Filmteam um Burzlaff zusammen mit den drei Flüchtlingen auf den Weg, um tags darauf an den jährlichen Gedenkveranstaltungen auf dem Gelände von Auschwitz I und Auschwitz-Birkenau teilzunehmen. Das Team war sich dabei darüber einig, dass es vor Reiseantritt kein Drehbuch geben dürfe und man stattdessen auf das Einfühlungsvermögen der drei jungen Männer setzen könne. Ziel des Films war es schließlich ja, die Veränderungen der Gruppe während der Fahrt nach Auschwitz zu dokumentieren und weniger, über Auschwitz selbst aufzuklären.

Einen Tag später, am 27. Januar, besuchte die Gruppe das Stammlager I von Auschwitz. Und hier sah sie die Überbleibsel, die Menschenhaare, die Brillen, die Kinderschuhe, die Häftlingskleidung, die Zyklon B-Dosen. Ein Schock für die jungen Männer, wie mir Burzlaff und Gauch erzählen. Was die Gruppe dabei besonders übermannte, waren die gigantischen Ausmaße der Anlagen – die Entladerampe in Auschwitz-Birkenau, die Massenbaracken, die rekonstruierten Gaskammern, die „Todeswand“.

Und hier, an der „Todeswand“ zwischen Block 10 und Block 11, legte die Gruppe plötzlich zusammen mit dem VVN-BdA (Verband der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschisten) einen Kranz nieder. Das Interessante für meine beiden Gesprächspartner war eben das: der Wunsch ihrer Gruppe, nicht nur an dem Gedenken teilzunehmen, sondern dieses aktiv selbst in die Hand zu nehmen, in Form einer solidarischen Kranzniederlegung selbst zu handeln.

Der Film dokumentiert neben der Lagerbesichtigung und der Gedenkveranstaltung, Gespräche mit zwei Zeitzeugen auch die Fahrten zu den beiden Vernichtungslagern Belzec und Treblinka. Zwischen der Zeit vor der Fahrt nach Auschwitz und danach, so Gauch, stellte er spürbare Veränderungen im Wesen seiner drei Begleiter fest: Waren sie vor der Reise durch die Fahrten nach Berlin etc. über den Holocaust informiert, hatten sie diesen folglich intellektuell verstanden, so haben sie erst jetzt, hier in Auschwitz, sich einem Begreifen des Holocausts nähern können.

Ausblick

Der Film befindet sich nun in der Postproduktion. Das Material muss gesichtet und geschnitten werden. Für diese Arbeitsphase werden nun noch mehr als 8.000 Euro benötigt, die per Spenden an „Menschen.Würdig e. V.“ aufgebracht werden sollen. Ricky Burzlaff und Richard Gauch wollen den Film dann möglichst schon bei der nächsten DOK einreichen und in Programmkinos in Verbindung mit Publikumsgesprächen zeigen. Hierfür hat Leipzig Korrektiv bereits eine Zusammenarbeit mit dem VVN-BdA begonnen; zudem gab es bereits erste Gespräche über eine Kooperation mit der „Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention“ der Stadt Leipzig.

Jene Flüchtlinge, die mit ihnen nach Auschwitz gefahren sind, werden nun als Multiplikatoren wirken, so Gauch, denn was sie in Auschwitz begriffen haben, hat in ihnen den Entschluss reifen lassen, gegen jeden Antisemitismus aktiv zu werden.

Für Gauch und Burzlaff steht fest, dass Bildungsfahrten nach Auschwitz zusammen mit weiteren Interessenten wiederholt werden sollten. Ihren Film verstehen sie dabei als Impuls für andere Gruppen, ähnliches zu tun und damit Flüchtlingen, aber auch, gerade in Hinblick auf die jüngsten Entwicklungen, Menschen ohne Migrationshintergrund einen anderen Zugang zum Holocaust zu vermitteln.

Mehr Informationen zum Filmprojekt finden Sie hier: https://www.startnext.com/filmprojekt-mit-fluechtlingen

Das Projekt benötigt bis zum 31. März 2019 dringend finanzielle Unterstützung, um den Film fertigstellen zu können. Über folgendes Konto kann jederzeit gespendet werden:

Menschen.Würdig e. V.
IBAN: DE20 8306 5408 0004 9621 09
BIC: GENODEF1SLR
VR-Bank Altenburger Land Deutsche Skatbank
Verwendungszweck: Leipzig Korrektiv – Film

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