LEIPZIGER ZEITUNG/Auszug Ausg. 63Eine der Erzählungen meines Großvaters, die sich mir nachhaltig eingeprägt haben, ist diese: In den 60er Jahren gab es in der kleinen italienischen Stadt Punta Sabbioni ein Café, in welchem jeden Morgen die Maurer der Stadt und die Leute, die mit der Fähre nach Venedig wollten, zusammenkamen und einen doppelten Espresso mit reichlich Zucker bestellten. Man trank den Espresso, löffelte danach das Kaffeezuckergemisch und war damit bis zum Mittag gesättigt.

Nicht immer konnten die Maurer ihren Espresso bezahlen; etwa dann, wenn sie noch nicht entlohnt waren. Die Wirtin des Cafés hatte die Statur eines Kleiderschranks und ein Gedächtnis wie ein Großrechner. Sie bediente ihre Kundschaft und merkte sich alle ausstehenden Rechnungen, ohne dafür Stift und Papier zu bemühen.

Dass aber selbst Großrechner nicht immer einwandfrei funktionieren, machte ihr nichts aus, denn außer einem grandiosen Gedächtnis verfügte diese Dame über eine weitere Gabe: Sie konnte darauf vertrauen, dass die Leute, die nach Venedig fuhren und die Maurer früher oder später ihre Rechnungen begleichen würden.

Möglicherweise lässt sich das Vertrauen der Wirtin auf die neapolitanische Tradition des „Caffè sospeso“ zurückführen. Zwischen den beiden Weltkriegen war es in Neapel nämlich üblich, dass besser situierte Menschen zusätzlich zu ihrem eigenen Kaffee für die ärmere Bevölkerung einen zweiten Kaffee mitbezahlten, sodass möglichst alle in der Stadt in den Genuss des Kaffeetrinkens kommen konnten.

Eine Initiative, die diese Sitte auch hierzulande etablieren möchte, ist „Suspended Coffee Germany“.

Die Idee gelangt nach Deutschland

Im April des Jahres 2013 lag die Gymnasiastin Saskia Rüdiger krank im Bett. Sie surfte im Netz und stieß auf Facebook zufällig auf einen Beitrag, in welchem ein gewisser John Sweetny das Prinzip des „Caffè sospeso“ erklärte und für seine gerade erst gegründete Homepage mit dem Namen „Suspended Coffee“ warb. Saskia sah, dass sich binnen kürzester Zeit weltweit Cafés und Bars gefunden hatten, die Sweetny in seinem Vorhaben unterstützten; nur in Deutschland fand sie nichts Vergleichbares. Da entschloss sie sich, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Am 8. April nahm sie Kontakt mit Sweetny auf; am darauffolgenden Tag war die Initiative „Suspended Coffee Germany“ online.

Der Weg zu TiMMi ToHelp e. V.

Über lange Zeit ruhte das Projekt allein auf Saskias Schultern. Sie entwickelte das Konzept, baute sich ein Netzwerk auf und ist bis heute als Leiterin des Projektes Ansprechpartnerin nach außen und allein verantwortlich für alle wesentlichen Belange bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit. Bemerkenswert ist hierbei der Umstand, dass sie diese Arbeit neben ihrem Studium auf ehrenamtlicher Basis leistet und die Initiative auch in finanzieller Hinsicht allein durch sie, sowie den Zuschüssen aus ihrer Familie, getragen wurde.

2017 ist der Verein TiMMi ToHelp e. V., der in Leipzig aktive Obdachlosenhilfe betreibt, auf Saskias Initiative aufmerksam geworden. Es hat nicht lange gedauert, bis der Verein und Saskia feststellten, dass man auf einer gemeinsamen Wellenlänge sei, man einander ergänzt und es nur sinnvoll und für alle Beteiligten von Vorteil sei, zusammenzuarbeiten. „Suspended Coffee Germany“ wurde mit den beiden Projekten „Spendiert“ und „Care Bags“ zum Aushängeschild des damals noch recht jungen Vereins; Billy von TiMMi ToHelp übernahm für Saskias Homepage das Webdesign und auch war es Saskia nun möglich, über den Trägerverein Spendengelder für ihre Initiative anzunehmen.

Noch im selben Jahr erhielt „Suspended Coffee Germany“ den Preis des „Bündnisses für Demokratie und Toleranz“ (BfDT) und Saskia wurde für ihr Engagement mit der Erich-Glowatzky-Nadel in Silber, ausgelobt von der gleichnamigen Stiftung, ausgezeichnet.

Das Modell einer Graswurzelbewegung

Wie TiMMi ToHelp e. V. so lebt auch Saskias Projekt von der freiwilligen, aktiven Mithilfe seiner Unterstützer*innen. Diese betreiben Akquise vor Ort und im Netz und sind diejenigen, die zwei Kaffee bezahlen und nur einen für sich verwenden. Zu nennen sind aber auch die teilnehmenden Geschäfte, die das Programm bei sich aufnehmen und die bezahlten Spenden an Bedürftige ausgeben. Das erste Geschäft, das dies tat, kommt übrigens aus Marburg.

Zudem gibt es Partnerprojekte wie den „Löwenzahn“ in Braunschweig und das „OBENdRAUF“ in Stuttgart, deren Programme zwar nicht direkt über „Suspended Coffee Germany“ laufen, aber mit Saskias Aktion wesensverwandt und mit ihr vernetzt sind. Saskia betrachtet sich nicht als Kopf einer deutschlandweiten Kampagne, sondern eher als Impulsgeberin einer Graswurzelbewegung, die regional individuelle Konzepte zulässt, und sich auf die gute Energie einer nur bedingt vorhersehbaren Eigendynamik verlässt.

Man will mehr als nur Kaffee. Auch das Spenden von Mahlzeiten ist Möglich. Foto: Kay Christian Dominte
Man will mehr als nur Kaffee. Auch das Spenden von Mahlzeiten ist Möglich. Foto: Kay Christian Dominte

Damit all diejenigen, die „Suspended Coffee Germany“ aktiv unterstützen und den Wirkungskreis der Initiative erweitern wollen, nicht auf sich allein gestellt agieren müssen, bietet Saskia ihnen auf ihrer Homepage ein frei verfügbares Infopaket an, welches angefangen von Flyern und Plakaten über Infozetteln, Hinweisen, Vorlagen für Anschreiben bis hin zu Gutscheinen alles enthält, was für eine Teilnahme am Programm benötigt wird.

Durch dieses niederschwellige System hat sich innerhalb von fünf Jahren ein deutschlandweites Netzwerk aus derzeit 314 Teilnehmern gespannt, das bis nach Österreich und in die Schweiz reicht. Und mittlerweile bietet „Suspended Coffee Germany“ nicht nur Kaffee, sondern auch Burger, Haarschnitte, Kleidung, Fahrradreparaturen etc. als mögliche Sachspenden an.

In Leipzig ist das Programm durch die „SoupBAR Summarum“ und den „Curry Süd-Burger am Kreuz“ vertreten; in Dresden, wo Saskia wohnt, durch das „Coffee-Bike Dresden“ und „Fiete Behnersens V-Cake“.

Das Prinzip Vertrauen

Ungewöhnlich an „Suspended Coffee Germany“ ist weniger, dass die Initiative eine Plattform für Sachspenden darstellt, sondern dass sie auf Vertrauen basiert. Die Unterstützenden müssen darauf vertrauen, dass diejenigen, die ihre Spenden einlösen, diese benötigen und das nicht einmal nur in dem Sinne, dass jene per Definition „bedürftig“ sind, sondern, dass es sich um Menschen handelt, die die Spenden gebrauchen können. Diejenigen, die in den Geschäften Geld für „Suspended Coffee Germany“ ausgeben (und letztlich auch Saskia) müssen den Inhabern der Geschäfte wiederum vertrauen, dass diese das Geld, welches sie erhalten, für den guten Zweck einsetzen.

Niemand hat Stift und Papier zu bemühen; niemand hat irgendwelche Nachweise zu erbringen; alles geschieht allein auf der Basis des Vertrauens. Das schließt natürlich auch die Freiheit der Geschäftsinhaber ein, einen Menschen abzuweisen, von dem sie das Gefühl haben, dass er das Prinzip ausnutzt. Und in der Tat ist ja auch die erste Frage, die Saskia immer wieder gestellt wird: „Wird das Vertrauen denn nicht ausgenutzt?“

Während wir gemeinsam Kaffee trinken, erzählt sie mir die Geschichte von den Jugendlichen aus Berlin, die sich die Mutprobe ausgedacht hatten, in einem Geschäft spendierte Kakaos zu erschleichen. Der Geschäftsinhaber hatte ihr Getuschel vor dem Laden beobachtet und ihnen trotz einer gewissen Vorahnung zweimal den gewünschten Kakao ausgegeben. Die Pointe ist nun aber die: Beim dritten Mal bezahlten die Jugendlichen ihren Kakao und spendierten jeweils einen zweiten Kakao für jemand anderen.

Saskia vertraut auf selbstregulierende Dynamiken: Heute gebe ich aus freien Stücken und nehme Hilfe an, wenn ich sie morgen selbst benötige. In der Tat beobachtet Saskia das Phänomen, dass einige Menschen am Anfang des Monats Produkte für andere spendieren und manchmal am Ende selbst das Programm nutzen.

Damit verbunden stellt sich schließlich auch die Frage: Woran ließe sich Armut festschreiben? Ist es wirklich allein der Hartz-IV-Bescheid oder der Ausweis für die Tafel, die zerschlissene Kleidung, die offene Wunde? Woran erkennt man eine alleinerziehende Mutter, der in der letzten Woche des Monats das Geld fehlt, um ihre Tochter mit Obst zu versorgen? Woran einen in Vollzeit tätigen Aufstocker? Oder aber auch: Was braucht ein Mensch, der in Armut lebt? Braucht dieser wirklich einen Kaffee?

Die Frage, was denn einem Obdachlosen ein kostenloser Kaffee nütze, muss Saskia häufiger beantworten. Es sei ja nur ein Kaffee, das Geld müsse man für etwas Vernünftigeres einsetzen und so fort. Aber es ist eben nicht nur ein Kaffee. Das Thema Armut verliert natürlich auch mit „Suspended Coffee Germany“ nichts an seiner Dringlichkeit. Aber nicht nur will das Große im Blick behalten sein, sondern auch die feinen Details. Und vielleicht kann die Arbeit am Kleinen, an der Wurzel des Grases, auch dazu beitragen, dass das Große nicht mehr als zu groß, als unlösbar betrachtet wird, sondern dass auch im Großen auf Ideen Taten folgen.

Für Saskia entscheidend ist, dass auch arme Menschen am alltäglichen Leben, das über ein bloßes Überleben hinausreicht, teilhaben dürfen, dass der Besuch eines Cafés für sie kein Luxus darstellen soll. Diese Denke mag die Erklärung dafür sein, weshalb „Caffè sospeso“ in Italien so gut funktioniert: Das positive Lebensgefühl gehört in Italien als Grundlage zum Leben dazu. Dies wünscht sich Saskia auch für das Leben aller hierzulande.

Ihr Projekt „Suspended Coffee Germany“ hilft somit nicht nur, bedürftigen Menschen ein würdevolleres Leben zu ermöglichen, sondern es ist auch in der kollektiven, elementaren Arbeit am Vertrauen von unschätzbarem Wert.

Mehr Informationen zu „Suspended Coffee Germany“ gibt es unter: suspendedcoffee.de

greater form: Über die Kunst der erweiterten Teilhabe (Tei 5 der Reihe)

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Die neue Leipziger Zeitung Nr. 63: Protest, Vertrauen und eine gute Frage

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