Kannst Du zurück, wenn Du die Augen offen hast? Ist es das Richtige und tust Du es dann, wenn es an der Zeit ist? Manchmal ja, wenn alles zusammenkommt. "Leipzig hilft" war am Ende einer langen Hochwasser-Hilfstour in Meißen, um beim Aufräumen zu helfen. Und kam ins Grübeln. Den ersten Dreck wegschippen wird allein wohl nicht helfen. Auch der Dank eines Bürgermeisters nützt Menschen ohne Versicherung nichts. Bis heute kommen die staatlich zugesagten Gelder bei den Menschen nicht an, Fluthelfer-Fonds sind wie ein Placebo, wenn das eigene Haus nicht bewohnbar bleibt. Schnelle Hilfe bleibt gute Hilfe. Ein Benefizfestival entsteht.

Es regnet, immer noch. Meißen ist – ein wenig ab vom längst wieder prominenten Grimma – schlicht abgesoffen, die Unterstadt ist quasi weg. Die Helfer tummeln sich zu dieser Stunde in Grimma, während sie an anderen Orten fehlen. Vielleicht auch deshalb kommt ein Meißner Bürgermeister vorbei und bedankt sich persönlich bei den rund 70 Helfern aus Leipzig, die nach über einer Stunde Anfahrt mit Gerät durch seine Stadt stiefeln und anfassen, wo es wichtig ist. Das Wasser ist zum Teil noch da, manche Meißner sehen schon, dass die Existenz untergegangen ist.

Die Familie eines kleinen Elektrofachgeschäftes steht vor der Zerreißprobe. Die Mutter will es nicht sehen, die Tochter kämpft einfach mit den Tränen, der Vater ist starr. An den Wänden uralte Radiogeräte die jetzt keine mehr sind. Was in den Tagen zuvor für die Mitfahrenden von “Leipzig hilft” in Dautzschen, Halle, Vesta, Canitz, Zeitz oder Fährendorf noch Hoffnung und Aufbegehren war, ist hier pure Zerstörung. Einen Damm halten und die Folgen eines Hochwassers zu sehen, sind emotional vollkommen verschiedene Erlebnisse. Hier hat man bereits verloren, wenn man vor Ort ankommt.

Wieder zu Hause die eigentliche Frage – weiter herumfahren nach anderthalb Wochen Dauereinsatz oder nach diesem Gesehenen etwas auf den Punkt verändern. Das Eingeständnis in die eigene Ermüdung und irgendwie das erste Mal Gereiztheit unter liebevollen Menschen. Ausschlafen gehen, die Entscheidung wird am kommenden Tag fallen. Und sie fällt rasch – es ist der 10. Juni 2013. Ein Benefizfestival – kein ganz neuer Gedanke natürlich – muss her und ein konkretes Ziel. Das kann letztlich nur Meißen und dort konkrete Schicksale lauten, denn hier ist das eigentliche Drama eines Hochwassers endgültig klar geworden. Drei Schicksale werden es sein, die nicht allein gelassen werden können.

Der Erste, der sofort zusagt, ist der Magdeburger Subway to Sally – Sänger Eric Fish. Ohne Fragen, ohne Allüren, ohne langes Fingerhakeln. Im Angesicht mancher derzeitiger Selbstvermarktungs-Benefizkonzerte einiger Medien in Sachsen fast ein kleines Wunder. Er wird einer “von uns” – ehrlich, klar und ohne diese auch bei manchen Bands immer vorhandenen Popularitätsgedanken. Ist es ehrlich gemeint? bleibt bis heute seine einfache, nachdrückliche Rückfrage. Viele angefragte Künstler sind traurig, verplant, woanders, gebucht. Die Zeit rast und die nächsten Zusagen auch. Am Ende werden mehr Bands spielen wollen, als überhaupt auf die Bühne passen.

Im Geyserhaus bereitet man sich parallel auf das Benefizkonzert vor. Die Verabredungen sind getroffen, für 1.500 Besucher ist Platz – alles steht irgendwie. Das die Stadt Leipzig eine “Fluthelferparty” plant, bei der wohl nur die Helfer von Feuerwehr, THW und andere organisierte Kräfte eingeladen werden sollen, sorgt für kräftigen Ärger unter den bei “Leipzig hilft” zusammengekommenen Leipzigern. So viele haben geholfen und Dank gibt es nur für wenige? Viele Anrufe später ist klar, auch bei der Stadt Leipzig hat man bemerkt, dass es nur eine Schnapsidee gewesen sein kann, eine quasi interne Veranstaltung ohne die anderen helfenden Leipziger zu machen. Und um es mal deutlich zu sagen – eine Schnapsidee zwischen einem Oberbürgermeister und einem Geschäftsführer einer großen Leipziger Brauerei mit Dresdner Zentrale.

Was entsteht? Eine gemeinsame Veranstaltung, bei der alle kommen aber auch spenden können. Die gesamte Organisation schaltet fast auf Null, es beginnt von vorn. Material für ein Open-Air-Konzert in Leipzig ist knapp, die “Worldskills” 2013 blockieren die Hotels, das Baumaterial für einen solchen Event und ein neuer Veranstaltungsort muss gefunden werden. Wohin? Alles dicht – auf der Festwiese wird angeblich die “größte Party Sachsens” gefeiert, zwei Wochen später werden die Veranstalter rings um Bild, RTL und Co. die Nummer leise absagen. Und Leipzigs Ämter reagieren ungewohnt grandios. Eine gemeinsame, offene Suche beginnt – am Ende kommt vom Ordnungsamt der Vorschlag, es am Silbersee zu veranstalten. Irgendwie ein Wink von ganz oben – das Gelände ist ideal.

Selten sind wohl eine Ortsbegehung und eine Einigung so schnell erfolgt, wie zwischen einem wirklich großartigen Mitarbeiter des städtischen Grünflächenamtes und den Menschen von Leipzig hilft. Ab da – alles erneut auf Anfang, es sind noch gute 10 Tage bis zum 6. Juli 2013. Jetzt rast die Zeit nicht mehr, sie verfliegt wie Staub. Schlaf und Erwachen sind längst eins. Die Worldskills helfen – Leipzig hilft kann eine immer noch laufende Auktion von Designerbekleidung mit den Veranstaltern zugunsten der Flutopfer vereinbaren. Die Ämter helfen – binnen von 24 Stunden sind nach gründlichen Vorgesprächen alle Genehmigungen erteilt. Noch mehr Leipziger helfen – der Gastronom des Piratengartens am Südplatz wird ein Glücksfall, er verzichtet wie alle bei Leipzig hilft auf jeglichen Gewinn und organisiert alles, als ob er nie etwas anderes vorhatte.

Überall ist Hilfe und alle die WIR trafen, sind begeistert. Bis auf die wenigen, die vielleicht schon vor Jahren Ihr Herz irgendwo vergraben haben und es einfach nicht wiederfinden können.

Es ist jetzt 02:50 Uhr am 6. Juli 2013 und der Tag wird in 24 Stunden irgendwann am 7. Juli enden. Ich stelle den Text auf der L-IZ ein. Das Festival hat intern längst begonnen, wir sind seit 18 Stunden vor Ort am Aufbauen. Für Neugierige und Gäste sind die Türen und Tore ab 12 Uhr bis open End geöffnet. Und WIR freuen uns auf wirklich jeden, der kommt, um einer von uns zu werden. Denn auch ich bin längst ein Teil einer Idee geworden, die keine Mauern mehr akzeptieren will.

Es ist noch nicht zu Ende. Es hat gerade erst begonnen. Leipzig hilft ist längst überall und jeden Tag werden wir mehr. Und wir werden verändern. Auch über diesen Tag hinaus.

Um 7 Uhr ist Wecken.

Weitere Infos

www.leipzighilft.org

Zum Artikel vom 1. Juli 2013 auf L-IZ.de
(und frühere)
Leipzig hilft (3) – Dammbau in Dautzschen: Leipzig hilft … in ganz Sachsen

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