Der neue Quartalsbericht ist da. Endlich. Ein bisschen spät, geben Leipzigs Statistiker zu. Es war Urlaubszeit. Aber die einzig wichtige Nachricht ist: Leipzig wächst und wächst und wächst. Irgendwas stimmt schon an der Stadt. Aber was? Und was nicht? - 531.809 Einwohner zählte die sächsische Statistik für Leipzig am 31. Dezember 2011.

Das waren 8.926 mehr als ein Jahr zuvor. Keine Stadt im Osten hat so viel Zuzug wie Leipzig. Dresden kam auf ein Plus von 6.723.

Und das geht so weiter. Ganz inoffiziell vermeldet die Landesstatistik für Juni 2012 schon wieder einen Zuwachs: 535.188 Leipziger. So wird wohl – zumindest auf dem Papier – am Jahresende die 540.000 gekratzt. Aber seit Mai 2011 hängt ja das große Fragezeichen über den Zahlen – der “Zensus 2011”. Auch Leipzigs Zahlen werden dann wohl nach unten korrigiert. Wohin aber, das kann auch Statistiker Peter Dütthorn noch nicht sagen. “Das Bundesamt für Statistik will die neuen Einwohnerzahlen erst im Frühjahr 2013 bekannt geben”, sagt er.

Wo aber steht Leipzig tatsächlich? Das Melderegister der Stadt weist für den Juni immerhin 521.071 Einwohner aus. Genug, fast 10.000 mehr als noch im Juni 2011. Die Stadt wächst also tatsächlich. Mittlerweile – dazu gibt es im neuen Quartalsbericht einen ganzen langen Artikel von Andreas Martin – über fast alle Altersgruppen hinweg. Drei dicke Bevölkerungspyramiden hat er seinem Beitrag hinzugefügt – eine für 1991, als die Leipziger begannen, die Stadt schleunigst Richtung Westen zu verlassen, eine für 2001, als der Trend gerade kippte, und eine für 2011. Unübersehbar sind es die 20- bis 30-Jährigen, die das Bevölkerungswachstum der Stadt befeuern, die hier lernen, studieren, eine Chance suchen und eine Familie gründen.

Bis einige merken, dass die Stadt zwar toll ist – doch irgendwer weiter oben hat schlicht vergessen, den Geldhahn aufzudrehen. Die Stadt ist völlig unterfinanziert. Für echte Förderprojekte oder gar eine offensive Wirtschaftspolitik fehlen die Budgets. Manchmal fehlt auch der Sachverstand. Man turnt auf allen Hochzeiten. Vor ein paar Monaten hat der OBM die Parole ausgegeben: “Jetzt machen wir alle Social Media.” Hat er eigentlich schon 2009: Damals war gerade Twitter wichtig. Seit dem 25. Juli ist die Stadt auch bei Facebook im Netz. Aber verraten hat man’s lieber nicht so laut. Denn die Frage bleibt: Was will eine Großstadt in einer privaten Quasselbude?

Im Vorspann des “Quartalsberichtes II/2012” wird eine Umfrage des Bundesverbands Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien zitiert, nach der 47 Prozent aller Unternehmen irgendwo schon in einem “sozialen Netzwerk” sind. Hauptgründe: Steigerung des Bekanntheitsgrades (82). Zweiter Grund: Gewinnung neuer Kunden (72 Prozent).

Die ersten beißen sich schon längst wieder in den Hintern. Dann was passiert eigentlich, wenn 47 Prozent aller Unternehmen irgendwo eine Social-Media-Seite betreiben? Sind die neuen Fans und Likes ein Zeichen für steigenden Bekanntheitsgrad?

Die Mathematik sagt: Nein.Aber wer hat in Mathematik schon aufgepasst?

Leipzig allein hat über 40.000 Unternehmen. Fast 20.000 haben also bei Dingsbook & Co. einen Auftritt. Darf sich jeder die Frage beantworten: Welche Steigerung des Bekanntheitsgrades ergibt das?

Kleines Bild gefällig? – Wie sähe es aus, wenn alle 20.000 sich mit einem Marktschreier und einem Schild auf den Augustusplatz stellen und laut rufen: “Hier bin ich!”?

Mal angesehen davon, dass auch noch zehntausende Leipziger private Seiten auf Facebook betreiben.

Und nun auch noch die Stadtverwaltung Leipzig, die alle Meldungen, die sowieso schon auf leipzig.de und im “Amtsblatt” veröffentlicht werden, auch noch bei Facebook einstellt und kommentieren lässt. Man hat auch noch das eingebaut, was irgendwer in der jüngeren Geschichte für wichtig hielt – die Olympiabewerbung, die Eröffnung der Blechbüchsen-Arena, von Amazon und Luftfrachtdrehkreuz. Und darüber zeigt die Stadt, was sie allein seit Juli an Meldungen produziert hat. Wer ein Beispiel für das oft missbrauchte Wort “Informationsüberflutung” sucht, hier findet er’s.

Manche Leute nutzen die Seite tatsächlich, um ihre ganz persönlichen Wehwehchen loszuwerden. “Kann sich mal jemand um die Ampelschaltung am Johannisplatz kümmern?”, fragt Herr Große.

Und gleichzeitig stehen die Leipziger vor Bürgerämtern Schlange und müssen monatelang auf amtliche Dokumente warten, weil die Personalverwaltung an der falschen Stelle “verschlankt” wurde.

Das ist “social media”. Die Vorspiegelung einer falschen Wirklichkeit.

Zum Glück gibt es die Statistik. Sie arbeitet mit Zahlen. Mit vielen Zahlen. Zahlen beschreiben ganz emotionslos die realen Zustände. So annähernd, wie es geht. Babys zum Beispiel können gezählt werden. 1.086 in den ersten drei Monaten wurden in Leipzig geboren, 1.580 in den zweiten drei Monaten. Macht zur Jahreshalbzeit schon einmal 2.666 Neugeborene in Leipzig. Vor einem Jahr waren an der Stelle 2.223. Am Jahresende dann 5.490.

Denn im Lauf eines Jahres nehmen Geburtenzahlen zu. Wegen der schönen molligen Winternächte und dem schönen Flirtfrühling. Deswegen gibt es zu Weihnachten und Silvester so viele Geburten. 2012 sieht also alles so aus, dass Sozialbürgermeister Thomas Fabian am 1. Januar 2013 die Hände über dem Kopf zusammenschlägt, weil er dann noch drei neue Kindergärten extra braucht und noch eine Grundschule und noch ein Gymnasium.

Vielleicht freut er sich auch über das leichte Rot in der Bevölkerungspyramide, die Andreas Martin für 2011 gemalt hat: Es ziehen mehr Kinder zwischen 1 und 10 Jahren aus Leipzig weg als herziehen. “Meistens fremdbestimmt”, scherzt Peter Dütthorn. Das sind die jungen Familien, in denen Papa oder Mama endlich einen gut bezahlten Job anderswo gefunden haben, oder die endlich so gut verdienen, dass sie sich dem Umzug in den Leipziger Speckgürtel leisten können.

Den gibt es tatsächlich noch. Auch wenn man für Lindenthal und Wiederitzsch alles getan hat, um den Leuten dort das Wohnen zu verleiden.

Also geht’s hier morgen um den Speckgürtel in seinem Zustand anno 2011.

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