Eigentlich interessiert es einen Leipziger nicht die Bohne, in welche amtliche Kategorie die Straße einsortiert wird, an der er eine schöne Wohnung findet. Wo ist der Unterschied zwischen einer Hauptverkehrsstraße und einer Haupterschließungsstraße? Verkehr ist überall. Trotzdem waren einige Straßen noch vor Kurzem regelrecht unbeliebt. Das ändert sich, stellt Jens Vöckler fest.

Er hat für den neuen “Quartalsbericht II / 2012” einen Beitrag über “Bevölkerungsentwicklung an Leipzigs Hauptverkehrsstraßen” geschrieben. Von den 1.760,8 Straßenkilometern in Leipzig gehören 374,3 Kilometer in diese Kategorie. 251 Straßen gehören im Einzelnen dazu. Nicht alle sind so lang wie die Georg-Schumann-Straße, die exemplarisch dafür steht. Einige, wie die Straße des 18. Oktober, gehören dazu, obwohl das keinem sofort einfallen würde.

Vöckler hat sich die Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung an diesen besonders verkehrsreichen Straßen aus den Registern von 2001, 2006 und 2011 herausgezogen. Nur das erste Ergebnis ist überraschend: Die Zahl der Leipziger, die an diesen besonders belasteten Straßen wohnen, wächst. Von 2001 bis 2011 nahm die dort lebende Bevölkerung von 63.523 auf 71.906 zu. Aber Leipzigs Statistiker wissen auch: Richtig klug wird man erst im Detail. “Es hängt immer auch vom gesamten Umfeld ab”, sagt Peter Dütthorn, der Vöcklers Artikel bei der Präsentation des neuen Quartalsberichts vorstellte.

Eine eigene Tabelle listet auf, wie die Zahlen im Einzelnen zunahmen. Auch aufgegliedert nach Mittlerem Ring und Tangentenviereck, mit denen die Leipziger Verkehrsplaner nach über 80 Jahren irgendwie die alten Verkehrs-Ideen einer Stadt aus konzentrischen Ringen verwirklichen wollen. Vielen, die an den Mittleren Ring oder das Tangentenviereck gezogen sind, werden diese Pläne schnurzpiepegal sein. Etwa in der Essener Straße, die kurzerhand zum Nordstück des Mittleren Rings erklärt wurde, obwohl in ihrem Mockauer Teil derzeit keine weiteren Ausbauten geplant sind. Hier spiegelt sich in den Anwohnerzahlen 1:1 die Sanierungswelle, die 2006 die Anwohnerzahl von 698 auf 498 senkte. 2001 wohnten wieder 662 Leipziger da. Ähnliche Effekte sieht man in der Gorkistraße und der Hermann-Liebmann-Straße.

Unübersehbar: Großflächige Sanierungen locken neue Bewohner selbst an stark befahrene Straßen.

Andere Straße sind seit Jahren stabil, weil die Viertel dauerhaft attraktiv sind – wie die Bornaische Straße in Connewitz oder die Landsberger Straße in Gohlis-Mitte.

Und die Hauptverkehrsstraßen, in denen die Bevölkerung seit Jahren kontinuierlich wächst, liegen keineswegs überraschend in Ortsteilen, die quasi schon überlaufen wie ein Topf heißer Brei. Das macht etwa im Süden sogar richtig laute Straßen attraktiv – wie die Arthur-Hoffmann-Straße, die Bernhard-Göring-Straße – von der Karl-Liebknecht-Straße schon gar nicht mehr zu reden, die 2001 durchaus noch ihre Sanierungslücken hatte. Wer in den Süden wollte, mied die “Karli”. Seitdem aber wuchs die Anwohnerzahl von 1.115 auf 1.945. Selbst die Kurt-Eisner-Straße, die den ganzen Ost-West-Verkehr im Süden schlucken muss, gewinnt immer mehr Bewohner.Man kann es wirklich den “Süßen-Brei-Effekt” nennen: Der Drang auf bestimmte attraktive Ortsteile sorgt dafür, dass dort auch die eher lauten Hauptverkehrsstraßen beliebter werden.

Ähnliche Effekte sieht man in Plagwitz in der Zschocherschen Straße, wo die Anwohnerzahl von 530 auf 920 wuchs, in der Eisenbahnstraße im Osten (1.023 auf 1.335), in der Waldstraße (960 auf 1.382) und in der Karl-Heine-Straße (von 614 auf 851).

Natürlich hat das auch mit dem Gesamtwachstum der Stadt zu tun, die sich seit 2001 kontinuierlich füllt. Und ein Ortsteil nach dem anderen kommt an die 100-Prozent-Auslastung. Die Südvorstadt und Schleußig waren mit die ersten, wo die einst überall zu sehenden Transparente “Zu vermieten” aus dem Straßenbild verschwanden.

Natürlich lohnt der Blick auf die wirklichen Problemstraßen, die immer wieder ins Gespräch kommen, weil es bei der Sanierung klemmt.

Aber selbst hier macht sich der “Überlaufeffekt” deutlich. In der Lützner Straße im Westen, die nun wahrlich keine verkehrsberuhigte Straße ist, wuchs die Anwohnerzahl von 1.348 auf 1.691. In der Wurzner Straße im Osten, die schon seit Jahren reif ist für eine Grundsanierung, wuchs die Einwohnerzahl ebenso von 796 auf 922. Was natürlich den Druck auf die Stadt erhöht. So lange die Magistralen als Wohnort gemieden wurden, hatten sie praktisch auch keine Lobby. Da konnte so manches dringende Projekt auch immer wieder auf die lange Bank geschoben werden.

Mit den steigenden Anwohnerzahlen gibt es auch mehr Leute, die für bessere Wohnqualitäten an der Straße kämpfen. Teilweise zu spüren bekamen das Leipzigs Verkehrsplaner schon an der Georg-Schumann-Straße. Die Fahrbahnabmarkierung noch im Sommer 2012 zeigt, dass sich die Bürgerschaft durchaus schon zu Wort melden kann. Auch wenn für diese Straße die eigentlich turbulenten Jahre erst kommen.

Bis zur Fertigstellung des nordwestlichen Mittleren Ringes galt die Georg-Schumann-Straße als lauteste Straße Leipzigs. Die Anwohnerzahlen wuchsen trotzdem. Von 2.339 auf 2.623. Kein sehr hohes Tempo für eine so lange Straße.Das andere große Straßen-Sanierungsprojekt der Stadt erwähnt Jens Vöckler auch: die Georg-Schwarz-Straße, die nur als Haupterschließungsstraße zählt, aber unter den selben Belastungen an Lärm und Verkehr litt. Sie verlor von 1992 bis 2001 drastisch Anwohner. Deren Zahl ging von 2.000 auf 1.167 zurück, hat sich seitdem auf dem niedrigen Niveau stabilisiert.

Sollten die Sanierungspläne greifen, wird diese Straße zwangsläufig auch wieder attraktiv.

Während andere Straßen, die die Stadt ganz modern und breit als schnellen Zubringer ins Zentrum ausgebaut hat, auch 2011 nicht aus dem Potte kamen. Klassisches Beispiel dafür die Prager Straße, deren Anwohnerzahl sich zwar von 521 auf 654 erhöhte – aber unübersehbar hat derzeit kein Investor Lust, an dieser Straße die auf Kilometer klaffenden Bebauungslücken zu schließen. Hier fehlt schlicht das strukturierte Hinterland.

Wäre natürlich jede Menge Platz, um wieder sozialen Wohnungsbau zu betreiben in Leipzig, denn die wirklich preiswerten Wohnungen für Bedürftige und Bedarfsgemeinschaften sind rar geworden, während die Zahl der Bedürftigen hoch blieb. Was übrigens auch auf die Leipziger Kriminalitätsstatistik drückt. Wo ein Jobcenter Racheengel spielt, kann man zwangsläufig damit rechnen, das die Bestraften ihren Ausweg in der Beschaffungskriminalität suchen. Woher sollen sie es sonst holen?

Deswegen werden die Kriminalitätszahlen 2012 auch wieder den Spitzenwert von 2011 (64.728 Straftaten) überbieten.

17.687 Kinder unter 15 Jahren lebten übrigens im März 2012 in einer “Bedarfsgemeinschaft” (das Wort bleibt beleidigend, auch wenn man’s zum 1.000. Mal schreibt). Das waren nur knapp 300 weniger als im März des Vorjahres. Fast jedes dritte Kind in Leipzig lebt also in Armut, erlebten in den Schulen den Gockeltanz um teure Markenprodukte, erleben eine immer mehr ausufernde Wohlstandswerbung auf der Straße und im Fernsehen – und müssen sich mit Bedarfssätzen bescheiden, die eigentlich nicht mal für Obst und Gemüse reichen.

Wäre auch mal eine Befragung wert: Wofür reicht “ALG II” in Leipzig tatsächlich noch aus? Die Zahlen aus dem Sozialamt jedenfalls sagen: Für ein vernünftiges Wohnen sind die beschlossenen Eckwerte längst zu niedrig.

Wer noch mehr Zahlen aus dem “Leipziger Quartalsbericht II / 2012” sucht, findet sie im Internet unter statistik.leipzig.de unter “Veröffentlichungen” kostenfrei zum Heruntergeladen. Man bekommt sie auch für 7 Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) als Broschüre beim Amt für Statistik und Wahlen erworben.

Postbezug: Amt für Statistik und Wahlen, 04092 Leipzig
Direktbezug: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen, Burgplatz 1, Stadthaus, Zimmer 228.

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