Es ist ein Weilchen her, dass Leipzigs Polizeipräsident Horst Wawrzynski versuchte, die Zahl der Straftaten in Leipzig unter die 60.000 zu drücken. Einmal gelang es ihm: 2009. Da stand eine 58.000 im Quartalsbericht der Stadt Leipzig. Im nächsten Jahr war es wieder eine 60.000. Bei 64.000 im Jahr 2011 griff Horst Wawrzynski zum Rettungsring. Der hieß "Komplexkontrolle". Erreicht hat er das Gegenteil.

Denn für 2012 stehen jetzt ganz offiziell 69.087 Straftaten in der Statistik. Die sagenhaften “Komplexkontrollen”, mit denen Horst Wawrzynski quasi in einem Fischzug versuchte, an einem Tag gleich Dutzende Straftatverdächtige von den Straßen und Wiesen zu angeln, hat Leipzigs neuer Polizeipräsident Bernd Merbitz gleich abgeschafft nach der Übernahme der Amtsgeschäfte. Wegen völliger Effektlosigkeit. Sie demonstrierten nur tageweise mal ein bisschen mehr Polizeipräsenz. Am eigentlichen Dilemma änderten sie nichts. Es ist ein doppeltes. Das eine ist die schrumpfende Polizeistärke in Sachsen und Leipzig. Darüber wurde hier schon mehrfach berichtet.

Das andere ist die Ursachenseite. Denn natürlich nehmen nicht alle Straftaten gleichermaßen zu. Und es betrifft auch nicht nur Leipzig. Das musste Innenminister Markus Ulbig am 26. März bei der Vorstellung der sächsischen Polizeistatistik 2012 auch zugeben: In ganz Sachsen hat die Zahl der Straftaten zugenommen.

“Die sächsische Polizei registrierte im vergangenen Jahr 312.406 Straftaten (+18.511 Fälle = 6,3 Prozent)”, heißt es in der Mitteilung des SMI. “Regional entwickelte sich das Fallaufkommen in den fünf Polizeidirektion in Sachsen wie folgt: Chemnitz + 9,9 Prozent, Leipzig + 7,2 Prozent, Görlitz + 6,5 Prozent, Dresden + 4,2 Prozent und Zwickau + 3,5 Prozent.” Ulbig weiß eigentlich, was da im Land passiert. Es ist ja aus der Verschiebung des Straftatenbildes direkt ablesbar.

Ulbig: “Dominierten noch vor Jahren landesweit die Kraftfahrzeugdiebstähle, Firmeneinbrüche oder Buntmetalldiebstähle das Kriminalitätslagebild, so sind es aktuell Fahrraddiebstähle, Kellereinbrüche, Diebstähle aus Kraftfahrzeugen oder die Rauschgiftkriminalität.” Die Pressemitteilung des SMI gibt es dann noch etwas ausführlicher: “Rangfolge der am häufigsten registrierten Straftaten: Ladendiebstahl (6,9 Prozent), Fahrraddiebstahl (6,3 Prozent), Diebstahl an/aus Kraftfahrzeugen (5,5 Prozent), Erschleichen von Leistungen (5,5 Prozent), Sachbeschädigung und Diebstahl in/aus Boden-, Kellerräumen und Waschküchen (jeweils 12,2 Prozent) sowie vorsätzliche leichte Körperverletzung (4,5 Prozent).”

Hoppla: Wo blieb denn da die “Rauschgiftkriminalität”, die Ulbig so forsch auf Rang 4 platzierte?

Die Wahrheit ist: Sie taucht da vorn gar nicht auf. Selbst dann nicht, wenn die Polizei einige der Beschaffungsdelikte bekannten Drogenabhängigen anlasten kann. Der Innenminister hat einfach qua Amt wieder einmal Stimmung gemacht. Man erinnert sich wohl zu recht an die heftigen Debatten um die Leipziger Drogenpolitik in den Jahren 2011 und 2012. Da spielte auch ein LVZ-Interview mit dem damals noch sächsischen Polizeipräsidenten Bernd Merbitz eine Rolle. Das sieht Merbitz wohl mittlerweile ein ganzes Stück anders.

Man kann das alles auch direkt in der “Polizeistatistik 2012” nachlesen, die wir hier einfach mit unter den Text setzen. Da gibt es gleich im Vorderteil die “Rangfolge ausgewählter Straftatengruppen”, auf die sich Ulbigs Aussage beziehen muss – wenn sie sich überhaupt auf etwas bezieht. Wir listen hier einfach mal die Top 10 auf, wie sie 2012 waren:

1. Ladendiebstahl 6,9 %
2. Diebstahl von Fahrrädern einschließlich unbefugter Gebrauch 6,3 %
3. Diebstahl an/aus Kraftfahrzeugen 5,5 %
4. Erschleichen von Leistungen 5,5 %
5. Sachbeschädigung auf Straßen, Wegen oder Plätzen 4,9 %
6. Diebstahl in/aus Boden-, Kellerräumen und Waschküchen 4,9 %
7. (vorsätzliche leichte) Körperverletzung 4,5 &
8. Sachbeschädigung an Kfz 3,3 %
9. sonstiger Warenkreditbetrug 3,1 %
10. Beleidigung 3,1 %

Und das geht in der Liste munter so weiter. Selbst die Asylsuchenden, die mit der deutschen Asylgesetzgebung in Konflikt geraten, tauchen noch eher auf als die der Rauschgiftkriminalität zuzuordnenden Fälle – auf Rang 15 der Liste: “Straftaten gegen das AufenthG, AsylVfG und FreizügG/EU”, 1,6 % der Fälle, die eigentlich keine Fälle sein dürften, wenn die Gesetzgeber nicht das im Grundgesetz garantierte Asylrecht in den vergangenen Jahren verschärft und ausgehöhlt hätten. Manchmal sind es einfach dumme Gesetze, die Menschen erst zu Kriminellen machen.

Erst auf Rang 20 in der Liste taucht das auf, was Ulbig benennt: “allgem. Verstöße n. § 29 BtMG m. Amphetamin/Methamphetamin und deren Derivaten in Pulver- oder flüssiger Form”, 1,2 % der Fälle.Kann man natürlich sagen: Ein Teil der Diebstähle und Einbrüche hängen mit der Geldbeschaffung zum Kauf neuer Drogen zusammen. Aber wirklich belastbare Zahlen dazu, wie groß dieser Anteil ist, gibt es nicht. Hier überschneiden sich unterschiedliche Motive und Nöte. Manchmal sind hier organisierte Banden unterwegs, die gezielt auf Jagd nach kostbaren Konsumgütern gehen, manchmal sind es auch Leute, die aus den sozialen Unterstützungsrastern der Gesellschaft gefallen sind.

Sehr interessant wäre hier eine Statistik: Wieviele der “Diebe” sind zuvor vom Jobcenter sanktioniert worden? Oder: Wie viele der Ladendiebe haben schon lange nicht mehr das Geld übrig, um sich den ein oder anderen Luxus “zu gönnen”?

In der Kriminalitätsstatistik spiegelt sich auch die prekäre wirtschaftliche Situation in Sachsen und in Leipzig. Die sich – obwohl die Zahlen von Arbeitslosigkeit oder Bedarfsgemeinschaften sinken – noch nicht entspannt hat. Wie werden eigentlich “Leistungsempfänger” gezählt, wenn ihnen das ALG II gestrichen wird? Fallen sie einfach aus der Statistik? Oder sinkt dann einfach die durchschnittlich gewährte “Leistung zum Lebensunterhalt” (ALG II)? Wie das in Leipzig seit Jahren der Fall ist?

Nur zur Erinnerung – eigentlich war der seit 2006 geltende Regelsatz von 345 Euro 2011 auf 364 Euro gestiegen, 2012 auf 374 Euro. Doch nachdem die durchschnittlich ausgezahlte Leistung nach BG (Bedarfsgemeinschaft) 2009 in Leipzig den Wert von 323,77 Euro erreicht hatte, sank dieser Wert 2010 auf 314,21 Euro und 2011 auf 301,84 Euro pro Monat. Wieviel davon geht auf das Konto der in Leipzig besonders häufig verhängten Sanktionen, die auch vom Bundesverfassungsgericht als verfassungswidrig eingestuft wurden?

Und zwar nachdem die CDU/SPD-Regierung am 1. Januar 2007 die Sanktionen erst noch verschärft hatte und die Jobcenter damit quasi verpflichtete zum permanenten Verfassungsbruch – nämlich den Zugriff auf den direkten Lebensunterhalt der Kunden/ Klienten/ Gemaßregelten.

Drei Sanktionsstufen gehören hierher: “Erste Pflichtverletzung, Leistungskürzung um 30 Prozent für drei Monate; zweite Pflichtverletzung, Leistungskürzung um 60 Prozent; dritte Pflichtverletzung innerhalb eines Jahres, vollständige Streichung der Leistung einschließlich Kosten der Unterkunft. Auch bei Jugendlichen sind die Kosten der Unterkunft von Sanktionen betroffen.” (Wikipedia, Artikel “ALG II”)

Welchen Leserkommentar bekommen wir jetzt, wenn wir einfach in ordentlichen Druckbuchstaben hinschreiben: So etwas führt zu Politikverdrossenheit, Misstrauen in die Demokratie und zunehmender Kriminalisierung der Gesellschaft?

Nur raus damit.

Ziemlich sicher ist, dass dergleichen dann fast auf direktem Weg zu ansteigenden Zahlen in der Polizeistatistik führt. Nicht nur bei Diebstählen, auch bei zunehmender Aggression gegen andere Menschen und gegen Sachwerte. Die öffentliche Zerstörungswut hat ihre Ursachen nicht nur in irgendwelchen “Jugendstreichen”.

Und das alles immer in einem Umfeld steigender Lebenserhaltungskosten. Die Verbraucherpreise stiegen 2012 um 2,5 Prozent. Klingt erst einmal nicht viel, auch das ALG II war ja zum Jahresanfang um 2,7 Prozent angehoben worden. Aber in diesem “Warenkorb” ist eben auch eine Menge enthalten, was sich ALG-II-Empfänger gar nicht leisten können. Die Posten, die aber zu ihrem täglichen Bedarf gehören, haben deutlich stärker zugelegt – Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke um 4,8 Prozent oder Bekleidung und Schuhe um 5,4 Prozent. Der Warenkorb verändert sich mit dem Einkommen auch in seiner Zusammensetzung.

In diesem Umfeld sehen die 2 bis 4 Prozent Preissteigerungen im MDV schon ganz anders aus. Da versucht die öffentliche Hand die Finanzierungsprobleme des ÖPNV auf Kosten der eh schon knappen Leipziger Einkommen zu lösen. Das scheint ja auf den ersten Blick nicht so abwegig. Die Fahrgastzahlen bei den Leipziger Verkehrsbetrieben steigen ja, scheinen 2012 einen neuen Rekordwert erreicht zu haben.

Das hätten wir an dieser Stelle gern verglichen. Doch wie das so ist: Irgendwie scheint man es beim Zusammenrechnen der Zahlen bei den LVB diesmal ein bisschen zu eilig gehabt zu haben. Es stecken gleich zwei Fehler in der Statistik – worüber sich die Statistiker im Leipziger Amt für Statistik und Wahlen besonders ärgern werden. Der erste in der Summe der Busfahrgäste. Da kommen, wenn man die Zahlen summiert, 26.591 Millionen (statt 29.591) heraus. Was eben eine deutlich geringere Steigerung zum Vorjahr ist, als auf den ersten Blick erkennbar – 4,7 Prozent statt erstaunlicher 16 Prozent. Den stärksten Fahrgastzuwachs haben die LVB tatsächlich in den Straßenbahnen – von 109 Millionen auf 112 Millionen Fahrgäste.

Aber auch bei der Summe von Bus- und Straßenbahnfahrgästen hat bei den LVB augenscheinlich der Taschenrechner ein Problem bekommen. Statt mysteriöser 139 Millionen dürften da eigentlich nur 138,796 Millionen stehen. Wenn schon genau, dann richtig. Macht im Jahresverlauf trotzdem ein Fahrgastplus von 3,13 Prozent, eigentlich ein Ergebnis, bei dem sich ein Unternehmen sagt: Jetzt frieren wir die Fahrpreise mal für ein Jahr ein, mal schauen, was passiert.

Aber dazu haben sich weder LVB noch Stadtrat durchringen können. Man riskiert lieber den eigentlich politisch gewollten Fahrgastzuwachs – und steigert die Preise. Vielleicht ist aber zumindest ein neuer Taschenrechner für die LVB drin.

Der Statistische Quartalsbericht IV / 2012 und der abschließende Bericht zur Oberbürgermeisterwahl sind im Internet unter http://statistik.leipzig.de unter “Veröffentlichungen” einzusehen. Der Quartalsbericht kann zudem für 7 Euro und der Wahlbericht für 5 Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) im Amt für Statistik und Wahlen erworben werden.

Postbezug: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen, 04092 Leipzig
Direktbezug: Stadt Leipzig, Amt für Statistik und Wahlen, Burgplatz 1,Stadthaus, Zimmer 228

Und hier die Polizeiliche Kriminalstatistik – Jahresüberblick 2012 als pdf-Dokument.

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