Am Montag, 17. Juni, legte die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) eine neue Studie vor: "Nichtwähler in Deutschland". 86 Seiten über ein Thema, das nicht nur Politiker seit Jahren beunruhigt: Die Wahlbeteiligung sinkt - bei allen Wahlen, ob auf Bundes-, Landes- oder kommunaler Ebene. Und das deutlich stärker als in anderen europäischen Ländern. Das muss Gründe haben. Die FES hat deshalb das Forschungsinstitut forsa beauftragt, einmal nachzufragen.

forsa hat’s getan, hat vom 10. Oktober bis 10. November 2012 mit Hilfe computergestützter Telefoninterviews insgesamt 3.501 Wahlberechtigte, die sich nach der Bundestagswahl 2009 und im Jahr 2010 selbst als “Nichtwähler” deklariert hatten, befragt: jeweils mindestens 700 Nichtwähler der letzten vier Bundestagswahlen (1998, 2002, 2005 und 2009) sowie 700 Wahlberechtigte, die derzeit angeben, sich nicht an der Bundestagswahl 2013 beteiligen zu wollen.

Das Ergebnis, das forsa-Chef Manfred Güllner jetzt vorgelegt hat, führt Dr. Dietmar Molthagen, Leiter empirische Sozialforschung Friedrich-Ebert-Stiftung, Forum Berlin, mit den Worten ein: “Eine weitere These lautet, dass eine grundsätzliche Zufriedenheit mit der Politik im Speziellen und der Demokratie im Allgemeinen die Wähler/innen davon abhalte, zur Wahl zu gehen. Dagegen spricht jedoch die häufig geäußerte Kritik an der Politik und die in Umfragen gut belegte Unzufriedenheit eines großen Anteils der Bevölkerung mit der konkreten Politik in Deutschland (…) Die Friedrich-Ebert-Stiftung ist daher nicht der Meinung, eine niedrige Wahlbeteiligung sei kein Problem. Vielmehr sehen wir eine Gefährdung der Demokratie gegeben, wenn große Teile der Bevölkerung der Wahl fernbleiben und mit der Besetzung von Parlamentssitzen sowie der Bildung einer Regierung nichts zu tun haben wollen.”

Aber woran liegt es nun?

Der Hintergrund: “So wird meist auch außer Acht gelassen, dass die beiden ‘großen’ Parteien der Republik (SPD und CDU/CSU) einen kontinuierlichen Vertrauensschwund zu verzeichnen haben. In den alten Bundesländern gaben bei der Bundestagswahl 1983 noch über drei Viertel (76,8 %) aller Wahlberechtigten SPD oder Union ihre Stimme. Bei der Bundestagswahl 2009 sank der Anteil von SPD und Union zusammen auf nur noch 42,1 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg der Anteil aller sonstigen Parteien von 11,5 auf 29,2 und der der Nichtwähler (einschließlich der ungültigen Stimmen) von 11,7 auf 28,7 Prozent.”

Die Studie arbeitet alles Mögliche auf – von der Zufriedenheit mit der Politik über das Interesse am politischen Geschehen, die Bekanntheit der Mandatsträger bis hin zu den Erwartungen an Politik. Hier fällt schon ein Erstes auf: Je niedriger die politische Ebene ist, umso höher ist auch bei Nichtwählern das Interesse an der Politik. In den Gemeinden ist sie tatsächlich am höchsten. Auch bei den Nichtwählern – mit 74 Prozent.

Doch die tatsächliche Wahlbeteiligung zeigt ein anderes Bild: Sie sinkt, je niedriger die politische Ebene ist. Bei der letzten Stadtratswahl lag sie in Leipzig nur bei 41,4 Prozent, praktisch dieselbe Größenordnung, mit der im Januar/Februar 2013 die OBM-Wahl über die Bühne ging. Selbst die Mandatsträger auf kommunaler Ebene sind den (Nicht-)Wählern besser bekannt als die auf den höheren politischen Ebenen – und trotzdem gehen sie oft nicht zur Wahl. Das fiel denn auch forsa und FES auf: “Das Interesse an Kommunalwahlen ist sogar bei den Ostdeutschen, den Arbeitern, den Nichtwählern, denen Wahlen an sich nicht so wichtig sind, sowie den Dauer-Nichtwählern größer als bei den anderen Gruppen. Trotz dieses großen Interesses am kommunalen politischen Geschehen ist die Wahlenthaltung bei lokalen Wahlen noch höher als bei Wahlen auf Landes- bzw. Bundesebene – ein Phänomen, dem gesondert nachgegangen werden müsste, um die Gründe für diese Diskrepanz aufzudecken.”Das letzte Drittel der Umfrage versucht zu ergründen, warum das so ist. Denn der Verdacht, dass hier eine Lösung des Rätseln liegen könnte, liegt ja nahe.

Also wird nach der Rolle der Nähe der Wahllokale gefragt, nach der Schwierigkeit des Wahlmodus und – vielleicht wäre das ja der Grund: nach der Zufriedenheit bzw. dem Unmut mit den politischen Mandatsträgern. Aber auch nach den Prioritäten, die die (Nicht-)Wähler in der Politik eigentlich sehen.

Zu den Prioritäten heißt es im Bericht zum Beispiel: “Von allen Nichtwählern halten 83 Prozent ein gutes Schul- und Bildungssystem für sehr wichtig. Es folgen mit jeweils 68 Prozent ein gutes Gesundheitssystem sowie die Sicherung der Altersversorgung. Eine hohe Priorität räumen die Nichtwähler auch allen Problemen aus dem Bereich der Ökonomie ein: 63 Prozent halten die Sicherung der Arbeitsplätze, 52 Prozent die Sicherung der Geldwertstabilität für besonders wichtig. Dass das Wirtschaftswachstum an sich sehr wichtig sei, das glauben allerdings relativ wenige Nichtwähler (29 %).”

Das wären schon ein paar Ansatzpunkte zum Nachdenken. Denn es ist eigentlich keine Wunschliste, sondern ein Bündel von Grunderwartungen, so eine Art Messlatte, die der Bürger an seine gewählten Volksvertreter stellen darf – und muss. Denn eine Demokratie ist ja nicht Selbstzweck. Auch wenn das bei einigen Fragen so anklingt. Natürlich schreiben die Befragten der Demokratie und der Möglichkeit, wählen zu gehen, eine hohe Wertigkeit zu. Auch die Nichtwähler.

Aber an der Stelle, an der sich eigentlich die Fragen auftun, schweigt die Studie.

Denn was passiert eigentlich, wenn die Wähler zwar ihre berechtigten Erwartungen haben – diese aber von Legislatur zu Legislatur nicht erfüllt werden und sogar nicht durch Wahlen legitimierte Instanzen am längeren Hebel sitzen? – Über die Diskussionen zu Rente, Bildungssystem, Gesundheitssystem braucht man hier eigentlich kein Wort zu verlieren. Vielleicht sollte man die Befragten genau an dieser Stelle auch fragen, ob sie der Meinung sind, dass ihre Erwartungen ernst genommen werden.

Das könnte erhellend sein.

Denn die Nichtwähler sind ja nicht uninformiert. Im Gegenteil. Das politische Interesse ist ähnlich hoch wie die Mediennutzung – auch wenn die Mehrzahl (74 Prozent) angibt, sich vor allem über Fernsehen und Radio über das politische Geschehen zu informieren, was in gewisser Weise auch die Frage stellt: Kann man sich über Funk und TV tatsächlich realistisch über Politik in Deutschland informieren?

Da ist wohl Zweifel angebracht. Auch wenn Politiker um Politiker dem Volke die Finanzierung des Öffentlich-Rechtlichen Rundfunks als Grundversorgung und politische Teilhabe verkaufen will. Ist es nicht eher so, dass die meisten politischen Sendungen – im Zentrum zuallererst die grassierenden Talkshows – eher zur Vernebelung von Politik beitragen und zur Herstellung falscher Erwartungen?Die Frage lassen wir hier einfach stehen. Denn sie impliziert die nächste – von forsa nicht gestellte – Frage: Fühlen Sie sich über die Politik in Ihrem Land, Ihrer Gemeinde adäquat und richtig informiert?

Könnten da auch die 51 Prozent der Nichtwähler, die eine Tageszeitung lesen, guten Gewissens “Ja” sagen? – Andere Medien wurden nicht abgefragt. Und nach der “Bild” fragte forsa direkt – 16 Prozent der Nichtwähler lesen sie.

Und dann kam die Frage nach dem Wahlinteresse und – nach dem Abschweif über die “Problemhierarchie”, den wir an dieser Stelle auch schon für suggestiv halten – die Frage nach den Gründen für die Wahlabstinenz. Das ist der fragwürdigste Teil dieser Studie. Denn hier wurde den Befragten ein Bündel von 16 möglichen Antworten vorgegeben – und schon der erste Blick zeigt, dass das Wetter oder die Entfernung zum Wahllokal eher Nonsense-Fragen sind.

Und die anderen Angebote? – “Die Politiker haben kein Ohr mehr für die Sorgen der kleinen Leute”, eine Aussage, die immerhin 34 Prozent der Nichtwähler bejahten, und “Den Politikern geht es doch nur um ihre eigene politische Karriere”, was 31 Prozent bejahten, führen diese “Hitliste” an. Die keine ist. Man bekommt beim Lesen der angebotenen Phrasen so das seltsame Gefühl, jetzt wirklich aufs Niveau von Fernseh-Talkshows heruntergezerrt zu werden. “Die Parteien unterscheiden sich nicht voneinander” (24 Prozent) oder “Keine Partei vertritt meine Interessen” (20 Prozent) zeugen als Angebot eigentlich nur davon, dass man gar nicht wirklich herausbekommen will, warum gerade die Deutschen immer seltener zur Wahl gehen.

Vor allem, weil doch Wahlen eigentlich genau dafür da sind, das zu ändern. Und da sieht man die seit 1990 steil abfallende Kurve der Wahlbeteiligung und darf sich wohl zu recht fragen, ob da nicht ein paar Dinge geschehen sind, mit der demokratische Teilhabe tatsächlich mehrfach frustriert, unterlaufen und ausgehebelt wurde? Oder warum wird derzeit so heftig über Transparenz und Bürgerbeteiligung debattiert? Warum treffen sich Eltern, Lehrer und Schüler gemeinsam zum Streik vor den Parlamenten? Was hat da in Frankfurt eigentlich getobt, als der friedliche Occupy-Protest von der Polizei ziemlich rücksichtslos “beräumt” wurde?

Kann es sein, dass Deutschland wieder ein paar Eliten entwickelt hat, denen Wähleraufträge tatsächlich schnurzegal sind?

Vielleicht spiegelt die zunehmende Frustration der Wähler und Nichtwähler auch einen schleichenden Deformierungsprozess unserer Demokratie, der mit einer zunehmenden Privatisierung von Politik und einem Abbau der staatlichen Grundangebote einher geht?

Die Fragen lassen wir hier genauso offen, denn in der von der FES beauftragten Studie steht dazu keine Ziffer, keine Aussage. Man hat es sich auf dem Talkshow-Niveau des deutschen Fernsehens bequem gemacht. Man fragt das Erscheinungsbild ab, nicht mehr die Inhalte. Eine Fernseh-Demokratie aber ist keine Demokratie. Sie ist nur die Darstellung einer solchen.

Die FES-Studie zu den Nichtwählern findet man hier: http://library.fes.de/pdf-files/dialog/10076.pdf

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