Dass die großen deutschen Medienportale nicht mehr wirklich viel Kompetenz in der gesellschaftlichen Analyse besitzen, das haben sie in letzter Zeit oft genug bewiesen. Auf diverse "Studien" und "Rankings" der unterschiedlichsten Stiftungen stürzen sie sich, als wären es wissenschaftliche Ergebnisse. Am Montag, 12. Mai, ist es wieder passiert. Die Bertelsmann-Stiftung hat ein Zahlenwerk vorgestellt, das sich "Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt" nennt. Und das von der Bertelsmann Stiftung! Man staunt.

Die großen Portale haben nicht mal gestaunt, sondern wieder in die Welt posaunt, was die Bertelsmann Stiftung da verkündet hat: “Was den Wir-Westen vom Ich-Osten trennt” (Süddeutsche), ” Studie der Bertelsmann-Stiftung: Westdeutsche halten stärker zusammen als Ostdeutsche” (Spiegel), “Studie Gesellschaftlicher Zusammenhalt wächst im Osten langsamer” (FAZ), “Studie der Bertelsmann-Stiftung Ostdeutsche halten weniger zusammen” (Stern) usw.

Viellericht liegt’s an der Geschwindigkeit. Das Zeug muss raus. Die Welt muss es erfahren, egal, was drin steckt. Misstrauen gegen die Quelle? – Wohl schon lange nicht mehr.
Dabei ist die Bertelsmann Stiftung eine der großen deutschen Denkfabriken des Neoliberalismus. Seit über 30 Jahren treibt sie mit ihrer Arbeit das voran, was seit Otto Graf Lambsdorff “Reform” heißt, “Leistungsgerechtigkeit” und “so wenig Staat wie möglich”. Irgendwann zeigt so ein “Reformprojekt” Ergebnisse. Es hat den deutschen Arbeitsmarkt in einen löcherigen Käse verwandelt mit einem ganzen Meer prekärer Berschäftigungsmodelle, mit Idealen von Flexibilität und Mobilität, die sich tief in den Alltag der Menschen gefressen haben. Dass das Folgen fürs private Leben hat, war abzusehen.

Und insofern ist es erstaunlich, dass die Bertelsmann Stiftung das Thema überhaupt untersucht. Aber wie untersucht man “Zusammenhalt”? Oder kann es sein, dass man auch hier einen Kanon von Parametern findet, der alles Mögliche beschreibt, nur nicht das, was man landläufig unter Zusammenhalt versteht?

Der gewöhnliche Mensch denkt ja dabei an ganz nahe liegende Dinge: Freundschaften, Familie, Kontakte zu Angehörigen, Unterstützung von Mitmenschen durch Ehrenamt, Spenden, tatkräftige Hilfe, aktive Nachbarschaften, aktive Mitgliedschaft in Vereinen und Initiativen, Hilfsbereitschaft Schwächeren und Älteren gegenüber usw.

Und das alles hat die Bertelsmann Stiftung gemessen? – Hat sie natürlich nicht. Aber dazu muss man natürlich zumindest in die Studie erst einmal hineinschauen. Es ist ein bisschen was Anderes, was die Stiftung hier aufbereitet hat. Wobei selbst Liz Mohn in ihrem Vorwort zu der keineswegs überraschenden Erkenntnis kommt, dass Gesellschaften beginnen zu zermürben, wenn sie einem wirtschaftlichen Belastungsstress ausgesetzt sind: “Die Bekämpfung von Armut ist daher für die Bewahrung des gesellschaftlichen Zusammenhalts zentral.”
Denn tatsächlich geht es in der Studie eher um Faktoren gesellschaftlicher Stabilität. Der eigentliche Zusammenhalt – die “sozialen Netze”, “Solidarität und Hilfsbereitschaft” und das “Vertrauen in die Mitmenschen” – nimmt nur einen kleinen Teil des Indikatorensets ein. Der größere Teil umfasst eher das Thema “gesellschaftliches Klima”. Das beginnt bei “Vertrauen in Institutionen” und reicht bis “gesellschaftliche Teilhabe” und “Gerechtigkeitsempfinden”. Was das mit “Zusammenhalt” zu tun hat, weiß man wohl nur bei Bertelsmann. Was man wohl weiß, ist, dass diese Faktoren sich allesamt verschlechtern, wenn der Betroffene tatsächlich und dauerhaft erlebt, dass seine Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe minimal sind und direkt vom Geldbeutel abhängen.

Wenn die Bertelsmann Stiftung zeigen wollte, welche Folgen ihre selbst forcierte Politik für das gesellschaftliche Klima hat, dann ist es ihr hier geglückt. Und es ist keine Überraschung, dass sämtliche westlichen Bundesländer in blau leuchten, was scheinbar für mehr “Zusammenhalt” spricht – und der Osten komplett in Gelb. Haben 25 Jahre neoliberales Wirtschaftsdenken den “Zusammenhalt” im Osten tatsächlich demoliert, wo doch 1990 alle Medien von der “ostdeutschen Kuschelgemeinschaft” schwärmten?

Nicht wirklich, wenn man bedenkt, dass ab 1990 komplette Familien und Lebensnetzwerke zerrissen wurden, ganze Jahrgänge in den Westen zogen, um dort zu arbeiten. Die ostdeutsche Gesellschaft hat sich in eine höchst mobile und flexible verwandelt, ohne dass sie in irgendeiner Weise Reserven anlegen konnte, die den neuen Wirtschaftsnomaden und flexiblen Einsatzkräften Rückhalt in wirtschaftlichen Notlagen gegeben hätten. Das hat auch die “sozialen Netze” ausgedünnt. Was die Studie so auch für Sachsen feststellt: “Dagegen geben im aktuellen Untersuchungszeitraum in Sachsen spürbar weniger Menschen als im Bundesdurchschnitt an, dass es jemanden außerhalb ihres Haushalts gebe, an den sie sich wenden können, wenn sie Hilfe brauchen.”

Die vollkommene Flexibilität des Arbeitnehmers verträgt sich nicht wirklich mit “starken und belastbaren sozialen Netzen”. Der wilde Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt zeitigt auch andere Folgen. Was nicht neu ist. Das “Vertrauen in Mitmenschen” ist seit 1995 auf niedrigem Niveau stabil. Vertrauensseligkeit wird auf einem solchen Markt bestraft. Wie auch anders? Oder sollten die Ostdeutschen da besondere Illusionen hegen, nachdem ihnen nun über 20 Jahre die “Angleichung der Lebensverhältnisse” wie eine Mohrrübe vor die Nase gehalten wurde? Wer hat denn die ganze Zeit gepredigt, Leistung würde sich lohnen und nur die Leistungswilligsten würden belohnt?

Ein paar haben die goldene Mohrrübe bekommen – der größere Rest hangelt sich von einem Niedriglohnjob zum nächsten. Und die Schuldenstatistiken zeigen, wie schnell eine kleine Unregelmäßigkeit im Leben dazu führt, dass auch noch dieses prekäre Einkommen gefährdet ist. Was aber passiert, wenn die ganze Existenz als prekär empfunden wird?

Natürlich sinkt dann auch ein ganz bestimmtes Akzeptanzlevel: “Akzeptanz von Diversität”. Das Andere, Auffällige bereitet zusätzlich Verunsicherung. Und da man die Verhältnisse nicht ändern kann, kehrt sich bei Vielen die Verunsicherung um in Angst vor dem Fremden.

Das hätten Leipziger Sozialforscher den Bertelsmännern zwar auch so schon sagen können. Aber nun weiß es auch die Bertelsmann Stiftung.

Und ein Ergebnis dürfte die Heimattruppe CDU in Dresden sehr verblüffen: Die Zeit des heimattümelnden Hosianna ist vorbei. Lag Sachsen zu Kurt Biedenkopfs Zeiten bei der “Identifikation mit dem Gemeinwesen” noch einsam an der Spitze der Bundesländer, ist dieser Wert von 0,91 auf 0,78 abgerutscht und damit auf Bundesniveau. Die Identifikation mit dem “Königreich” Sachsen bildet keinen Ersatz mehr für das Selbstvertrauen der Sachsen. “Dass dieser in Sachsen zuvor sehr stabile und hohe Indikator für 2009 – 2012 nicht mehr vorliegt, dürfte ausschlaggebend für das deutliche Abrutschen Sachsens in dieser Dimension sein”, heißt es in der Studie. Es ist auch kein Gegengewicht mehr für das Gefühl von erlebter Ungerechtigkeit.

“So sind aktuell nur 29 Prozent der Menschen in Sachsen der Meinung, dass sie im Vergleich dazu, wie andere in Deutschland leben, einen gerechten Anteil erhalten. In Deutschland insgesamt sagen dies 48 Prozent, im bestplatzierten Hamburg gar 61 Prozent. Direkt nach der Wiedervereinigung (1990 – 1995) lag der Wert in Sachsen noch deutlich (19 %), im Bundesdurchschnitt (45 %) etwas niedriger. In den Folgejahren (1996 – 2003) kletterte der Wert in Sachsen zwischenzeitlich auf ein Maximum von 33 Prozent, allerdings war das immer noch deutlich weniger als der damalige Bundesdurchschnitt von 51 Prozent.”

Darin steckt eine Menge Frust darüber, dass Leistung nicht wirklich belohnt wird. Und wie ist das mit dem, was die Bertelsmann-Studie “Gemeinwohlorientierung” nennt? – “So vertraten im ersten Erhebungszeitraum nur 67 Prozent der Sachsen die Meinung, dass die meisten Menschen nicht kümmert, was ihren Mitmenschen geschieht – das war deutlich besser als der Durchschnitt aller Bundesländer (74 %). Im aktuellen Zeitraum liegt der Bundesdurchschnitt fast unverändert bei 73 Prozent, die diese pessimistische Einschätzung des solidarischen Empfindens teilen – in Sachsen ist der Anteil dagegen spürbar gestiegen, auf einen im Vergleich zu Deutschland nur noch marginal besseren Wert von 72 Prozent.”

Was ja wohl im Klartext heißt: Die Sachsen haben nach all den Erfahrungen der letzten Jahre nur ihre Einschätzung der westdeutschen Einschätzung angepasst. Und seltsamerweise ist das ein zentraler Punkt zum Gesamtthema “Zusammenhalt”. Tatsächlich sagen also West- wie Ostdeutsche über den “Zusammenhalt” in Deutschland mittlerweile dasselbe. Nichts da von mehr Solidarität oder “Wir-Gefühl” im Westen.

So gesehen ist die Studie – oder zumindest das, was einige Schnellleser daraus lesen, ein weiterer Beitrag zum sehr westdeutschen Selbstbetrug.

Und dass die Faktoren “Anerkennung sozialer Regeln” (bei Bertelsmann doch tatsächlich mit der Straftaten-Statistik untersetzt) und “Gesellschaftliche Teilhabe” aufs engste mit der wirtschaftlichen Sicherheit der Befragten zusammen hängen, dürfte eigentlich kein Thema sein. Dass die Studie ausgerechnet die “Körperverletzung” und nicht die “Steuerhinterziehung” als Kriterium der “Anerkennung sozialer Regeln” betont, das wiederum spricht Bände.

Und so überrascht es auch nicht, dass Sachsen bei der “Lebenszufriedenheit” auf dem viertletzten Platz landet. Die Studie stellt – so verquer sie in ihren Grundparametern ist – einige der politisch gepflegten Illusionen auch im schönen Dresden in Frage. Aber es wird ihr wie so vielen “Studien” ergehen. In zwei Wochen ist sie vergessen, dann galoppiert der nächste Gaul durchs Dorf.

Es sei denn, bei der Bertelsmann Stiftung nimmt man die eigene Erkenntnis ernster, dass ein reineweg auf “Leistung” getrimmtes Wirtschaftsdenken der gesellschaftlichen Stabilität nicht wirklich zuträglich ist.

Zur Studie
www.bertelsmann-stiftung.de/cps/rde/xchg/SID-ABE81B75-86A97948/bst/hs.xsl/nachrichten_121020.htm

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