Das Problem einer ganz und gar auf "Markt" fixierten Gesellschaft ist: Sie verliert ihre Fähigkeit in die Zukunft zu denken. Sie wird blind für die großen Veränderungen und die wichtigen Zukunftsentscheidungen. Ihr Maßstab sind nur noch die wilden Zeigerausschläge der Börsen und der BIP-Zahlen. Ein Zehntel rauf, ein Zehntel runter - jedes mal verfallen Medien, Wirtschaftsinstitute und Politiker in atemlose Verwirrung: Was nun? Wo ist der Kompass?

In der Regel haben Politiker keinen Kompass und hängen so wundergläubig an den Zahlen, die die Institute liefern, dass dem Bürger zu Recht Angst und Bange werden darf. Denn so entsteht erst der Druck, das Hab und Gut der Bürger zu verkaufen. Oder staatliche Dienstleistungen zurückzufahren oder von den Leuten in der “sozialen Hängematte” so eine Art Opferbereitschaft zu verlangen, ohne dass es irgendeine Art sinnvoller Integrationsangebote für all jene gibt, die nicht gut qualifiziert, flexibel und jederzeit einsatzfähig sind.

Die nach wie vor hohe Langzeitarbeitslosigkeit in Leipzig hat damit zu tun. Lars Kreymann nimmt in seinem Beitrag zu den “Arbeitslosen 2013” im neuen Quartalsbericht der Stadt Leipzig die üblichen Arbeitslosenzahlen einmal ein wenig auseinander. 2012 war die Zahl der “Arbeitslosen”, die die Arbeitsagentur Leipzig gemeldet hat, erstmals seit 1999 wieder unter 30.000 gesunken. Am Jahresende standen 28.663 in der Statistik. Ein Jahr später waren es 28.085. Das wertet so mancher Politiker in Leipzig gern als sein Verdienst. Ist es aber nicht. Auch wenn die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten unübersehbar steigt – von 2012 bis 2013 zum Beispiel von 228.527 auf 236.004. Aber dieser Zuwachs an Arbeitsplätzen kommt vor allem den jungen, (noch) flexiblen Arbeitsuchenden und gut Ausgebildeten zugute und ist vor allem eine Begleiterscheinung der wachsenden Bevölkerung.

Denn mit der Wanderung der jungen sächsischen Bevölkerung wandern auch die Arbeitsplätze und Unternehmen, die Kaufkraft und die Nachfrage nach Dienstleistungen in die Großstädte.

Diejenigen aber, die nun schon seit Jahren in den Mühlen der Arbeitslosenverwaltung stecken, haben davon nichts. Sie werden ja die Handicaps, die bisher eine Vermittlung erschwert haben, nicht los. Die Qualifikations- und Integrationsangebote, die oft mit Partnern aus der regionalen Wirtschaft entwickelt wurden, sind nur ein Tropfen auf den heißen Stein, reichen nicht mal, die Schäden zu reparieren, die das auf “Effizienz” getrimmte sächsische Bildungssystem angerichtet hat – jene 10 bis 15 Prozent an Jugendlichen ohne Schulabschluss.

In Leipzig werden diese Schäden, die vor allem auch Folgen einer auf “Auslese” fixierten Schulpolitik sind, natürlich in jenen Ortsteilen sichtbar, die sowieso schon unter hoher sozialer Belastung leiden. Hier ist die Arbeitslosenquote von jungen Menschen unter 25 Jahren etwas höher als im restlichen Stadtgebiet – wobei gerade Leipzig-Nordost (Schönefeld) mit über 11 Prozent (2012: 8,1 Prozent) heraussticht. Dieser Wert ist hier 2013 genauso in die Höhe geschnellt wie im Leipziger Osten (von 7,7 auf 9,9 Prozent), im Süden (von 6,1 Prozent auf 9,2 Prozent) oder im Norden (von 4,4 auf 8,3 Prozent).

Kreymann registriert das ganz trocken: “Die Zahl der unter 25-jährigen Arbeitslosen blieb nahezu identisch. Sie stieg von 2012 zu 2013 um 15 Personen auf 2.507 an.” Also aufs Stadtgebiet gerechnet von 6,3 Prozent auf 8,9 Prozent. “Ein Anstieg um 2,6 Prozentpunkte”, wie Kreymann feststellt.
Deutlicher kann man gar nicht sichtbar machen, wie sächsische Bildungspolitik gerade an der entscheidenden Stelle – der Sicherung de Fachkräftenachwuchses versagt.

Die Gesamtarbeitslosenzahl ist ja nicht gesunken, weil die Leute reihenweise in Arbeit vermittelt wurden. Rein statistisch verschwinden jedes Jahr 620 Personen allein schon deshalb aus der Arbeitslosenzahl, weil sie ihr 65. Lebensjahr erreicht haben. Die Arbeitslosenzahl sank 2013 genau um 578. Das sagt alles.

Dass die Zahl der Arbeitslosen unter 25 Jahren quasi stabil blieb, hat ja mit einem ganz ähnlichen Effekt zu tun: Sie werden irgendwann 25 und 26 Jahre alt und zählen dann nicht mehr als U 25, während parallel jedes Jahr 10 bis 15 Prozent eines Jahrgangs Schulabgänger neu dazu kommen.

Der prozentuale Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit zeigt also recht deutlich, dass dort die Schulungs- und Integrationsinstrumente entweder komplett fehlen oder nicht ausreichen. Zu teuer sind sie sowieso. Damit junge Menschen gar nicht erst in diese Mühle geraten, brauchen sie schon ganz früh in ihrer Bildungskarriere Unterstützung, Förderung und Begleitung. Die das auf Schmalspur getrimmte Bildungssystem in Sachsen nicht leistet.

Aber genau so wird ein dauerhaft hoher Anteil an Menschen hervorgebracht, die ihr Leben lang auf Unterstützungsleistungen des Staates angewiesen sind.

Lars Kreymann hat auch eine Tabelle zu den Langzeitarbeitslosen in Leipzig zusammengestellt. Und das Verblüffende ist: Auch hier sind – mit dem Auslaufen der für überflüssig erachteten “Arbeitsmarktinstrumente” 2013 die Prozentzahlen gestiegen. Kreymann versucht in seiner Erklärung das übliche Geschwurbel der Arbeitsagentur aufzunehmen, mit dem diese in ihren Monatsberichten meist versucht, den “Arbeitsmarkt” als eine Art lebendiges, launenhaftes Wesen darzustellen: “Offenbar können Langzeitarbeitslose nicht in gleichem Maße vom Arbeitsplatzangebot profitieren wie diejenigen, die erste wenige Wochen und Monate arbeitslos sind.”

Es ist eigentlich viel schlimmer: Sie sind mit all den bei ihnen manifesten Handicaps gar nicht vermittelbar. Dazu gehören – neben schulischen und Qualifikationsdefiziten – auch die vielen Jahre, die sie schon außerhalb der klassischen Erwerbswelt verbracht haben. In der Regel rechnet man Langzeitarbeitslose ab vier Jahren Dauerarbeitslosigkeit. Nach so langer Zeit sind sämtliche finanziellen Reserven aufgebraucht, ist das persönliche Leben auf Sparflamme gedimmt und von einer einmal vorhandenen Motivation ist nicht mehr viel übrig.

Wie lange hält man so ein Leben aus, ohne sich aufzugeben? – Eine Frage, die meist untergeht, wenn fröhlich über sinkende Arbeitslosenzahlen in Leipzig geschwätzt wird. Denn Kreymanns Analyse zeigt in aller Klarheit: Die, die eigentlich wirkliche Förderung und Integration brauchten, denen nutzt das “Abschmelzen” der Arbeitslosigkeit nichts. Denn sie schmilzt ja nicht dadurch ab, dass nun gerade diese Menschen wieder in Arbeit kommen – sie schmilzt ab, weil diese Menschen einfach alt werden.

Und das Ganze kann man auch aus dem Blickwinkel “Effizienz” betrachten: Mittlerweile ist allein die Verwaltung der “Arbeitslosigkeit” teurer als alle noch verbliebenen Integrationsangebote.

Ein Ergebnis davon ist dann die immer langsamer sinkende Zahl der Bedarfsgemeinschaften, die jetzt wieder im Leipziger Stadtrat für ein großes Erschrecken sorgt, denn das schlägt dann wieder mit nicht eingeplanten Millionenbeträgen im Haushalt nieder. Es sieht ganz so aus, als ob die hohe Zahl von übe 40.000 Bedarfsgemeinschaften nun auf Jahre noch erhalten bleibt. So wird Bildungspolitik an einer ganz schmerzhaften Stelle teuer für die Kommune.

Wer mag, findet im Quartalsbericht auch noch einen Bericht zu “Frauen in Leipziger Führungsgremien”. Über die Studie dazu hat die L-IZ schon im Mai berichtet. Und für Freunde der Wetterkunde gibt es einen Großstadtvergleich der Klimadaten von 2009 bis 2013. In dem erinnert Andreas Martin daran, dass wir 2013 gleich einige Extreme hatten – nach einem extrem langen Winter (in dem selbst der März noch ein kompletter Frostmonat war) gab es den extrem nassen Mai – obwohl die gewaltige Wassermenge praktisch binnen zweier Tage von Himmel kam und dann für das Juni-Hochwasser in Leipzig sorgte.

Aber das kann, wer mag, im Quartalsbericht selbst nachlesen.

Der Statistische Quartalsbericht II / 2014 ist im Internet unter http://statistik.leipzig.de unter “Veröffentlichungen” einzusehen. Er kann zudem für sieben Euro (bei Versand zuzüglich Versandkosten) im Amt für Statistik und Wahlen erworben werden.

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