Eine Stadt ist ein kleiner Staat, nicht ganz unabhängig. Aber ihren Bürgern gegenüber dennoch in der Pflicht. Etwa wenn es um Geld geht, Ressourcen und Achtung von Eigentum. Jahrelang wurde im Leipziger Rechtsamt mit sogenannten "herrenlosen Grundstücken" verantwortungslos umgegangen. Ohne dass jemals wirklich Konsequenzen gezogen wurden. Die Grünen wollen jetzt auch die anderen Fraktionen ins Boot holen, um Verwaltungsbürgermeister Andreas Müller abwählen zu können.

Dazu haben sie einen Beschlussvorschlag formuliert, der am 20. September erstmals im Stadtrat behandelt werden soll. Entschieden wird er noch nicht, kann er auch noch nicht. Denn um einen Antrag zur Abwahl eines Wahlbeamten – also in diesem Fall des Verwaltungsbürgermeisters – einbringen zu können, braucht es eine Mehrheit im Stadtrat. 50 Prozent plus 1 Stimme lautet die rechtliche Voraussetzung. Dazu braucht es mehr als eine Fraktion. In der Leipziger Wirklichkeit eher drei.

Von den 70 Sitzen im Stadtrat hat die Grüne-Fraktion 11, die größten Fraktionen stellen die CDU mit 18 und die Linke mit 17, die SPD hat 14 Stadträte, FDP- und Bürgerfraktion sind mit jeweils 4 Stadträten vertreten. Der Vorgang ist kompliziert.
“Aber anders als auf höheren politischen Ebenen hat der Oberbürgermeister leider keine Möglichkeit, einen Bürgermeister einfach abzuberufen”, sagt Wolfram Leuze, Vorsitzender der Grünen-Fraktion und ausgebildeter Jurist. “Was ich für ein echtes Handicap halte.”

Wie kompliziert das Verfahren ist, konnten die Leipziger im Herbst 2010 und Januar 2011 verfolgen, als der Stadtrat zwar mit Mehrheit für ein Abwahlverfahren für Kulturbürgermeister Michael Faber (Die Linke) stimmte. Aber bei der eigentlichen Abstimmung zur Abwahl braucht es eine Zweidrittelmehrheit. Das wären – wenn alle da sind – 46 Städträtinnen und Stadträte, die bekunden müssen, dass sie für die Abwahl sind.Mit der Stimme des OBM 47. Diese Mehrheit wurde im Januar 2011 bei der Abstimmung zu Michael Faber verfehlt. Nur 44 Stadträte stimmten für die Abwahl. Das reichte nicht.

“Andererseits ist das Abwahlverfahren auch eine Chance für den OBM, dem dienstrechtlich die Hände gebunden sind”, so Leuze. Er könnte den in die Schusslinie geratenen Bürgermeister beurlauben. Aber dann müsste er ihm binnen kürzester Frist eigene Dienstvergehen nachweisen – oder ihn in wenigen Monaten wieder rehabilitieren. “Sonst macht das ja keinen Sinn”, so Leuze.

Oder er beurlaubt ihn für den Rest seiner Amtszeit. 2015 würde sich Andreas Müller turnusgemäß dem Stadtrat zur Neuwahl stellen müssen. “Aber kann sich das Leipzig in seiner derzeitigen finanziellen Situation überhaupt leisten?” fragt Leuze.

Denn die Vergehen – in diesem Fall um die “herrenlosen Häuser” – sind auf Amtsleiterebene passiert. “Ich selbst halte Müller für einen integeren und anständigen Menschen”, sagt Leuze. “Doch als es die Zeichen auf Unstimmigkeiten im Rechtsamt gab, hätte er handeln müssen. Und Anzeichen gab es mehrfach in seiner Zeit als Verwaltungsbürgermeister.” 1999 stand die damalige Amtsleiterin schon einmal in der öffentlichen Kritik. Viele Fälle der jetzt diskutierten “herrenlosen Häuser” stammen aus ihrer Amtszeit. 2003 gab es die nächste öffentliche Diskussion. “In den Berichten der Rechnungsprüfer tauchte das Rechtsamt immer wieder auf”, sagt Leuze. “Passiert ist nichts.”

Und dafür müsse die übergeordnete Leitungsebene natürlich die Verantwortung übernehmen. “Jetzt wird immer wieder so diskutiert, dass OBM Burkhard Jung selbst in der Verantwortung steht”, beleuchtet Leuze den nächsten Zusammenhang. “Und wenn er die verantwortliche Führungsebene nicht zur Verantwortung zieht, steht er das auch.”

Andreas Müller (56) ist der Dienstälteste in der derzeitigen Stadtspitze. 1990 wurde der studierte Theologe Stadtrat, was damals dem heutigen Posten eines Beigeordneten bzw. Dezernenten entsprach. Seitdem ist er im Grunde zuständig für die Allgemeine Verwaltung der Stadt. Untergeordnet sind ihm das Hauptamt, das Personalamt, das Standesamt und das Amt für Statistik und Wahlen. Und das Rechtsamt, wo es im Zusammenhang mit den diversen “herrenlosen Grundstücken” zu Unregelmäßigkeiten kam. Unter OBM Wolfgang Tiefensee (ebenfalls SPD) wurde er zweiter Bürgermeister. “In den sechs Monaten, in denen er quasi als Stellvertreter die Aufgaben des OBM übernehmen musste nach Tiefensees Weggang nach Berlin, hat er für mich eine sehr gute Vorstellung abgeliefert”, würdigt ihn der Vorsitzende der Grünen-Fraktion.

Doch das Thema “herrenlose Grundstücke” gärt schon zu lange. Es ist auch genau dahin gekommen, wo es OBM Burkhard Jung nicht haben wollte: in den OBM-Wahlkampf. Gewählt wird am 27. Januar. “Die Bürger erwarten zu Recht Konsequenzen von der Stadtspitze”, so Leuze.

Und ganz sicher sei auch Müller mit den Komplikationen im Rechtsamt überfordert gewesen. “Sonst hätte er viel, viel früher reagiert”, sagt Leuze.

Und so hat die Grünen-Fraktion noch Ende August den Antrag zur Abwahl von Andreas Müller formuliert. “Den anderen Fraktionen haben wir das Papier vor einer Woche zugesandt. Die Entscheidung, ob es dazu kommt, fällt erst in den nächsten Wochen.” Denn natürlich müssen dazu auch erst die Fraktionen tagen. Wenn sie sich durchringen, den Antrag mitzutragen, geht er tatsächlich ins Verfahren.”

Leuze ist jetzt gespannt, ob sich die anderen Fraktionen durchringen. “Es wird auch eine Art Nagelprobe”, sagt er. “Wer das Abwahlverfahren nicht mitträgt, hat später wirklich kein Recht mehr, mit dem Finger auf die Stadtverwaltung zu zeigen und ihr vorzuwerfen, sie hätte ja nichts getan.”

Wenn sich die Mehrheit im Stadtrat findet, könnte das Abwahlverfahren in der Oktobersitzung des Stadtrates auf der Tagesordnung stehen.

Nachtrag: In einer ersten Fassung des Artikels stimmten die Zahlen zu den Abwahl-Quoten im Stadtrat nicht. Darauf wies uns Stadtrat Michael Schmidt hin. Die Zahlen wurden korrigiert. – D.Red.

Und noch ein Nachtrag. L-IZ-Leser Frank Pörner zu den Abwahlverhältnissen im Leipziger Stadtrat:

“Die Zahlen zur Größe des Stadtrates sind jetzt richtig, jedoch stimmt die weitere Rechnung nicht. Das ‘wenn alle da sind’ muss weggelassen werden, denn die erforderliche Mehrheit bezieht sich auf die Größe des Stadtrates, nicht auf die anwesenden Mitglieder. Und die Stimme des OB wird nicht zu der (falschen) Zahl 46 dazu gezählt, sondern gehört von vornherein zur Zahl der Stimmberechtigten, also (70+1)*2/3=47,33. Da es nur ganze Stimmen gibt, werden 48 benötigt: 47 sind weniger als zwei Drittel. (Bei nur 70 Stimmen käme man auf 47, da 70*2/3=46,67.)”

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